38 | Lass sie reden.
AZAD KAYA
07:32
Es war mal wieder viel zu spät. Die Augenlider waren so schwer, dass ich sie nicht auf Anhieb aufriss, obwohl mich bereits die ersten Sonnenstrahlen kitzelten. Blind griff nach meinem Handy, schaltete den Wecker aus und streckte mich.
Ich wälzte mich und streckte den Arm aus, um die Schönheit neben mir, die in der Nacht ihren Weg zu mir gesucht hatte, greifbar zu haben. Um den Duft ihrer geschmeidigen Locken aufzunehmen und mich davon zu überzeugen, dass die Liebe, mit der sie mein Leben erfüllte, real und kein bloßer Traum war. Doch ich griff ins Leere. Alles, was ich spürte, war das kühle Baumwolltuch neben mir. Das Laken war glatt und ordentlich über die Kante der Matratze gespannt; auch das Kopfkissen war unberührt.
Den Arm ließ ich ausgestreckt, als könnte ich ihre Abwesenheit durch das schiere Festhalten an vergangenen Momenten rückgängig machen. Doch das Bett war eiskalt, als hätte sie nie neben mir gelegen. Ich zog die Hand zurück und setzte mich langsam auf. Der Schlaf glitt nach und nach aus all meinen Gliedern, während sich ein unangenehmes Ziehen in meiner Brustgegend ausbreitete.
Hilal war fort.
Die Ruhe im Zimmer, die mich in den früheren Morgenstunden sonst oft beruhigt hatte, fühlte sich auf einmal ganz beklemmend an. Ich musste daran denken, wie schön der Abend gewesen war, den wir zwei verbracht hatten. Daran, dass ich sie das erste Mal mit nach Hause genommen hatte. An ihr leises Lächeln, welches ihre Augen zum Strahlen brachte, sobald wir uns in regem Austausch befanden.
Ich ließ einen flüchtigen Blick durch den Raum schweifen, um nach einem Anhaltspunkt zu suchen. Irgendwas, das mir erklären könnte, weshalb sie so früh abgehauen war, anstatt mit mir gemeinsam zur Schule zu gehen. Ihre Bluse, die sie in der Nacht achtlos auf meinen Schreibtischstuhl geschmissen hatte, fehlte. Auch ihr Handy, welches sie zum Aufladen auf meine Kommode gelegt hatte, war nicht mehr da. Nichts deutete darauf hin, dass sie überhaupt noch hier war.
Ich warf die Decke zurück und stand auf. Die kühle Luft im Zimmer ließ mich frösteln, ich ignorierte es jedoch und zog mir lediglich frische Boxershorts und ein weißes Tanktop über. Mein Kopf brummte von der plötzlichen Bewegung, doch ich zwang mich, bei klarem Verstand zu bleiben. Einen Moment lang musste ich daran denken, wie klug, aber auch dreist Hilal war. Spielte sie insgeheim doch mit mir und wollte mich einfach nur ärgern? Oder lag hinter ihrem Verschwinden doch ein wenig mehr?
Nachdem ich einen Blick aus dem Fenster geworfen hatte, ließ ich mich wieder auf die Bettkante sinken. Offenbar war sie nach Hause gegangen, bevor ihre Brüder und Nisan aufwachten. Sie wussten nichts von unserer Beziehung und das würde wahrscheinlich noch etwas länger so bleiben, zumindest, wenn ich nach Hilals Perspektive ging. Ein wenig beleidigt über die Tatsache, dass sie mir nicht einmal eine kurze Nachricht als Hinweis geschrieben hatte, war ich dennoch.
Ich überprüfte erneut, ob sie vielleicht doch geschrieben hatte – vergeblich. Die Leere auf dem Display fühlte sich mittlerweile an wie ein Schlag in die Magengrube. Ein Teil von mir wollte sie sofort anrufen, doch der andere, meiner Meinung nach vernünftigere, riet mir, ihr Zeit zu geben. Vielleicht brauchte sie einen Moment, um die Dinge zu verarbeiten. Dass ich mich ihr am vergangenen Abend auf eine Art angenähert hatte, die sie nicht gewohnt gewesen war. Ich hatte sie überrumpelt, auch wenn sie es vor mir niemals zugegeben hätte.
