35 | Azad.

NISAN

Du hüllst mich in die Klänge deines Atems und flüsterst leise in mein Ohr, dass ich nur dir gehöre. Dass du mich liebst. Alles, was wir sind, fühlt sich traumhaft an. Wie du mich in deinen Armen wiegst, deine Lippen auf meine Schläfen presst, meine Schulterblätter massierst. Wie ich Muster um die zarten Unreinheiten deiner Haut male, um die Geborgenheit so abstrakt wie möglich wiederzugeben. So einen schönen Moment hatten wir lange nicht mehr. Wir genießen ihn, gehen darin unter.

Stunden vergehen wie Minuten, Minuten wie Sekunden, während wir in einem Tanz der Zweisamkeit versinken und dein Becken immer wieder sanft auf meines stößt. Dein Lächeln spiegelt sich in meinen Augen und die Welt um uns verschwimmt zu einem romantischen Gemälde. Ich lausche deinen Worten, die mein Herz berühren. Spüre, wie tiefe Ruhe in mir einkehrt. Die Zeit verliert sämtliche Bedeutung. Wir sind nur noch zwei Seelen, die im sanften Mondschein miteinander verschmelzen.

Der Mond streift langsam über den Himmel, die Sterne bilden funkelnde Mosaikdächer über uns. Deine Finger gleiten über meine Haut; jede Berührung trägt ein Versprechen von Liebe und Vertrauen. Die Nacht wird zum Zeugen unserer Verbundenheit, und wir lassen uns von der Magie des Moments tragen, bis wir allmählich an unseren Höhepunkt gelangen.

Du bist aus der Puste und auch mein Atem überschlägt sich, erholt sich erst nach und nach. Nachdem sich deine Atemzüge normalisiert haben, steckst du dir die erste Kippe an. Irgendwie bist du immer noch derselbe wie früher. Aber anders, besser.

Der Rauch deiner Zigarette vermischt sich mit der nächtlichen Luft, und für einen Moment betrachten wir schweigend die aufsteigenden Schwaden. In dieser Stille liegt eine ungesagte Geschichte, eine Mischung aus Vergangenheit und Gegenwart. Du neigst den Kopf leicht zur Seite, als würdest du die Sterne selbst befragen, und ein Lächeln spielt um deine vollen Lippen. Es ist, als ob wir beide verstehen, dass das Leben uns geformt hat, aber die Essenz dessen, was zwischen uns liegt, unverändert bleibt. Die Nacht webt uns weiterhin in ihre mystische Atmosphäre. Die Zeit verstreicht im Bewusstsein, dass dieser Augenblick mehr ist als nur ein flüchtiger Traum.

Ich möchte nicht erwachen. Ich möchte nicht denselben ekligen und zwielichtigen Alltag erleben wie sonst auch. Aber an deiner Seite wirkt alles viel unbeschwerter.

Wenn ich mit dir bin, kann ich nicht verlieren.

• • •

»Morgen, Nisan«, riss mich Hilals raue Stimme aus dem Fiebertraum namens Wachwerden, während sie mir den nächsten Schuss Kaffee einschenkte. »War eine harte Nacht, hm?«, witzelte sie.

Da ich mir mit keiner adäquaten Antwort zu helfen wusste, entschloss ich mich, auf die gewohnt zynische Art ihres Bruders zu antworten: »Nervensäge. Musst du nicht zur Schule, oder so?«

Hilal lachte herzlich, schnürte flüchtig den pinken Bademantel zu und setzte sich mir gegenüber an den Küchentisch. Ihre dunkelblonden Locken fielen wild in ihr Gesicht, die Augen funkelten verschmitzt. »Schule ist so überbewertet«, erwiderte sie mit einem Augenzwinkern. »Ich bin unvorbereitet auf die Geschichtsklausur, weil ich kaum schlafen konnte. Daher bin ich mal krank.«

»Mal krank – kann mal passieren, hm?« Ihren trockenen Humor erwiderte ich mit zynischem Gelächter. Ich lehnte mich zurück und nahm einen Schluck des herben Kaffees, während sich der sich anbahnende Sonnenaufgang langsam in meinem Bewusstsein verankerte. »Warum schläfst du dann nicht?«, fragte ich neugierig, und sie grinste.

