36 | Dilêmin.
HILAL
23:38
Ich war so still, dass ich förmlich über den Boden schwebte, während ich nach dem beigen Mantel am Garderobenständer griff und mich darin einhüllte. Nachdem ich sichergestellt hatte, dass alle Lichter aus waren und ich aus keinem Zimmer mehr einen Laut hörte, bis auf das erdbebenartige Schnarchen aus Merwans Zimmer, öffnete ich die Wohnungstür und begab mich ins zappendustere Treppenhaus.
Ich hatte mich noch nie nachts rausgeschlichen. Mein Herz pochte dermaßen laut, als könnte es die Stille der Nacht durchbrechen und mich auf der Stelle verraten. Jeden noch so vorsichtigen Schritt auf den knarzenden Treppenstufen vernahm ich selbst als tiefgreifende Erschütterung. Wenn meine Mutter, Merwan oder gar Adnan herausfänden, was ich hier tat, hätte das vermutlich weitreichende Konsequenzen für mich. Nur der Gedanke an Azad ließ mich weitermachen. Der Gedanke an seine warmen braunen Augen, die mich musterten als sei ich der einzige Mensch auf dieser Welt, machte all die Angst und Nervosität irgendwie erträglich für mich.
Wenige Minuten später hatte ich endlich das Erdgeschoss erreicht und war zur silbergrauen Haustür vorgedrungen. Ich trat nach draußen und merkte, wie der Wind in mein Gesicht peitschte. Es roch winterlich, obwohl es bereits Frühling war. Die Straßenlaternen tauchten die Umgebung in ein sanftes, goldenes Licht, während die umliegenden Wohnhäuser, welche ich tagsüber so grottenhässlich fand, nur als dunkle Silhouetten erkennbar waren. Warum konnte es nicht immer Nacht sein? Nachdem ich die Gedanken hinter mir gelassen hatte, schnürte ich den Mantel noch ein wenig enger an meine Taille heran, richtete meine Haare, die sich durch den Wind in alle Richtungen verteilt hatten und entfernte mich zügig von der Nachbarschaft.
Auf dem Weg zum Park, der etwa fünf Minuten von unserer Wohnung entfernt war, musste ich an Nisan denken. Obwohl sie mit meinem Bruder zusammen und für mich mittlerweile so was wie eine beste Freundin geworden war, hatte ich sie verarscht. Sie hatte mich auf das kurze Treffen mit Azad begleitet und glaubte, dass sich unser Kontakt lediglich auf die Schule beschränkte. Dass wir uns schon seit ein paar Wochen heimlich trafen und längst einen Schritt weiter waren, ahnte sie wahrscheinlich nicht. Auch wenn mich kurz das schlechte Gewissen plagte, fand ich es erstmal besser, es sie nicht wissen zu lassen.
Das Kribbeln in meinem Bauch wurde stärker, als ich den Park erreichte. Die Bäume, die tagsüber so friedlich wirkten, warfen unheimliche Schatten auf den Boden. Die alten Laternen leuchteten den Asphalt nur unzureichend aus, wodurch ich mein Schritttempo reduzierte und mich gründlicher umsah. Hier im Park befand sich zu dieser Uhrzeit niemand mehr, bis auf eine einzelne Gestalt, die auf dem gegenüberliegenden Parkplatz lässig auf der Motorhaube seines Autos saß. Es war Azad.
Mein Herz machte einen kleinen Sprung. Selbst in unendlicher Dunkelheit hätte ich ihn an seiner Körperhaltung erkennen können. An der Art, wie er leicht nach vorne gebeugt saß und die Hände tief in die Taschen seiner dicken Winterjacke vergrub. Er schaute ab und zu lässig hin und her, tat so, als hätte er mein Erscheinen noch nicht mitgeschnitten, doch ich wusste, dass er mich bereits von Weitem erkannt hatte. In diesem Augenblick waren wir die beiden einzigen Seelen weit und breit.