Genug Gedanken. Ich zwang mich dazu, aufzustehen und konzentrierte mich auf das Wesentliche, während ich den Schrank öffnete und nach einem weißen T-Shirt sowie einer schwarzen Jogginghose griff. Ich zog es über und warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel nebenan im Badezimmer. Dunkle Ringe unter den Augen, die Stirn in Falten gelegt – ich sah müder aus, als ich es mir eingestehen wollte.
»Bleib locker«, knurrte ich gegen mein Spiegelbild und spritzte kaltes Wasser in mein Gesicht, um die Spuren der Müdigkeit zu beseitigen. Nachdem ich mich frisch gemacht hatte, warf ich die Badezimmertür zu, schnappte meinen Rucksack und schlurfte langsam die Treppenstufen runter.
Ein Blick aus dem Fenster neben der Haustür und auf den leeren Parkplatz verriet mir, dass Mutter noch nicht von der Arbeit heimgekommen war. Die Nachtschichten waren hart für sie, wie sie immer erzählte. Was mir am meisten schmerzte, war, dass sie das alles in erster Linie nur für mich tat, um mir ein Leben in einer guten Wohngegend zu ermöglichen. Um abgeschieden zu sein vom restlichen Teil der Familie, welcher sein Geld mit organisierter Kriminalität verdiente.
Ich pflückte eine kleine Flasche Wasser aus dem Sixpack, das direkt auf der untersten Treppenstufe stand und öffnete die Haustür. Direkt nachdem ich die frische Morgenluft aufgesogen hatte, öffnete ich die Flasche und exte sie bis zur Hälfte leer. Dann verließ ich das Haus und warf mich zügig ins Auto. Einen Moment überlegte ich, ob ich die Schule schwänzen sollte. Ich könnte Hilal fragen, ob sie auch schwänzt, und ob sie mit mir in die Stadt fahren und einen schönen Tag erleben will. Andererseits war nicht mal klar, ob sie sich nach gestern überhaupt noch mit mir treffen würde.
Bleib ruhig, stress dich nicht, ließ ich mir durch den Kopf gehen. Ich würde mit ihr ich in der Schule noch sprechen können. Über gestern. Über uns.
Nach ein paar Sekunden ließ ich den Motor anspringen. Der vertraute Klang beruhigte mich, bereitete mich auf den Schultag vor. Ich fuhr los, bog in die Hauptstraße ein und ließ irgendeine Playlist auf Spotify laufen, während ich zwischendurch aufs Display schielte. Weiterhin kein Zeichen von Hilal. Wenn sie nur wüsste, was für ein Chaos sie in mir hinterlassen hatte und wie schwer sie mir aus dem Kopf ging.
Es dauerte nicht lange, bis ich den Parkplatz unterhalb des Schulgebäudes erreichte. Der Unterricht hatte noch nicht begonnen, hier und da tummelten sich kleinere Gruppen von Schülern herum – ein vertrautes Bild, wenn mal wieder Lehrer ausfielen. Ich ließ meinen Blick über den Schulhof schweifen und suchte nach Ahmet und Furkan, meinen engsten Freunden, und fand sie schließlich neben der Eingangstür. Neben ihnen stand Lukas. Der Typ, der immer wieder ein Auge auf Hilal geworfen hatte – und das nicht besonders subtil. Jeder wusste, was Sache war.
Ich parkte, stieg aus und ließ meinen Blick erneut über den Hof gleiten. Sie befand sich auch nicht in ihrer Clique mit Julia, Mascha und Büşra. Als ich mich den Jungs näherte, hörte ich das gedämpfte Kichern und Tuscheln der Mädchengruppe. Winzige Fragmente ihres Gespräches wehten zu mir herüber.