»Ich wollte einfach mal nach dir sehen«, sagte sie mit einem Zwinkern. »Und ich hab sowieso noch ein Geschenk für dich.«

Sie legte ein kleines Päckchen vor meine Nase und ich kam nicht umher, als mich lautstark zu freuen. Obwohl ich nicht wusste, was unter dem dicken, roten Geschenkpapier verborgen lag.

»Was ist das?«, fragte ich. Ich öffnete das Päckchen vorsichtig. Darin: ein handgeschriebener Brief, von Hilals verspielter Schrift geziert. Für meine beste Freundin Nisan. Unter dem Brief lag eine Tafel Schokolade und zwei Karten für eine Kunstausstellung, von der ich ihr einmal ganz beiläufig erzählt hatte.

»Damit du etwas Schönes in den Tag mitnimmst«, sagte Hilal, als sie mein überraschtes Gesicht bemerkte.

Ich lächelte dankbar. »Und? Begleitest du deine beste Freundin zur Kunstausstellung?«

Hilal verdrehte ihre Augen, da sie mit meiner Dankbarkeit nicht umgehen konnte. Error. Sie erwiderte: »Tzzzz, da gehe ich ja noch lieber zur Schule. Der Plan war, dass du mit Adnan dorthin gehst. Und erzähl mir jetzt lieber, wie es zwischen euch läuft. Bist ja doch nicht so unschuldig, wie ich dachte«, lachte sie.

Wir plauderten und lachten, ich genoss den Moment. Die Müdigkeit der Nacht verschwand, während ich ihr davon berichtete, wie die Beziehung mit ihrem Bruder aktuell lief. Dass wir die Spannungen der letzten Tage hinter uns gelassen und uns weiter angenähert hatten.

»Du tust ihm so gut«, schwärmte Hilal. »Er ist viel öfter zuhause, kümmert sich um die Familie. Er nervt auch wieder viel mehr. Alles deine Schuld.«

Mein Blick streifte ihren ab und zu, der sich allerdings durch ein unstörbares Lächeln ergänzte. Ihre Komplimente lösten Glücksgefühle in mir aus. Weiter vollquatschen wollte ich sie allerdings nicht, daher nutzte ich die Gelegenheit, um den Fokus auf sie zu lenken.

»Genug von mir«, schritt ich ein. »Was ist mit dir? Gibt es bei dir jemanden?«

Hilal zögerte, ihre Wimpern zitterten unsicher. »Oh, ähm ... nicht wirklich. Ich konzentriere mich gerade auf andere Dinge, du weißt schon.« Ihr Tonfall klang leicht defensiv, als versuchte sie, das Thema zu umgehen.

»Worauf? Auf die Schule?« Ich bemerkte Hilals Zögern und beschloss, ein bisschen behutsamer nachzuhaken. »Und mit wem schreibst du die ganze Zeit auf WhatsApp? Du kannst es mir ruhig sagen.«

Hilal seufzte, da ihre Verteidigung bröckelte. Somit ließ sie alles raus. »Er heißt Azad, ich kenn ihn aus der Schule. Naja, er ist echt hübsch. Er will sich später mit mir treffen, aber ich bin irgendwie schüchtern.« Ihre Worte klangen viel offenherziger, nachdem sie sich die Last von den Schultern geredet hatte.