»Ich dachte schon, du kommst nicht mehr.«
Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er aufstand und auf mich zukam. Es war genau das Lächeln, welches meine Sorgen und Ängste für einen Augenblick vergessen lassen konnte. Immer und immer wieder. Ich beschleunigte wieder und konnte es kaum erwarten, in seiner Nähe zu sein.
»Tut mir leid«, flüsterte ich. Mein Atem gefror in der Luft. Mein Herzschlag beruhigt sich nach und nach, während er mich sanft in seine Arme zog und die weiche Haut seiner Wange meine Schläfe berührte. »Ich musste warten, bis alle schlafen. Heute hat es ein bisschen länger gedauert.«
Durch seine Umarmung entspannte mein Körper spürbar. Ich lehnte meinen Kopf an seine Schulter, spürte die Wärme, die von ihm ausging und den vertrauten Duft, der schon von Anfang an eine für mich unbeschreibliche Wirkung gehabt hatte. Als ich meinen Kopf hob, kam es erneut zu tiefem Augenkontakt.
»Hat sie es dir geglaubt?«, fragte er. Seine Stimme wirkte beinahe zu ernst, als erkannte er, wie wichtig es war, dass wir unsere Beziehung erst einmal für uns behielten. Dann schnaubte er gelassen und zeigte mir erneut sein schönstes Lächeln.
Über mein Gesicht flitzte nun ebenfalls ein dezentes, aber freches Grinsen. »Jedes Wort. Sie denkt, wir sind einfach nur Klassenkameraden.«
»Sehr gut«, meinte er. »Ich meine ... wir sind ja auch Klassenkameraden, daran ist nichts gelogen, oder?« Gemeinsam verfielen wir beide in heiteres Gelächter, welches in intensiven Blickkontakt mündete.
Seine Nasenspitze näherte sich meiner, bevor es zum ersten Kuss für den Abend kam. Die Art, wie er seine Hand in meinen Nacken legte und über meinen Rücken fahren ließ, während er mich körperlich immer weiter in die Abhängigkeit trieb, verriet mir, dass ich nicht die Erste war. Bestimmt war die Nähe zu Frauen etwas ganz Gewöhnliches für ihn, vielleicht fühlte er die Tiefe dieses Augenblickes gar nicht so intensiv wie ich. Dinge, über die ich mir im Vorfeld schon häufiger Gedanken gemacht hatte. Als er kurzzeitig von mir abließ, verwarf ich den Gedanken wieder.
Sein Lächeln war verschwörerisch, als er seine Lippen flüchtig an meine Stirn drückte. »Ich bin froh, dass du hier bist«, murmelte er, bevor er mich wieder losließ und zur Seite seines Autos trat, um für mich die Beifahrertür zu öffnen. »Steig ein, wir fahren ein bisschen rum. Ich merk ja, wie du frierst.«
»Danke, sehr aufmerksam von dir.« Ich zog den Mantel noch ein wenig enger, um der kühlen Nachtluft zu trotzen, und stieg in den Wagen. Das gepflegte, matt glänzende Interieur seines Autos war mir bereits vertraut – hier hatten wir über die vergangenen Tage und Wochen hinweg so viel Zeit miteinander verbracht. Gelacht, geweint, über die Zukunft, aber auch über unsere Vergangenheit gesprochen. Azad ließ den Motor an und das leise Brummen erfüllte den Raum, als der Wagen im Rückwärtsgang vom Parkplatz rollte.
