1
Silver Springs 1872
Abbygail Warren saß wie betäubt an dem, immer noch zum Mittag gedeckten Tisch.
Das Essen stand nun schon seit Stunden verbrannt und vollkommen unbeachtet auf dem ansonsten so blitzsauberen kleinen Kohleherd und auch die Haustüre stand noch genauso sperrangelweit offen, wie am Mittag, als sie hineingegangen war.
Der Tag war längst der Nacht gewichen, doch noch immer konnte Abbygail nicht begreifen, was da geschehen war.
Toby war tot.
Ihr großer Bruder und letzter Verwandter auf dieser Welt, Tobias James Warren, lebte nicht mehr.
Abbygail weinte nicht darüber, klagte nicht und hatte auch nicht vor irgendwann noch damit anzufangen.
Sie hatte es schließlich kommen sehen. Schon so lange Zeit.
Tobias war ein Herumtreiber gewesen, ein Trunkenbold, der die hart verdienten Pennys, die sich Abbygail durch Putz- und Erntearbeiten verdiente, jeden Abend im Saloon für Whiskey und Weiber durchbrachte.
Durch sein gutes Aussehen und seinen Charme, den er versprühte - falls er denn einmal nüchtern genug dazu war - hatte er es immer wieder geschafft sich aus den unangenehmsten Situationen zu retten.
Drei Mal hatte er in den letzten beiden Jahren wegen Betrugs einige Wochen im Gefängnis gesessen und dreimal hatte er hernach Abbygail dafür die Schuld gegeben, sie beschimpft und geschlagen.
Herrgott, jetzt ist es endlich vorbei, dachte sie bei sich und rieb sich verstohlen über die juckende Nase.
Sie hatte ihm den Haushalt geführt, seit sie ungefähr acht gewesen war, da ihre Eltern schon in ihrer frühen Kindheit durch ein Fieber ums Leben gekommen waren.
Tobias war damals gerade sechzehn gewesen und hatte hart schuften müssen, um sie beide irgendwie durchzubringen.
Doch das hatten andere auch gemusst und waren nicht so widerlich und gemein geworden wie ihr Bruder.
Mit den kommenden Jahren hatte er dann angefangen Abbygail immer öfter anzubrüllen und zu peinigen.
Eines Tages schließlich, Abbygail war gerade zwölf Jahre alt geworden, meinte er, nun sei sie dran und müsse von nun an ihn versorgen.
Doch wie hätte sie das tun können, wenn er ihr das wenige, das sie verdiente, wegnahm und für Vergnüglichkeiten in der Stadt verschwendete?
Kam dann zu Hause kein Essen auf den Tisch, wurde Abbygail ausgeschimpft und hart bestraft. Hatte sie wiederum kein Geld übrig, um es ihm für seine Spielschulden zu geben, weil sie Essen auf den Tisch brachte, wurde sie ebenfalls bestraft.
Ihr noch junges Leben hatte in den letzten Jahren nur aus Strafen, harter Arbeit und immer größerem Hunger bestanden.
Abbygail schauderte leicht, als der kühle Nachtwind herein blies, konnte sich aber immer noch nicht dazu aufraffen hinzugehen und die Türe zu schließen.
Es wäre für sie nur ein Eingeständnis gewesen. Ein Eingeständnis, dass sie Angst vor der Zukunft, vor dem Ungewissen, vor dem Alleinsein in einer oft solch frauenfeindlichen Welt hatte. Doch Gott hatte sie geschont. Gott hatte sie das alles überleben lassen... wozu eigentlich?
Der Mond stand schon sehr hoch am Himmel und tauchte das schäbige Hausinnere in silbernes Licht.
Fast als wollte der Mond mich über all dies hinwegtrösten, dachte Abby bei sich und verlor sich einen Augenblick lang in diesem märchenhaften, von allen Problemen ablenkenden Zauber.
In so manchen Nächten wie dieser, wenn sie völlig verzweifelt gewesen war, war Abbygail einfach aufgestanden und draußen über die schon lange Zeit brach liegenden Felder gewandert. Sie hatte sich dann ein anderes Leben vorgestellt, ...ein schöneres.