  »Wovor hast du Angst?«, fragte ich. »Wenn er nett ist, krall ihn dir, bevor eine andere die Gelegenheit nutzt.«

Wir stimmten gleichzeitig in Gelächter ein, ehe Hilal nach den passenden Worten kramte. »Keine Ahnung ... ich hab einfach Angst, dass ich unreif wirke«, erklärte sie. »Er ist älter als ich, hat schon Beziehungen gehabt und weiß, wie es läuft. Ich bin unsicher, ob ich seinen Erwartungen gerecht werden könnte.«

»Aha, also hast du Interesse an ihm?«

»Sei leise!«, zischte Hilal. Ihr Ton wurde ruhiger. »Du weißt, wie das ist. Wenn meine Brüder davon mitbekommen, reißen sie mir den Kopf ab.«

»Deine Brüder arbeiten eh den ganzen Tag«, erwiderte ich. Ich konnte selbst kaum glauben, dass ich Hilal solche Ratschläge erteilte. »Soll ich dich begleiten?«

»Meinst du wirklich, dass das eine gute Idee ist?«

»Ich mache das gerne. Überleg's dir mal.« Mein Blick war bestimmt, aber einfühlsam. Als sei sie meine kleine Schwester, um die ich sorgen musste.

Nach einem Moment des Zögerns stimmte sie widerwillig zu. »Na gut, aber sei normal, ja?«, fragte sie. Dazu stellte sie erste Bedingungen auf. »Keine unangenehmen Fragen, kein schwesterhaftes Verhalten. Steh mir einfach bei.«

»Abgemacht«, beruhigte ich sie. Dann munterte ich sie in Form eines sanften Lächelns auf. »Lass uns weiterplanen. Wie wär's mit einem Café? Irgendwas Süßes.«

Hilal nickte und legte nachdenklich die Hand in ihren Nacken. Dann sprach sie: »Es gibt da ein, zwei Läden im Studentenviertel, die ich echt gut finde«, dann unterbrach sie kurz, um die beiden Orte auf Google rauszusuchen. »Hier, einmal Orient Lounge und dann... oh mein Gott, er ruft mich an. Was soll ich machen?«

Mein Schulterzucken schien ihr nicht weiterzuhelfen. »Wie wär's mit rangehen?«

Sie hob ab und erstarrte im selben Moment zu Eis. Die Hand wanderte auf ihre Brust, als erlitt sie gerade eine Herzattacke. Die Mundwinkel zog sie fest heran und presste die Zähne aufeinander, als Azad seine Stimme offenbarte: ›Hey, Hilal. Steht unser Treffen später noch?

Mit einer Antwort ließ sie sich reichlich Zeit. Ein riesengroßer Kloß steckte in ihrem Hals und raubte ihr jeden Ton. Sie musste nach Luft schnappen, um ihre Antwort auszudrücken. »Nein, also ich meine ... ja, tut es! Ist es dir recht, wenn ich eine Freundin mitnehme?«

Klar, wieso nicht?‹, antwortete Azad lässig. Dann herrschte einen Augenblick lang Stille. Im Hintergrund ertönte das Läuten der Schulglocke. Im Gegensatz zu Hilal schien Azad der Schulpflicht nachzukommen. ›Bist du schon drin? Oder kommst du heute nicht zur Schule?

»Ich schwänz heute«, murmelte sie sichtlich aufgeregt und mit piepsiger Stimme. »Ich hab die Klausur in Geschichte voll vergessen ... wenn ich die wieder verhaue, werde ich sitzen bleiben. Meine Mutter köpft mich. Und du?«

Scheiß auf Schule‹, lachte er. ›Ohne dich bockt Schule nicht. Ich gehe dann nach Hause. Wann und wo treffen wir uns später?

Auf Hilals dumpfes Lachen, mit dem sie Azads Schmeichelei beantwortete, folgte wieder ein Moment der Stille. Dann las Hilal Folgendes von ihrem Bildschirm ab: »Orient Lounge, weißt du, wo das ist? Lass uns doch da um sechs Uhr treffen.«

Machen wir. Ich freu mich auf dich!