Die Gebetskette mit schwarzen Perlen, welche er an den Träger seines Rückspiegels gehangen hatte, baumelte gelassen hin und her; gleich darunter lag ein silbernes Emblem mit ein paar Wörtern auf Kurdisch:
DAYE, DÜNYA XAYİNE
(Mama, die Welt ist verräterisch)
So oft hatte er mir die Bedeutung dieses Zitates erklärt und jedes Mal ergänzt, dass er noch so viel darüber erzählen könnte. Jedes einzelne Mal war ich zu Tränen gerührt gewesen, wenn er mir davon erzählt hatte, wie viel Mist er in jungen Jahren bereits erlebt hatte. Eine Gemeinsamkeit, die uns beide vereinte. Ich musterte ihn und stellte fest, wie lässig er das Auto durch die Straßen unserer Stadt bewegte – als müsste er es nicht mal eigenständig steuern. Zur gelassenen Stimmung eher unpassend erzählte er mir, dass er die Stadt irgendwann hinter sich lassen würde.
»Ich weiß, warum du mich so anguckst«, lachte er, während er mich gelegentlich aus dem Augenwinkel betrachtete. »Ja, ich hasse Köln, ich kann nicht lügen. Aber du bist hier für mich das Schönste, mein Schatz. Für dich bleibe ich noch hier. Und wer weiß, vielleicht verlassen wir diesen Ort ja irgendwann gemeinsam?«
»So was Schönes hat mir noch nie jemand gesagt.«
Ich lehnte den Kopf gelassen zurück und ließ die wunderschönen Riffe der orientalischen Saz-Gitarre, die aus dem Radio tönten, auf mich wirken. Sie drangen tief in mein Mark ein, verliehen der Atmosphäre etwas Harmonisches, nahmen mir aber gleichzeitig meine Müdigkeit. Erst, als ich Azads warme Hand auf meinem Oberschenkel spüren konnte, schaute ich wieder nach vorn. Unbeschreiblich.
Die Straßen waren beinahe menschenleer und die Lichter flogen in schmalen Streifen an uns vorbei, während wir in hohem Tempo in die Dunkelheit hinausfuhren. Er warf mir bewundernde Blicke zu, sobald er bemerkte, dass ich mich nicht über die viel zu schnelle Geschwindigkeit beschwerte. Die eine Hand hielt er am Lenkrad, mit der anderen ergriff er meine.
Nachdem wir den Innenstadtring einige Male durchquert hatten, brach er die Stille wieder. »Hilal«, sprach er zögernd, als würde er seine Worte vorsichtig abwägen. »Willst du mit zu mir?« Seine Augen, die kurz von der Fahrbahn zu mir herüberschielten, verrieten eine Mischung aus Hoffnung und Unsicherheit.
Ich drehte mich zu ihm und sah in die ernsten Augen, in denen sich die Scheinwerfer entgegenkommender Fahrzeuge spiegelten. Sein Vorschlag überraschte mich, ließ mein Herz jedoch gleich ein wenig höher schlagen. »Zu dir nach Hause?«, wiederholte ich seine Worte, als müsste ich sie erst begreifen.
Er nickte bestimmend, ansonsten hielt er den Ausdruck in seinem Gesicht größtenteils neutral. Sein Vorschlag ließ die Luft im Auto ein wenig dichter wirken. Ich war wirklich unsicher, ob ich mit ihm nach Hause fahren sollte, und dennoch kitzelte mich die Neugier, was der Abend für uns bereithielt.
»Okay, klar«, sagte ich schließlich.
»Echt?« Ein erneutes Lächeln huschte zwischen dem gepflegten Dreitagebart hervor. Er sah mich ganz ungläubig an, seine Augen wurden größer. »Wallah, das freut mich. Ich hatte Angst, dass du nicht mit willst.«
Ich lachte ebenfalls, warf dabei verlegen einige Haarsträhnen hinter meine Schulter. Seine Augen lagen auf mir und ich wusste, ihm gefiel, was er sah. Der Gedanke daran ließ mich mir selbst noch schöner vorkommen. »Was soll mir schon passieren, du passt doch gut auf mich auf, oder?«
»Natürlich«, stimmte er zu. »Ich soll ein Hund sein, wenn ich nicht auf dich auf passe, Habibti.«
Unsere Fahrt ging weiter. Die traditionelle Musik hatte sich mittlerweile in modernere, aber dennoch melodische Klänge verwandelt, die perfekt zur Stimmung passten. Wir fuhren sorglos weiter, bis wir in einer ruhigen Wohngegend ankamen, in der sich kleine Einfamilienhäuser mit gepflegten Gärten aneinanderreihten. Vor der Garage eines dieser Häuser parkte Azad seinen Wagen. Während wir uns abschnallten, sah er mich an, als wollte er noch ein letztes Mal sichergehen, dass ich es mir nicht nochmal anders überlegt hatte. Dann stieg er aus dem Auto aus und kam auf meine Seite, um mir die Tür zu öffnen. Zuletzt zog er mich aus dem Wagen, nachdem ich ihm meine Hand reichte.