»... hat er sie nicht mal mit zur Schule genommen, nachdem sie ...«
»... arme Hilal ya ...«
»... meint ihr wirklich, sie war die ganze Nacht bei ihm? ...«
Bevor ich mich umdrehen konnte, ertönte der Gong zur ersten Stunde. Die Menge um uns herum setzte sich in Bewegung und strömte ins Gebäude. Ich nickte den Jungs zur Begrüßung zu und folgte ihnen, während wir uns im Gang zum Klassenzimmer einfanden. Ahmet warf mir einen prüfenden Blick zu, die Augenbrauen hochgezogen, als wollte er mir etwas entlocken. Ich sagte nichts, denn ich ahnte bereits, was ihm durch den Kopf ging.
»Bruder«, durchbrach er schließlich die Stille, »du hast mitbekommen, was die Leute reden, oder?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Hat mich das jemals interessiert?«
»Bruder«, wiederholte Ahmet. Er schnaubte leise, diesmal jedoch drängender, als gäbe es etwas, das ich unbedingt wissen musste. »Die sagen, Hilal war die ganze Nacht bei dir. Was ist passiert?«
»Hast du sie geknallt?«, warf Furkan direkt ein und konnte sich ein freches Grinsen nicht verkneifen.
Ich hielt inne und sah die beiden genervt an. »Euer Ernst?« Ich rollte mit den Augen, fuhr dann aber ruhig fort. »Ja, sie war da. Aber wir haben nur geredet und zusammen was gegessen, einen Film geguckt. So was halt. Die Weiber übertreiben mal wieder maßlos.«
Ich blieb kurz stehen und sah ihn an. »Euer Ernst, Mann?«, fragte ich. »Nichts. Sie war da, ja, aber wir haben nur geredet. Die Weiber übertreiben mal wieder.« Mein Blick ging über die Schulter. Ich fing einen Blick von Julia auf, die mir ein schadenfrohes Lächeln zuwarf.
Obwohl die beiden mich voller Skepsis musterte, nickten sie. Ahmet sprach leise: »Tamam Azad, ich glaub dir.«
Der Klassenraum füllte sich allmählich, ich spürte die Blicke der anderen noch intensiver in meinem Nacken. Jeder wartete darauf, dass es neuen Stoff für Gerüchte gab. Als unser Klassenlehrer, Herr Mayer, hereintrat und seine Sachen auf dem Pult ausbreitete, fiel sein Blick sofort auf den leeren Platz in der zweiten Reihe – der, auf dem Hilal für gewöhnlich saß. Auf dem noch die Blätter der letzten Stunden und ein paar Schulbücher herumlagen.
»Wo ist Hilal?«, fragte er mit gerunzelter Stirn. Er seufzte wenig überrascht und kritzelte im Klassenbuch. Er ahnte, dass sie heute mal wieder nicht zur Schule kommen würde; trotzdem fragte er offen in die Runde: »Weiß jemand, wo sie ist? Ist sie überhaupt noch im Lande?«
Die Klasse war still, doch es brauchte nicht lang, bis ausgerechnet Lukas das Schweigen brach. »Vielleicht erholt sie sich von der Nacht bei Azad«, rief er mit grinsendem Seitenblick in meine Richtung. Gelächter brach aus, und ich spürte, wie sich mein Körper anspannte; meine Hände ballten sich zu Fäusten.
»Halt die Fresse, Lukas«, entfuhr es mir scharf, bevor ich mich zurückhalten konnte. Die Klasse verstummte sofort, und Lukas hob mit einem spöttischen Lächeln die Hände.
»Ganz ruhig, war doch nur ein Joke«, meinte er, sein Grinsen blieb. »Aber mal ehrlich ... wunderst du dich? Ihr macht schon seit Wochen ein riesiges Ding draus. Jeder weiß, dass du Hilal fickst. Jeder hat's gemerkt.«
Das Blut rauschte in meine Ohren, Hitze stieg in mir auf. Nun hatte er echt einen rausgehauen. Die Klasse hielt kollektiv den Atem an, gespannt darauf, was als Nächstes passieren würde. Ich konnte den pochenden Puls in meinen Schläfen spüren, während ich auf Lukas starrte, der immer noch mit diesem provokanten Grinsen hinter mir saß, als hätte er gerade den besten Witz seines Lebens gerissen.