Mit einer Mimik, die aussah als erlitt Hilal einen Herzinfarkt, gelang es ihr noch gerade so, sich das Lachen zu verkneifen. Sie schmunzelte dennoch und rief: »Ich freue mich auch auf dich! ... aber Azad ... sei nicht wie ich, bitte geh zur Schule.«

Hm ... na gut. Aber was soll ich jetzt ohne dich drei Stunden in Physik machen?‹, fragte er. ›Ich hab mich schon auf unsere Gespräche gefreut.

Hilals Wangen glühten. Nun konnte sie ihr Lachen nicht zurückhalten. »Das können wir ja später nachholen. Bis später!«

Alles klar, Hilal. Pass auf dich auf. Bis später!

Sie verabschiedeten sich und Hilal ließ ihr Handy auf den Tisch sinken. Sie Hilal zog die Augenbrauen in die Höhe und legte ihre Hände ins Gesicht. Dann gestand sie. »Okay, ich steh ein bisschen auf ihn. Was, wenn das alles zu schnell geht?«

»Deswegen komm ich doch mit«, erinnerte ich sie. »Das wird schon. Ich mache jetzt Frühstück und danach ruhst du dich noch ein bisschen aus. Soll ich für dich in der Schule anrufen und dich krankmelden?«

»Du machst uns alle wunschlos glücklich, Nisan.«

• • •

abends

Von der Hilal, die sich meist in Jogginghosen und weiten Sweatern gezeigt hatte, war nichts mehr übrig. Helle, makellose Locken fielen über die Schultern, während ihre schlanke Gestalt ihr eine Eleganz verlieh, die einen Kontrast zur vorherigen Erscheinung bildete. Eine Naturschönheit wie ihre Mutter.

Sie konnte selbst kaum das Lachen verkneifen, als sie ihren zierlichen Körper im Spiegel drehte und einen Blick auf das Outfit warf. Stramme Jeans in Overknees, die von einer weißen Bluse komplettiert wurden. »Denkst du, es wird ihm gefallen?«

»Und wie«, bestätigte ich. »Selbst im Pyjama.«

Sie antwortete mit biederem Grinsen. Dann neigte sie sich zum Schminktisch und öffnete ein hölzernes Schmuckkästchen. Mit geübten Handgriffen öffnete sie es und entschied sich für ein zartes Collier. Zusätzlich erfüllte sich der Raum mit der Note eines süßlichen Parfüms.

»Ich glaube, ich wär dann soweit«, sprach Hilal, während sie mich sanft in ihre Arme nahm. »Machen wir uns langsam auf den Weg?«

Ohne großes Zögern tauschten wir die warmen vier Wände gegen kalte Fassaden und belebte Straßen ein, welche sich mit Abendlicht füllten. Die Dämmerung färbte die Gassen in sanfte Orangetöne. Das war das letzte, worauf ich achtete, als wir in den nächsten Bus hüpften, nur um zwei Haltestellen später wieder auszusteigen und uns im Studentenviertel wiederzufinden.

Die Schritte mischten sich mit dem gedämpften Summen der Stadt. Neben dem Duft von Döner und frisch gebackenem Fladenbrot lag Hilals Vorfreude in der Luft. Der prächtige Vorbau der stadtbildprägenden Kathedrale näherte sich uns mit jedem Schritt, den wir uns durch die belebten Passagen quetschten.

Schließlich erreichten wir die schlichte Orient Lounge, vor dem ein großer Typ allein wartete. Er rauchte still vor sich hin und blickte auf sein Handy. Anstatt sich aufzuwärmen, hielt er in der Kälte Ausschau. Hilal stoppte und konnte die Spannung in der Luft fühlen. Mit bescheidenem Nicken signalisierte sie, dass das Azad war.

Ihre Blicke trafen sich und ein strahlendes Lächeln trat auf seine vollen Lippen, ehe er die Zigarette in einem Aschenbecher vernichtete und verlegen in die Runde schaute, als sei er gar kein Raucher. Überrascht rief er ihren Namen aus: »Hilal! Hey!«

Seine ernste Miene erhellte augenblicklich, als er sie wahrnahm. Die innige Umarmung, die er ihr schenkte, überraschte mich. Es schien, als würden sie schon länger miteinander reden, auch wenn sich ihr Kontakt bisher lediglich auf die Schule beschränkt hatte. Offenbar war Hilal ihm doch wohliger gesonnen, als sie vorhin zugeben wollte.