Einen guten Mann, der nicht sein ganzes Geld vertrank oder herumhurte. Eigene Kinder, ein kleines Haus, ...vielleicht sogar mit einem hübschen, weiß getünchten Zaun darum herum und ein paar winzig kleine Rosenbeete, wie die Vornehmen und Reichen sie im Überfluß hatten.
So wie auch die Brightons, ihre Nachbarn, bei denen sie gelegentlich Arbeit fand.
Es mussten eigentlich noch nicht einmal Rosen sein, nein. Sie wollte nur ein paar hübsche Blumen, die sich leicht pflegen ließen.
Viele verschiedene Gemüsesorten würden in ihrem Garten wachsen. Sie würde Bohnen und Erbsen ziehen, Möhren, Kartoffeln und vielleicht sogar Hirse...
Sie würde endlich jemanden haben, der sie schätzte. Einen guten Mann.
Und wenn es vielleicht auch nur wegen ihrer Sparsamkeit, Reinlichkeit und eifrigem Fleiß sein würde, dass sie geschätzt würde, denn sie war ja beileibe keine Schönheit.
Toby hatte ihr das immer wieder vorgeworfen.
Viel zu grobknochig, hatte er gesagt. Wie ein Esel, oder ein starkes Arbeitspferd. Dazu kamen diese schmutzigbraunen oft strähnigen Haare und die ausdruckslosen, trüben Augen, die kaum blau zu nennen waren, eher Waschwasserfarben. Toby meinte immer, sie sollte sich besser versteckt halten, weil sonst die Männer nur alle reißaus nehmen würden.
Doch so hässlich fand sie sich selbst eigentlich gar nicht. Gewiss, es war schrecklich eitel so zu denken, doch Mrs. Brighton hatte ebenfalls gemeint, mit ein wenig Seife und Wasser, sowie einem hübschen Kleid, ließe sich bestimmt noch etwas aus ihr machen.
Abbygail seufzte innerlich leise auf.
Tobias hatte ihr nun auch noch im Tode jedwede Chance genommen, hier in der Gegend einen geschätzten und geachteten Mann zu bekommen.
Er hatte bei seinem letzten Spiel die Farm als Einsatz verwettet und sie verloren. Danach hatte er sich sinnlos betrunken und mit irgendeinem dahergelaufenen Cowboy Streit angefangen. Schließlich war dieser dann zu einer wilden Prügelei ausgeartet, bei der sich aus irgendeiner Waffe, die irrsinnigerweise gezogen worden war, ein Schuss gelöst hatte. Tobias wurde in den Kopf getroffen und war sofort tot.
Abbygail erschauerte erneut, zutiefst angeekelt von dieser Vorstellung. Das Bild ging ihr nun gar nicht mehr aus dem Kopf heraus. Doch welch ein passendes Ende für diesen Halunken, diesen Heuchler und Trinker.
Aber er war immer noch ihr Bruder gewesen.
Und seinen Bruder musste man lieben, egal ob man es nun wollte oder nicht. Alles Andere war eine Sünde und würde gewiss von Gott scharf verurteilt werden.
Sie atmete also tief durch und zwang sich zur Ruhe, setzte zu einem Gebet an, obwohl sie am liebsten einfach losgeschimpft und gezetert hätte, geschrieen, gestampft und Sachen durch die Gegend geworfen.
Nun ...es waren jetzt aber nicht mehr ihre Sachen. Sie gehörten einem anderen. Alles war verloren... verloren in einem sinnlosen Spiel unter Männern.
Sie unterbrach das Gebet wieder und schaute sich leise aufschluchzend in dem spärlich möblierten Raum um. Wenig genug, doch es war weg, einfach alles weg!
Wo sollte sie denn nun hingehen?
Sie hatte keine rechten Freunde, da sie ja immer nur gearbeitet hatte.
Die Schule hatte sie früher nur zeitweise besuchen dürfen und gerade mal so eben lesen und schreiben und auch ein klein wenig rechnen gelernt. Dabei konnte sie aber nur dazurechnen, oder abziehen in Summen bis ungefähr 100 Dollar. Gerade genug um vom Krämer nicht betrogen werden zu können. Doch weiteres hatte sie nicht mehr lernen können, weil sie vorher schon wieder hatte arbeiten gehen müssen.