»Was hast du gerade gesagt?« Meine Stimme war leise, doch in der stillen Klasse hallte sie klar und deutlich.
»Du hast mich schon gehört«, grinste Lukas weiterhin und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Du ballerst Hilal und tust so, als wär sie Jungfrau Maria. Verarsch dich selbst.«
Noch bevor er weitersprechen konnte, war ich aufgesprungen, packte ihn am Kragen seines grauen Jerseys und zog ihn hoch zu mir. In seinem blauen Augen blitzte Unsicherheit auf. Ahmet griff hastig nach meinem Arm, um mich zurückzuhalten. »Azad, lass den labern«, flüsterte er. »Du machst dir nur Probleme, Bruder. Chill einfach.«
Ich riss meinen Arm frei und stieß den dicken Ahmet sanft zur Seite. Lukas' Worte hatten mich zu tief getroffen, als dass ich das einfach über mich ergehen lassen konnte. Ich sah ihm fest in die Augen, bis seine Fassade zu bröckeln begann. Seine Hände bebten, die Schweißperlen stiegen ihm ins Gesicht.
»Das ist das letzte Mal, dass du ihren Namen in den Mund nimmst«, knurrte ich mit eindringlichem Klang.
Sein Grinsen verschwand. »Mann, chill mal, das war doch nur ...«, begann er, doch ich unterbrach ihn.
»Nur was? Ein Witz?« Meine Stimme bebte. »Du denkst, das wäre witzig, so über Hilal zu reden?«
Nun wich er einen Schritt zurück. Ich konnte die Unsicherheit in seinen Augen erkennen. »Was ist dein Problem, Mann?«, stieß er aus, seine Stimme dünner und weniger überzeugt. »Du weißt, wie die Leute sind. Die reden halt. Müsst ihr mit klarkommen, wenn ihr eure Beziehung so in die Öffentlichkeit schleppt. Nichts Persönliches, nur reine Logik.«
»Nichts Persönliches?«, rief ich. »Mach so weiter und wir werden sehen, wie lustig du das dann noch findest.«
In diesem Moment trat Herr Mayer dazwischen, presste seine Hand auf meine Schulter und schob sich zwischen uns. »Das reicht jetzt, Azad. Du verlässt sofort den Klassenraum. Nach der Stunde sprechen wir.«
Lukas schmunzelte einen Moment lang, als triumphierte er über mich. Doch Herr Mayer ließ auch ihn nicht außen vor. Mayers Stimme wurde schärfer, als er sich zu dem Blonden umdrehte. »Und du ... wenn ich noch einmal höre, dass du Gerüchte über Hilal in die Welt setzt, sitzt du direkt bei der Direktorin. Ist das klar?«
Ich warf Ahmet und Hilals Freundinnen einen letzten, resignierten Blick zu. Lukas wandte seinen Blick sofort von mir ab, als ich ihn erneut fixierte. Dann griff ich widerwillig nach meinem Rucksack.
»Ich hab dir doch gesagt, hör auf, Mann«, flüsterte Ahmet leise, während Herr Mayer und Lukas noch immer diskutierten.
»Nach der Schule fick ich diesen Lukas«, erwiderte ich. Ein bisschen zu laut für die Ohren des Lehrers, welcher mich sofort anvisierte.
»Komm schon, Azad«, sagte er mit einem Kopfnicken. »Verlass das Zimmer und drück die Türklinke runter, damit ich weiß, dass du noch da bist.«
Ich warf Lukas einen letzten Blick zu, dann tat ich, was Herr Mayer verlangte. Die Tür fiel mit einem dumpfen Knall hinter mir ins Schloss. Auf dem Flur atmete ich tief durch, das Herz hämmerte mir bis zum Hals. Ausgerechnet jetzt tauchte Hilal vor meinem inneren Auge auf – ihre Abwesenheit schwebte wie ein bedrückender Schatten über mir. Wo steckte sie bloß?