»Und du bist die Begleitung?«, fragte Azad höflich in meine Richtung, nachdem er sich aus der Umarmung gelöst hatte. Er streckte mir die Hand aus und sprach: »Ich bin Azad, freut mich.«

»Nisan, freut mich ebenfalls«, erwiderte ich und schlug in seine Hand ein. Schon sein etwas zu perfekter Handschlag rief irgendwas in mir hervor.

Irgendwas war komisch. Azad schien von Vergangenheit umweht und betrachtete mich, als ob er versuchte, eine Verbindung zu mir herzustellen. Die dunklen Augen musterten mich, als befände er sich auf der Suche nach Erinnerungen.

»Dich kenne ich irgendwoher.« Seine Stimme klang voller Erstaunen, als er mich eindringlicher musterte. Die Luft zwischen uns füllte sich mit Spannung und ließ mich selbst unbehaglich werden. Da war irgendwas, das spürte ich. Aber ich kam nicht drauf.

Ich erwiderte mit einem Anflug von Unsicherheit: »Ich hab dich noch nie gesehen.«

Azad runzelte die Stirn, als versuchte er, Zusammenhänge zu erkennen, doch zum Glück blieb die Vergangenheit ein undurchsichtiges Mysterium. »Hm, okay. Sorry, dann hab ich dich wohl verwechselt.«

Es war Hilal, die die Anspannung spürte und unsere Stimmung aufzulockern versuchte. Sie rieb sich die Hände und deutete auf das kleine Café, dessen Eingang wir blockierten. »Lasst uns mal reingehen, sonst erfrier ich.«

Als wir das Café betraten, umhüllte uns sofort wohlige Wärme. Der Innenraum war mit bequemen Stoffsofas in angenehmen Pastelltönen ausgestattet und bestach mit einem echten Kamin, der zart im Hintergrund knisterte. Obwohl an einigen Tischen Shisha geraucht wurde, lag ein Duft von frisch aufgebrühtem Schwarztee und Gebäck in der Luft. Hilal ließ sich auf dem gemütlichen Sofa nieder und lächelte erleichtert. »Viel besser«, sagte sie und streckte ihre Hände dem Feuer entgegen.

»Definitiv«, bejahte ich und ließ die Wärme des Kaminfeuers ebenfalls auf mich einwirken. »Ich brauch einen Tee, oder so«, murmelte ich, als ich mir die Menükarte genauer ansah. »Bestellen wir eine große Kanne? Bist du auch dabei, Azad?«

»Was? Ach so, ja ja«, stimmte er zu. Er schien mit seinen Gedanken nicht an Ort und Stelle zu sein, sondern verunsichert. Um uns nicht in der Stille leiden zu lassen, sprang er auf und deutete mit einer Kopfbewegung auf einen Bestelltresen. »Bleibt sitzen, ich gehe bestellen. Es gibt hier auch Baklava, wollt ihr?«

Hilal und ich tauschten einen kurzen Blick, nickten uns zu, worauf sie bescheiden zustimmte: »Baklava klingt gut!«

»Ja, gerne«, stimmte ich mit ein. Azad lächelte Hilal zu, meine Bitte nahm er neutraler entgegen. Er war noch immer damit beschäftigt, woher er mich kannte. Als er hinters Eck verschwunden war, warf Hilal mir einen verschmitzten Blick zu. Sie war verlegen und schmolz in seiner Gegenwart regelrecht dahin. »Süß, oder?«

»Ein richtiger Gentleman, hast mich nicht enttäuscht«, stimmte ich resigniert zu. Nett war Azad tatsächlich. »Ich bin gespannt, was er dir so zu erzählen hat.«