Wir liefen die paar Schritte zur Haustür, ehe er einen Schlüssel zückte und diesen langsam im Schloss umdrehte. Als wir eintraten, rief er leise: »Willkommen, darf ich dir deinen Mantel abnehmen?«
Ich stimmte dankend zu, schälte mich aus dem Mantel und übergab ihn Azad, welcher ihn direkt zu ein paar anderen Jacken in der Garderobe hing.
Das Wohnzimmer war in warmes, gedämpftes Licht getaucht, das eine warme, fast schon intime Atmosphäre für die perfekte Zweisamkeit schuf. Es war relativ einfach eingerichtet, aber dennoch mit viel Geschmack – sanfte Beigetöne an den Wänden, der Boden mit cremeweißem Teppich ausgelegt. Ich ließ meinen Blick durch den Raum schweifen, während Azad in die angrenzende Küche verschwand. An einer Fotowand hingen einige Bilder von Azad und seiner Mutter, einer wunderschönen Frau, in verschiedenen Stadien seines Lebens von Kleinkind- bis Jugendalter, allerdings kein einziges, auf dem sich sein Vater befand.
Kurze Zeit später kehrte Azad mit zwei Gläsern Tee aus der Küche zurück, reichte mir eines davon und deutete auf das cremefarbene Sofa. »Setz dich, du musst hier nicht die ganze Zeit rumstehen. Fühl dich einfach wie zuhause.«
Für einen Moment herrschte angenehme Stille zwischen uns, wie auch schon auf der Autofahrt hierher. Die Stille wurde nur durch das Klirren des gläsernen Geschirrs unterbrochen, als ich den Tee an meine Lippen führte. Der Duft nach Minze stieg mir in die Nase und beruhigte meine Nerven ein wenig, die seit meiner Ankunft angespannt waren. Immerhin war ich noch nie bei einem Typen zu Besuch gewesen.
»Du warst nur zwei Sekunden weg«, merkte ich an, »wie hast du es geschafft, einen so leckeren Tee zu zaubern? Das gelingt nicht mal meiner Mutter, dabei ist sie echt gut darin.«
»Vielleicht weihe ich dich irgendwann mal in mein Geheimnis ein«, sprach Azad und versenkte einen weiteren, großzügigen Schluck.
Gelegentlich sah ich mich um und rieb mir die Oberarme. Versuchte, mir die Nervosität nicht anmerken zu lassen und hoffte, dass er einfach nur dachte, dass mir kalt sei.
Azad, der anfangs noch mit wenig Abstand zu mir gesessen hatte, lehnte sich entspannt zurück und streckte die Beine aus. Die Unsicherheit konnte er mir tatsächlich anmerken. Dabei fixierte er mich weiterhin mit seinen Blicken. »Keine Sorge«, sagte er leise. »du kannst dich hier wirklich entspannen. Ich werde versuchen, dich nicht aufzufressen.«
Seine scherzenden Worte halfen mir nicht wirklich, meine Nervosität zu lindern. Ich spürte, wie sich meine Muskeln willkürlich anspannten. Dennoch zwang ich mir ein Lächeln auf die Lippen, auch wenn es vielleicht nicht so überzeugend war, wie ich es mir gewünscht hätte.