• • •
Pause im Lehrerzimmer.
Der Duft von Kaffee und alten Holzregalen hing in der Luft, und es herrschte diese gedämpfte Ruhe, die nur durch das gelegentliche Rascheln von Papier unterbrochen wurde. Herr Mayer saß an seinem Schreibtisch und blätterte in einem Stapel von Klausuren herum. Als er mich sah, hob er den Kopf und setzte eine überraschte Miene auf – als hätte er mich nicht von selbst um dieses Gespräch gebeten.
»Da bist du ja, Azad. Setz dich«, sagte er und deutete auf einen Stuhl vor seinem Schreibtisch. »Über dein Verhalten im Unterricht reden wir noch. Viel wichtiger ist Hilal.«
»Hilal?« Ich nahm Platz und sah ihn verwundert an. »Hat sie sich bei Ihnen gemeldet?«
Herr Mayer schüttelte den Kopf und musterte mich eindringlich. »Nein, und das ist genau das Problem«, sagte er, während er im Klassenbuch blätterte. »Hilals Fehlzeiten bereiten mir Sorgen. Sie war letztes Jahr eine unserer besten Schülerinnen. Jetzt steht sie kurz vor einer Nichtversetzung, schwänzt andauernd. Weißt du, was bei ihr los ist? Gibt es zuhause Probleme?«
Die Worte trafen mich tief. Obwohl es nicht um mich ging, spürte ich den Druck wie einen Knoten in meinem Magen. Hilal hatte mir nie viel von ihrer Familie erzählt, und wenn sie etwas sagte, war es meist nur Oberflächliches. Die wenigen Momente, in denen sie mir Einblicke in ihr Leben gewährt hatte, wollte ich jedoch nicht preisgeben.
»Ich weiß nicht genau«, antwortete ich schließlich. »Wissen Sie, ich möchte ungern private Dinge über Hilal raushauen. Aber ich weiß, dass es da ein, zwei Sachen gibt, die sie momentan beschäftigen.«
Herr Mayer zog die Augenbrauen hoch und nickte langsam. Sein Blick war aufmerksam, fast schon sorgenvoll. »Du möchtest Hilal also helfen? Ich denke, gerade dir, als Hilals Freund, liegt etwas daran, dass sie wieder regelmäßig am Unterricht teilnimmt, oder?«
Ich nickte.
»Dann sprich mit mir, Azad«, beharrte er. »Manchmal kriegen Lehrer Dinge einfach nicht mit, und ich möchte wirklich, dass Hilal wieder eine Perspektive für ihre Zukunft sieht. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?«
Ich zögerte, bevor ich schließlich: antwortete: »Also gut. Sie hat mal erwähnt, dass ihr Vater bald aus der Haft entlassen wird. Ihre Brüder wollen ihn wieder zuhause aufzunehmen. Für Hilal ist das ein kompliziertes Thema.«
Herr Mayer hörte aufmerksam zu, während ich sprach. In all den Jahren war das hier unser erstes Gespräch in ernster Atmosphäre. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich von Skepsis zu einem tiefen Verständnis. Als ich alles ausgesprochen hatte, nickte er wieder, als würde er das Gesagte verarbeiten.
