Häftling Nr. 2L

Als ich anfing, im Gefängnis zu existieren, als ich den Job des Häftlingswärters annahm, da war Häftling Nr. 2L schon längst im Gefängnis gewesen. Ich war überzeugt davon, dass dem Recht und Unrecht gegeben wird, der es verdient. Deshalb wollte ich Gefängniswärter werden. Mehr noch, ich wollte über die richten und über jene herrschen, die sich im Gefändnis befunden hatten, die nicht so gut wie ich waren, die ihr Leben verwirkten. Es war für mich alles klar gewesen, ich hatte es durchschaut: Es gab die Guten, mich, und es gab die, die es nicht gewesen waren. Alle, die verurteilt worden waren, nicht gut zu sein, konnte ich in diesem Hause finden. Ich konnte sie hinter eisernen Stangen erblicken und mir einreden, dass ich gottseidank nicht so gewesen war. Ich war jemand, der immer die richtige Wahl, die richtige Entscheidung getätigt hatte. Meine Eltern waren es, die mich dahin erzogen, keine Fehler zu machen. Wer ein Fehler war, der gehörte nicht zur Familie, den wollten sie nicht haben, ich war ein Ipatjew. Ich wusste, dass es immer die eigene Schuld gewesen war, wenn man einen Fehler machte, dass die Entscheidung immer selbst herbeigeführt wurde. Es war ein klares Bild: Es gab die Guten und es gab jene, die es nicht waren. Sie wurden hierher eingesperrt und ich durfte über sie wachen.

Häftling Nr. 2L war schon lange Inhaftierte gewesen, bevor ich überhaupt geboren wurde. Der Richter hatte ihre Schuld anerkannt, sie wurde verurteilt. An Ihrem Vergehen gab es keinen Widerspruch: sie war eine Schuldige, die jetzt das verleben musste, was sie sich eingebrockt hatte. Auf Aktion folgt Reaktion hatte mein Vorgesetzter gesagt, der mächtig stolz gewesen war, eine wie sie in seinem Gefängnis zu haben. Sie brachte ihm Prestige und er schmückte sich damit, eine solche Verantwortung zu tragen. Auch wenn es viele anders gesehen hatten, war mein Vorgesetzter immer davon überzeugt gewesen wie schuldig Häftling Nr. 2L gewesen war. Auch wenn in naher Zukunft das Urteil des Richters revidiert werden würde, mein Chef, der die Leitung des Traktes „O" innehatte, er würde sie nicht rausrücken. Und wenn sie eines Tages gehen würde, er würde immer daran festhalten, was für ein schlechter Mensch sie gewesen war. Er war überzeugt davon, dass der RIchter Recht behalten hatte. Er würde alles dafür tun, damit alle zu dieser Meinung kämen, sollte aber, wie so oft, kein Erfolg damit haben.

Momentan lebte Häftling Nr. 2L. aber weiterhin im Gefängnis, in welchem ich arbeitete. Ich lernte sie bei meinen Rundgängen kennen. Sie saß am Fenster und starrte hinaus und erzählte vor sich hin, wer wieder was getan hatte und dann lachte sie. Sie aß ihr Essen und war alleine gewesen. Warum auch immer, ich hatte Mitleid gehabt. Ich saß vor den Eisenstangen und sie dahinter. Sie litt still, während sie das Urteil verlebte, das jemand über sie sprach, der sie gut gekannt hatte. Sie war die Mutter meines Chefs, die Mutter ihres Richters gewesen und immer, wenn ich sie sah, fragte ich mich, was das für Menschen gewesen waren. Ich verstand das Urteil nicht und sah sie an, weil ich mir gedacht hatte, dass jeder das bekommt, was er verdient. Ich sah sie an und wusste, dass das, was sie getan hatte, auch sanktioniert werden musste. Dass sie jetzt alleine gewesen war und ihr Sohn nichts mehr mit ihr zu tun haben wollte, war ihre Schuld gewesen. Sie hatte ihn dazu erzogen, was er heute wurde: Ein Gefängnisaufseher, mein Chef, der die scheinbare Macht des Traktes „O" besaß, in dem er seinen Wunsch ausleben konnte, wichtig zu sein. Das Urteil, was sie erreichte, war gerecht gewesen, das hatte der Richter gesagt, aber andere hatten andere Meinungen und ich wusste nicht, wo ich mich platzieren sollte. Ich war ratlos, während ich sie sah. Ich verstand, dass es zwei Urteile gab. Was man mit ihr machte, war vielleicht ungerecht gewesen, dazu kam ich irgendwann und ich glaube, dass viele andere das auch so sahen. Aber die Konsequenz ihrer Taten, dass sie nun eine Gefangene war, die ihren Sohn nie wieder sah, war unausweichlich gewesen, ein langsamer Prozess, ein Tuch, das sie selber webte. Ich konnte nichts dagegen tun, außer zu wissen, dass eines Tages jemand sehr viel darunter leiden würde, bewusst oder unbewusst, und ich es nicht gewesen war. Ich war nur Zuschauer eines Prozesses zwischen zwei Menschen, die mal eine Familie gewesen waren; eine Erzählung einer Person, die einen Fehler machte, der sie jetzt einholte und einer weiteren, die nicht daraus lernte, was gerade geschah. Auf die Aktion folgte eine Reakton, die wieder zur selben Aktion führte, wodurch schließlich keiner mehr glücklich werden wollte. Im Streben ganz oben zu stehen, hatte die Mutter alles daran gesetzt, dass ihr Sohn unter ihr war. Und der Sohn freute sich, sobald er über seiner Mutter stehen konnte. Aber wenn die Mutter eines Tages gehen würde, würde es der Sohn werden, der sich fragte, ob es das richtige gewesen war. Er bekämpfte die Ungerechtigkeit mit Ungerechtigkeit und würde verstehen, dass er nicht das richtige getan hatte, dass er am Ende unglücklich gewesen war, dass er wieder einmal Zeit verspielt hatte. dass er wieder einmal nur ein Kind gewesen war, das nie erwachsen wurde. Das interessierte ihn aber in diesem Moment nicht, da er sich so glücklich und mächtig damit fühlte, über seinen Gefangenen, über allen, die diesen gebäude betraten, diesen Trakt, zu stehen.