Dann wurde sein Blick eindringlicher, brannte sich gefühlt in meine Haut. Er musterte mich und es wirkte fast so, als zog er mich mit den bloßen Augen aus. »Ich weiß, dass du mir das nicht glaubst. Mir liegt so viel an dir, dass ich es auf Anhieb nicht beschreiben könnte. Du bist das erste Mädchen, das ich mit nach Hause nehme.«
»Und du der erste Typ, den ich mit nach Hause begleitete«, erwiderte ich, wobei ich selbst merkte, dass dies kein besonders selbstsicheres Statement war, sondern meine Unsicherheit bloß noch weiter in den Vordergrund rückte.
»Auf den Tag habe ich mich schon lange gefreut, Hilal.« Er ließ seine Hand auf mein Schulterblatt wandern und streichelte meinen Rücken so sanft, dass ich vor Wohltat die Augen für einen Moment schloss.
Bitte nicht die Tour. Wieso war er so gut darin, mich schwach zu machen? Wieso war Azad ein Typ, der genau wusste, welche Worte er setzen musste, um mich um den Finger zu wickeln? Herz gegen Verstand. Ich wusste, dass mein reiner Verstand keine Chance hatte, mein Herz sich seinen schönen Äußerungen hingab. Ich lachte verlegen, woraufhin er sich mir langsam näherte.
Seine Augen strahlen, die Zunge glitt sanft über seine vollen Lippen. Ich spürte, wie mein Herz im Zickzack sprang. Das wohlige Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Sein Blick wanderte langsam über mein Gesicht, verweilte an meinen Lippen und glitt immer tiefer. Die Spannung zwischen uns war fast greifbar, und ich konnte fühlen, wie sich mein Körper von selbst auf seine Nähe einstellte, obwohl mein Verstand noch voller Zweifel war. Ich wurde tatsächlich schwach.
Azad rückte näher heran, seine Hand fand ihren Weg zu meinem Oberschenkel. Die Berührung war warm, fast brennend, und schickte eine Welle von Gefühlen durch meinen Körper, die ich nur schwer unter Kontrolle halten konnte. Er beugte sich zu mir, sein Atem streifte meine Wange, während er seine Lippen nahe an mein Ohr brachte.
»Du musst wirklich keine Angst haben«, flüsterte er. Seine Stimme war auf einmal tiefer und mit einer Note puren Verlangens, die mich erschaudern ließ. »Entspann dich einfach, du bist bei mir gut aufgehoben.«
»Ach ja?«, flüsterte ich, während unsere Augen aufeinander lagen und die Blicke immer weiter miteinander verschmolzen. Wieder spielte er mit mir und sorgte dafür, dass sich unsere Lippen beinahe berührten, während seine Hand die Innenseite meines Oberschenkels massierte.
Für einen Moment verlor ich mich in der Hitze seines Atems. An meiner Seite stand stets die Verlockung, ihm nachzugeben, ihn mich führen zu lassen. Er würde schon wissen, was er mit mir anstellte, und vor allem wie. Nicht mal seine Hand, die sich auf meinem Bein immer weiter nach oben bewegte, brachte mich dazu, mich zur Wehr zu setzen.
Meine Gedanken wirbelten durcheinander. Ich versuchte, die Kontrolle über meine Gedanken und Gefühle zurückzugewinnen. Doch Fehlanzeige. Azads Lippen waren nun gefährlich nah an meinem Hals, der Raum schien sich nur um uns beide zu drehen und ansonsten an Bedeutung zu verlieren. Nun wusste ich, er konnte mit mir tun und lassen, was er wollte. Als hätte er meinen Selbstschutz vollkommen außer Kraft gesetzt und die Kontrolle über mich gewonnen.