Sie war darum bei weitem nicht wissend genug, um irgendwo als Lehrerin zu arbeiten.
Ein sittsamer, rechtschaffener Beruf für eine ledige Frau.
Aber was blieb ihr denn ansonsten noch übrig?
Das, was sie im Moment tat, brachte nur wenige Pennys ein. Sie würde sich nicht einmal ein schäbiges, kleines Zimmer im örtlichen Hotel in Silver Springs leisten können, geschweige denn eine halbwegs anständige Pension.
Doch sie wollte sich auch nicht selbst verkaufen, um zu überleben. Nein, dachte sie ein weiteres Mal erschauernd, eine Hure
kann ich niemals sein.
Doch was sollte sie denn nun tun? Wo sollte sie hingehen?
Sie hatte drei Dollar, die sie sich mühsam vom Mund abgespart hatte, für wirklich arge Notfälle, wie schlimme Krankheiten, wenn der Arzt gerufen und bezahlt werden musste.
Nun... Dies hier war ein Notfall. Doch sogar mit diesen drei Dollar würde sie nicht sehr weit kommen.
Abbygail sah kurz auf ihre abgearbeiteten Hände nieder.
Sie war jetzt gerade mal siebzehn Jahre alt, sehr mager und auch nicht besonders kräftig.
Ihre langen braunen Haare waren sehr dick, doch strähnig, da sie sich Seife und ausgiebige Bäder nur selten leisten konnte. Essen war wichtiger als Sauberkeit. Ihr ausgezehrtes Gesicht war zu kantig und sie insgesamt viel zu dünn. Dazu war sie auch noch so klein, dass sie kaum einer als Frau ansah, sondern eher noch als ein halbwüchsiges Kind.
Ihre Knochen stachen besonders an den Schultern stark hervor und sie hatte kaum weibliche Rundungen.
Alles in allem könnte sie auch jetzt gleich da hinaus gehen und sich einfach irgendwo niederlegen. Die Zeit würde dann den Rest für sie erledigen. - Oder die Wildhunde.
Das wäre jedenfalls ein gnädigerer Tod, als alles was da noch auf sie zukommen mochte.
Der Sheriff selbst hatte heute Nachmittag, als er ihr die traurige Botschaft mit einem lüsternen Grinsen auf dem fetten Gesicht überbrachte, keinen Zweifel daran gelassen, dass er sie nun als eine Art Freiwild betrachtete, welches er nur zu gerne zur Strecke zu bringen gedachte.
Unverschämt hatte er ihr dann auch noch angeboten mit Madame Kitty, der ortsansässigen Hurenmutter im Saloon zu sprechen, falls sie eine dortige Anstellung, sowie dazugehörige, ausreichende Verpflegung und ein Dach über dem Kopf haben wollte.
Abbygail war fassungslos gewesen vor Entsetzten, doch der Sheriff hatte nur schmierig gelächelt und gemeint, sie solle doch gleich morgen mal bei ihm im Sheriffbüro vorbeischauen. Er würde ihr da ganz gewiss weiterhelfen können.
Der Mann war über vierzig, hatte kaum noch Haare auf dem Kopf und einen ungepflegten graubraunen Vollbart. Dazu war er so dick, dass Abbygail sein armes Pferd bedauerte, welches sein beträchtliches Gewicht jeden Tag durch die Gegend schleppen musste.
Sie hatte nur stumm vor Fassungslosigkeit den Kopf geschüttelt, dann war er weiterhin grinsend wieder verschwunden. Sie würde ihre Meinung schon noch ändern, hatte er noch gerufen.
Als Mann hätte sie ja noch einige Möglichkeiten gehabt, beim Bergbau, bei der Eisenbahn oder als Goldsucher. Doch selbst wenn sie sich als solcher verkleidete, sich das Haar abschnitt und die ohnehin schon sehr unterentwickelte Brust ganz flach schnürte, so hätte doch jeder gleich an ihren großen, von langen dunklen Wimpern umrahmten Augen erkannt, dass sie ein Mädchen war. Das einzige Attribut ihrer Weiblichkeit, verräterisch und eigentlich das schönste an ihr, wie ihr kleiner, bereits halbblinder Spiegel, der noch von ihrer Mutter herrührte, verriet.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top