Ich wusste, dass mich der Konflikt zwischen Häftling Nr. 2L und ihrem Sohn nichts anging und es gleichzeitig ein bedrückendes Gefühl war, dazwischen zu stehen. Es gab hunderte Gefangene wie Häftling Nummer 2L: eine Tochter, einen Freund, einen Sohn, Bekannte. Bei der Tochter hatte ich es verpasst, aber bei der Mutter werde ich es nicht zulassen. Ich stand vor ihren Eisengittern und wusste, dass ich es nicht zulassen würde, sie zu vergessen und ihre Geschichten, die sie mir erzählte, während sie und ich im selben Gebäude waren, erzählte. Es machte mich traurig und handlungsunfähig, zu sehen, was passierte und doch nichts tun zu können. Denn niemand, nicht einmal ich, der immer für alles kämpfen konnte, hatte an dieser Stelle die Macht bessessen, einen jahrelangen Konflikt aufzulösen und ihr einen schönen lebensabend zu machen. Ich musste mich dem System hingeben, um selbst überleben zu können. Ich hatte keine Wahl gehabt, als zu gucken zu können, wie zwei Menschen das Schicksal erhielten, dass sie sich herbeiführten. Nur bei einem tat es mir leid. Häufiger als sie es wusste, beobachtete und dachte ich an sie, veruweifelte daran, dass ihr nicht helfen konnte, dass ich die Eisenstangen, die sie einsperrten nicht verbiegen konnte und es niemanden gab, der es sah Ich wünschte, sie hätte sich umgedreht in diesem Moment und gesehen, wie ich alles tat, um sie daraus zu holen, aber sie tat es nicht und ich vrzweifelte daran, unfähig zu sein, weil ich nicht wolltte, weil ich nicht ansehen konnte, wie sie weiterleitt, während es mir gut gegangen war. Sie war so starrk gewesen und alles was ich erreichte, alles was mir möglich gewesen war, war der Umstand sie zu beobachten und zu wissen, dass alles irgendwann ein Ende haben würde und das ich es nicht aufhalten konnte. Wie oft ich auch kam und sie mir ansah, wie sie einsam weinte, weil sie aleine gewesen war, wie oft ich mit redete, ich konnte sie nicht befreien, weil das Leben, der Umstand ihrer Existenz von ihr selbst verursacht worden war. Ich glaubte daran, dass alles im Leben gerecht gewesen war und ich wusste, dass es logisch war, was sie erlebte, aber ich sah und dachte mi, dass das nicht fair gewesen war. Ich weinte und dachte a sie und wünschte, etwas veränder zu könen, aber ich konnte es nicht. WIe sehr ich ihr versuchen wollte, zu ermitteln, dass ich an sie glaubte und bei ihr wäre, sie hat es ncht gesehen, weil ich dachte, nicht genug getan zu haben. Gerade an Weihnachten, wenn ich frei hatte, erinnerte ich mich an all die schönen Geschichten, die sie mir erzählte, als ich mich mit ihr unterhielt. Von hrer Mutter, dem Mann und dem Sohn, die alle ein so besinnliches Weihnachten hatten, weil sie sich das, was sie hatten, schln machten. Ich musste daran denken, welche Macht die Zeit besaß, das alles verändern zu können. Ich wusste, dass keiner nach ihr sah, wenn ich nicht da gewesen war und auch wusste ich, dass ich keine Wahl gehabt hatte. Hätte ich sie gerettet, hätte ich nicht das Gefägnis überlebt. Hätte ich die Kugel eingefange, die sie ins Herz traf, wäre ich gestorben. Ich weiß nicht, ob es richtig war, was ich tat. Ich wusste nur, dass ich überleben wollte. Aus mir, einem unbeteiligten Betrachter wurde jemand, der feststellte, wie Gerechtigkeit funktionierte, der alles dafür getan hätte, einen Menschen zu retten, wenn die Umstände andere gewesen wären. Der sie am Fenster sah, der davon wusste, wovon sie träumte, dass ihr testament verfasste, dass sie mit ihrem Leben abgeschlossen hatte und das es nicht gerecht gewesen war. Niemand wollte, dass ich mich zwischen sie stellte, niemand verlangte, was ich mir vorwarf, aber ich hatte das Gefühl, dass es richtig gewesen wäre. Ich habe es einfach nicht verstanden, den Umstand, das, was ich sah, wo ich arbeitete, was mich umgab, aus dem einfach Grund, weil ich wusste, was Leben bedeutete, weil ich wusste, dass es einen Unterschied zwischen Recht haben und Recht bekommen gab.