Doch genau in dem Moment, in dem er seine Hand unter meinen weißen Pullover schob und die Finger auf meine Brüste legte, traf es mich eiskalt. Ein Bild meiner Brüder, die mich in ihrer fürsorglichen, fast schon kontrollierenden Art in den Arm nahmen, schoss mir durch den Kopf. Widersteh ihm. Kenne deine Grenzen, Hilal. Tu nichts Unüberlegtes. Das Gefühl der Verantwortung und die ständige Vorsicht, die ich mein ganzes Leben lang gekannt hatte, meldeten sich zurück, und sie waren viel größer als die Verlockung nach intimen Momenten mit Azad.
Ich legte eine Hand auf Azads Brust, um ihn sanft, aber bestimmt zurückzuhalten. »Azad«, murmelte ich, meine Stimme zitterte. »Ich ... ich kann das nicht. Es tut mir leid.«
Er hielt inne. Seine Augen trafen meine, diesmal mit einem Ausdruck von Überraschung und vielleicht einem Hauch von Besorgtheit. »Bist du dir sicher?«, fragte er leise, ohne die Nähe wirklich aufzugeben. »Habe ich etwas falsch gemacht, dir wehgetan, oder so?«
Ich schüttelte den Kopf, versuchte ein entschuldigendes Lächeln aufzusetzen, obwohl ich innerlich total zerrissen war. »Nein, du hast mir nicht wehgetan. Es ist nicht so, dass ich es nicht will«, begann ich, suchte nach den passenden Worten, »aber ... es fühlt sich einfach nicht richtig an. Nicht so, nicht jetzt, weißt du?«
Bevor Azad langsam von mir zurückwich, musterte er mich einen Moment lang. Er setze sich wieder zurück und seufzte, als hätte er einen großen Fehler begangen. Die Spannung in der Luft löste sich allmählich, und ich atmete tief durch. Erleichtert, aber auch mit einem kleinen Stich in der Brust.
Azad blieb still, seine Augen fixierten den Boden, während er darüber nachdachte, was er sagen sollte. Sein Atem ging ruhig, doch ich konnte das Unbehagen in seiner Haltung spüren. Vielleicht war er enttäuscht, vielleicht auch nur verwirrt. Ich wusste es nicht genau, aber ich konnte es ihm auch nicht verübeln. Schließlich war ich selbst nicht ganz sicher, was ich fühlte, oder was ich von diesem Abend eigentlich so genau erwartet hatte.
»Tut mir echt leid«, wiederholte ich leise, obwohl ich wusste, dass ich mich nicht entschuldigen musste. Es war mehr als Versuch gedacht, die Spannung zwischen uns beiden zu entschärfen.
Er hob langsam den Kopf, seine warmen, geweiteten Pupillen suchten nach meinen, und als er schließlich sprach, war seine Stimme sanft, fast nachdenklich. »Du musst dich nicht entschuldigen, Hilal. Ich hätte aufmerksamer sein sollen.« Er hielt inne, suchte nach den richtigen Worten. »Ich wollte nicht, dass du dich unwohl fühlst.«
»Ich weiß, Azad«, antwortete ich instinktiv. »Es ist nicht mal deine Schuld. Vielleicht habe ich mich einfach nur selbst überrumpelt.« Ich lächelte schüchtern, unsicher, ob das mehr Wahrheit war oder Ausrede, welche ich mir selbst einredete.
Bescheiden nickte Azad. Für einen Moment lang dachte ich, das Thema wäre damit erledigt. Doch dann sah er mich wieder an, diesmal mit einem undeutbaren Ausdruck. »Soll ich dich nach Hause fahren?«, schlug er vor und zückte aus seiner kleinen schwarzen Bauchtasche die Autoschlüssel. »Ich will nicht, dass du dich gezwungen fühlst, hier zu sein.«
Sein Vorschlag traf mich wie ein kalter Schauer. Der Gedanke, jetzt schon nach Hause zu gehen, fühlte sich falsch an. Als würde ich weglaufen, ohne dass wir die Gelegenheit hatten, die Zeit wirklich zu nutzen und miteinander zu reden. Und doch verstand ich, wieso er das sagte. Er versuchte, die Situation zu entschärfen, bevor sie noch unangenehmer wurde.