»Das ist eine schwierige Situation«, sprach er leise. »Ich erinnere mich an die Zeit, als ihr Vater verurteilt wurde. Hilal war sehr jung, ihre Mutter überfordert. Ich kann verstehen, dass das an Hilal nagt. Denkst du, es könnte ihr helfen, mit unserem Schulpsychologen zu sprechen? Sie muss das nicht allein durchstehen.«
Ich brauchte gar nicht lang überlegen, bevor ich den Kopf schüttelte. »Auf gar keinen Fall. Wenn Hilal erfährt, dass ich mit irgendjemandem gesprochen habe, wer weiß, vielleicht vertraut sie mir dann nicht mehr ... und das möchte ich nicht riskieren. Es wird gerade ernster zwischen uns.«
»Das verstehe ich, Azad«, reagierte Herr Mayer behutsam. »Bitte kümmere dich ein wenig um Hilal. Sorg dafür, dass sie zumindest wieder zur Schule kommt. Und wenn du das Gefühl hast, dass sie Hilfe braucht, dann melde dich bitte bei mir. Ich bin da.«
»Danke«, antwortete ich. Als das Pausengeläut erklang, erhob ich mich. Bevor ich die Türklinke herunterdrückte, warf ich Herr Mayer einen letzten Blick zu. »Kann das bitte erstmal unter uns bleiben?«
»Natürlich, Azad«, versprach er mit einem freundlichen Nicken und griff nach seiner fahlbraune Ledertasche. »Aber halte mich auf dem Laufenden, damit ich zur Not einschreiten kann, ja?«
»Danke, Herr Mayer. Wirklich.«
• • •
Gegen Schulschluss
Stunden später ließ ich die stickigen und lauten Gänge des Schulgebäude hinter mir, und begann ziellos umherzulaufen. Innerhalb weniger Minuten steckte ich mir eine Zigarette nach der anderen an. Die Schulstunden hatten sich endlos gezogen, das Warten zermürbend – immer wieder hatte ich mein Handy im Blick gehabt, in der Hoffnung, eine Nachricht von Hilal zu finden, doch jedes Mal starrte ich in die gleiche, beklemmende Leere. Ein schlechtes Gefühl nagte an mir, bohrte sich tief in meinen Magen. Vermutlich hatten ihre Brüder herausgefunden, dass sie die Nacht bei mir verbracht hatte.
Mit einem letzten Zug schnipste ich die Zigarette in einen Gully und stieg in meinen Wagen, den Rucksack achtlos auf den Beifahrersitz geworfen. Doch bevor ich den Motor starten konnte, hielt ich inne und griff erneut nach dem Handy. Zum tausendsten Mal an diesem Tag. Ich wusste, dass es unwahrscheinlich war, dass sie ans Telefon gehen würde – und doch musste ich es jetzt versuchen. Ihre Stimme hören und wissen, dass es ihr gut ging.
Nach endlosen Sekunden des Wartens hörte ich endlich ihren Atem durch die Leitung. ›Azad?‹, kam es schwach, ihre Stimme erschöpft, fast brüchig.
»Hilal, endlich!«, platzte es aus mir heraus. »Scheiße, ich hab mir solche Sorgen gemacht. Wo bist du? Geht es dir gut?«
Am anderen Ende herrschte einen Moment lang Schweigen, als suchte sie nach den richtigen Worten. ›Nicht wirklich‹, sagte sie schließlich leise. ›Mein Bruder ... er weiß es jetzt, Azad. Er weiß, dass ich bei dir war, und er wird es Adnan erzählen.‹
»Dass du bei mir warst?«
›Nisan hat es ihm gesagt‹, fuhr sie fort, ihre Stimme klarer, aber voller Schmerz, der mir wie ein Stich unter die Haut fuhr. ›Sie hat ihm alles erzählt.‹
»Scheiße«, fluchte ich und schlug mit der Faust aufs Lenkrad. Die Wahrheit kam immer ans Licht – das war mir klar. Dennoch wühlte es mich auf, dass Nisan sich zunächst Hilals Vertrauen verschafft und sie dann doch verraten hatte. »Was geht denn bei ihr ab? Wieso begleitet sie dich zuerst, wenn sie danach zu deinen Brüdern rennt und alles ausplaudert?«
Natürlich Nisan, wer sonst. Wahrscheinlich war sie so eingeschüchtert von meinem Bezug zu Salman gewesen, dass sie direkt zu Hilals Brüdern gerannt war. Misstrauisch gegenüber mir – ja, das hatte ich geahnt. Aber ich hatte nicht erwartet, dass sie so schnell alles ausplauderte.