Sooft ich konnte, sooft ich die Kraft dazu besessen hatte, versuchte ich auch phsysisch bei ihr zu sein, auch wenn es mir nur selten möglich war. Ich wollte sie in dieser so schweren Zeit ncht alleine lassen, wo sie beinahe alles verlor, was ihr wichtig gewesen war: ihr Sohn, die Hoffnung und auch die Erinnerungen an bessere und andere Tage. Ich wollte ihr eine Hoffnung sein, aber ich wusste, dass ich versagte, dass ich in hre Augen sah und vor meine eigene Unfähigkeit gestellt wurde, zu handeln. Dass ich immer die Stangen aufbrechen wollte, aber jeder es gewusst hätte, wer schuld am Ausbruch der begehrtesten Gefangenen gewesen wäre: Ich. Ich hätte die Schuld gehabt, wenn sie glücklich gewesen wäre, ich hätte kein Geld mehr verdient, ich hätte nicht mehr studieren können, ich hätte kein Leben mehr gehabt, worauf die Mutter vom Sohn so stolz gewesen war. Sie sah mich an und freute sich, wie ich älter wurde und drückte mich immer ganz fest und jetzt stand ich vor ihr und konnte ihr doch nicht helfen und nur dabei zusehen, wie das Leben, das sie verdiente, langsam an ihr vorbei zog wie die Möglichkeiten, ihr noch zu helfen. Ich schenkte ihr kleine Süßigkeiten, etwas, dass ihr helfen sollte und verstand, wie lächerlich es gewesen war, was ich tat, dass sie sich freute, aber dass es doch nichts veränderte, dass sie immer noch Gefangene gewesen war, wo sie sich selbst hatte eingesperrt. Und während sie mich hoffnungsvoll anblickte, weil sie wusste, ich hatte die Schlüssel zu ihrer Tür gehabt, hatte ich ihr nüchtern verständlich gemacht, dass es nicht ginge. Dann nickte sie wie so verständnisvoll und ich schämte mich dafür, ich zu sein, der iener eines Sohnes, der seine Mutter wegsperrte und nie wieder sehen wollte.

Eines Tages war sie nicht mehr da, da war ihre Zelle leer und ich wusste nicht was ich denken sollte. Ich war gespalten zwischen der Hoffnung, dass sie jetzt nicht mehr so leiden musste und andererseits, dass ihr Leben so schwer gewesen war und alle guten Erinnerungen, die sie am Leben hielt, irgendwann aufgebracht gewesen waren. Irgendwann verließ auch ich das Gefängnis und konnte glücklich werden. Bei jedem Schritt, den ich mit meiner neuen Familie machen konnte, war sie dabei gewesen, alleine deshalb, weil ich sah, wie sie erschossen wurde und ich mich nicht dazwischen warf. Ich wusste, dass ich mich selber schützen musste, aber zu welchem Preis?

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