»Nein«, rief ich, vielleicht etwas zu schnell. Ich biss mir auf die Lippen, um meine Worte noch einmal zu überdenken. »Ich möchte bei dir bleiben. Ich fühle mich wohl bei dir, auch wenn ...« Ich brach ab und suchte erneut nach den passenden Worten, um meine Gedanken greifbarer zu machen. »Auch wenn das gerade etwas unangenehm war, muss das doch nicht bedeuten, dass der ganze Abend ruiniert ist, oder?«
Die Unsicherheit in seinen Augen wich langsam wieder diesem selbstgefälligen Lächeln. »Okay«, sagte er schließlich, seine Stimme nun etwas entspannter. »Ich will, dass du dich wohlfühlst. Ab jetzt werden wir nichts mehr überstürzen, da gebe ich dir die Hand drauf.«
Er streckte mir die Hand entgegen. Ich erkannte seine Absichten als rein und ließ zu, dass sich unsere Hände einander berührten, gar einhakten. Diese unbeschreibliche Wärme sorgte dafür, dass die Anspannung in mir nachließ.
Ich nickte dankbar, froh darüber, dass er es offenbar verstand, auch wenn die Situation für uns beide nicht einfach gewesen war. »Vielleicht können wir einfach noch ein bisschen reden«, schlug ich vor. »Es ist noch früh, und ...« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hab keine Eile, nach Hause zu kommen. Eigentlich wollte ich erst am Morgen zurückfahren.«
Die Atmosphäre im Raum veränderte sich, die Schwere hatte sich in Luft aufgelöst. Wir saßen einfach nebeneinander rum und die Stille fühlte sich irgendwie nicht mehr unangenehm an, auch wenn keiner so wirklich wusste, was er sagen sollte.
»Also«, begann Azad, »was haben wir heute noch so vor, abgesehen davon, dass wir hier rumsitzen und Löcher in die Luft starren?« Er grinste schelmisch und bemüht, die Stimmung etwas aufzulockern.
Ich lachte, froh über die lockere Stimmung, und ließ mich wieder ein bisschen ins Sofa sinken. »Erzähl mir ein bisschen mehr über mich«, schlug ich vor. »Ich will alles über dich wissen. Erzähl mir von jeder Leiche, die in deinem Keller liegt.«
»Wir haben gar keinen Keller«, lachte er und zog eine Augenbraue hoch. »Aber weißt du, was wir machen können, bevor ich dir alles erzähle?«, fragte er. »Lass uns in die Küche gehen. Ich mach uns ein paar Chicken Nuggets, oder so. Nur wenn du möchtest. Dann reden wir. Deal?«
»Deal«, stimmte ich mit ein, dabei schmunzelte ich. Hunger hatte ich nicht wirklich, doch vielleicht würde es mir guttun, mal einen anderen Raum in diesem Haus zu sehen.
»Aber nur, wenn du mir versprichst, nicht wegzurennen, wenn ich die ganz peinlichen Sachen auspacke. Vielleicht gibt es da doch die ein oder andere Sache, die du zu witzig finden wirst.«
»Hmmmmm ... ausnahmsweise«, scherzte ich. Wir stimmten in angenehmes Gelächter ein und wussten offenbar beide, dass der Abend trotz beidem noch nicht verloren war. Die Zeit war bereits vorangeschritten, war im Allgemeinen aber eine der letzten Dinge, an die ich dachte. Ich freute mich darauf, die Zeit mit Azad zu genießen.
Vielleicht war das hier der Beginn von etwas, das noch viel tiefer ging als nur die körperliche Anziehungskraft, die uns zunächst verbunden und dann wieder abgestoßen hatte.
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