›Keine Ahnung‹, flüsterte Hilal, als würde sie jeden Moment damit rechnen, dass jemand in ihr Zimmer platzt und sie beim Telefonieren erwischt. »Mein Bruder ... er ist ausgerastet, Azad. Er weiß, dass ich die Nacht bei dir war und er wird es Adnan sagen ... tut mir leid, Azad. Ich war so dumm, so unvorsichtig.‹
»Nein, Hilal, sag so was nicht. Dich trifft überhaupt keine Schuld. Ich hätte wissen müssen, dass das Stress mit deinen Brüdern gibt.«
›Es tut mir so leid für den Stress, Azad.‹
Der gebrochene Klang ihrer Stimme schnürte mir nach und nach die Kehle zu. Ich starrte durch die Windschutzscheibe ins Leere, und der Gedanke, dass ich nichts tun konnte, um ihren Schmerz zu lindern, war wie eine Last, die auf meiner Brust lag. Ihr Schmerz war mein Schmerz, und er durchzog mich bis ins Innerste.
»Hilal, hör mir zu«, sagte ich drängend, obwohl sie sowieso keinen Laut von sich gegeben hatte. »Bleib ruhig, ja? Kannst du rauskommen? Soll ich dich abholen?«
›Die lassen mich nie wieder raus, Azad‹, schluchzte sie, verzweifelt und voller Angst. ›Wenn du herkommst, ist die Hölle los. Bitte, komm nicht.‹
»Ich werde mit deinen Brüdern reden«, sprach ich entschlossen.
›Nein!‹, Ihre Stimme hob sich plötzlich so laut, dass ich das Handy kurz vom Ohr entfernen musste. ›Tu das bitte nicht. Ich muss das hier alleine regeln. Ich höre Schritte. Ich glaube, ich muss auflegen.‹
»Hilal, hörst du mich?«, fragte ich panisch. »Melde dich, wann immer du kannst. Wenn du mich brauchst, bin ich da. Ich unterstütze dich, hörst du–«
Die Leitung brach ab.
Wie hatte ich sie bloß in diese Situation gebracht? Ich war es gewesen, der sie überzeugt hatte, bei mir zu bleiben. Ich war es, der sie dazu gedrängt hatte, etwas zu tun, wofür sie nun den Preis zahlte. Ich hatte sie angestachelt, geschwächt – in eine Lage gebracht, aus der sie vielleicht keinen Ausweg mehr fand. Ihre Brüder würden ab jetzt keinen Moment mehr von ihr ablassen, sie lückenlos überwachen.
Nach einer Weile holte ich tief Luft, griff zum Schlüssel und ließ den Motor aufbrummen. Das vertraute Summen des Motors erfüllte den Innenraum und brachte eine trügerische Ruhe mit sich. Aber meine Gedanken kreisten unaufhörlich – ich versuchte, mir ein Bild zu machen, einen Plan zu fassen, wie ich Hilal da rausholen konnte, ohne alles nur noch schlimmer zu machen. Es musste doch einen Weg geben, um ihr zu helfen.
Während ich planlos umherfuhr, töteten mich die Gedanken jede Sekunde. Am liebsten wäre ich umgedreht, hätte vor ihrer Tür gestanden und all ihre Tränen auf mich genommen. Doch ich wusste, dass genau das alles nur verkompliziert hätte. Alles, was ich jetzt tun konnte, war abzuwarten, auch wenn mich diese Hilflosigkeit innerlich zerfraß.
Mit jedem Meter, den ich fuhr, wurde mir umso klarer, wie zerbrechlich alles war – wie schnell das, was Hilal und ich aufgebaut hatten, an den Kanten zu bröckeln begann. Die Mauern, die ich um sie herum zu durchbrechen gehofft hatte, schienen jetzt höher denn je.
Und doch schwor ich mir eines: Das hier war noch nicht das Ende. Egal, was kommen würde – ich würde für Hilal kämpfen.
Für Hilal.
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