»Ich bin so aufgeregt, Nisan.« Hilal verschränkte die Arme vor ihrer Brust und starrte schmollend in das Kaminfeuer. »Was, wenn die Situation total angespannt ist? Ich weiß nicht, worüber ich mit ihm sprechen soll. In der Schule ist das ja total spontan, aber jetzt?«

»Bleib locker«, erwiderte ich, doch stoppte, als ich seine große Erscheinung auftauchen sah. Er setzte sich direkt neben sie und lächelte ihr gelassen zu. Zusammen sahen die beiden echt gut aus. Azad war genau der Typ Mann, der Hilals Geschmack traf.

Azad seufzte, dann legte er los: »Also, wo soll ich anfangen, Hilal...«, doch er kam nicht dazu, seinen Satz zu vervollständigen, da Hilal ihm in die Quere kam.

»Tut mir leid, dass ich dich unterbreche, aber ich muss echt kurz auf die Toilette«, quengelte sie mit den Händen auf dem Schritt und leicht schaukelnden Bewegungen. Azad nickte, ich hingegen lachte leise. In langsamen Bewegungen verschwand Hilal und ließ uns beide allein zurück.

Ich zählte die Sekunden, bis er sich mir zuwandte. Es waren bloß zwei oder drei Wimpernschläge. Dann seufzte er und sprach mich an. »Wieso verheimlichst du vor ihr, dass du mit meinem Cousin verheiratet bist?«, fragte er. »Warum tust du so, als ob du mich nicht kennst?«

Meine Hände wurden schweißnass. Mein Herz rutschte in meine Hose, der Puls stieg ins Unermessliche, während Azad auf meine Antworten gebannt wartete. Mit messerscharfen Blicken fixierte er mich, während meine Gedanken in Unordnung gerieten und ich Luft holen musste.

Ich rang nach Worten, gestand schließlich leise: »Es ist komplizierter als du denkst.« Seine Augen verlangten nach einer Erklärung. Ich begann, die Fäden in der Geschichte zwischen Salman und mir zu entwirren, in der Hoffnung, dass er es verstand. Die Zwangsheirat. Salmans Angriffe. Meine Flucht. Schließlich das mit mir und Adnan.

»Und jetzt bist du mit Hilals Bruder zusammen?«, fragte er. Die Überforderung stand tief in sein Gesicht geschrieben, er nippte benommen an seinem Tee. »Dass du noch in Köln bist, krass. Salman hat hier doch überall Leute. Die könnten einfach so in hier reinspazieren, weißt du das?«

Ich nickte, gab ihm recht. Dennoch beharrte ich auf der Aussage. »Wegrennen ist keine Option für mich. Lang genug habe ich mich vor deinem Cousin versteckt. Ich bin nicht unantastbar, nein, aber ich will keinem mehr das Gefühl geben, mich in der Hand zu haben. Weder meiner Familie noch Salman.«

  »Ich sehe es im Funkeln deiner Augen«, sprach er. »Du denkst, ich würde dich verraten, ha?«

  »Überzeug mich vom Gegenteil«, konterte ich. Zwar war ich noch immer recht nervös, doch versuchte, das Pokerface stets aufrechtzuerhalten. »Wie hoch ist das Risiko, dass du mich an deinen Cousin verrätst?«

  Auch Azad wurde nervöser. Er hatte nicht mit einer solchen Frage gerechnet, seine Fäuste ballten sich, um Halt zu gewinnen. »Das ist doch absurd, Nisan. Ich würde dich nie...«

Eine Gelegenheit, auszureden, ließ ich ihm nicht. Ich fuhr fort, um ihn in die Enge zu treiben. »Du lernst Hilal kennen, ihr trefft euch häufiger. Sie sagt dir, wo sie wohnt. Du bringst sie nach Hause. Was, wenn sie keine Lust mehr auf dich hat? Erfährt dann dein Cousin, wo wir wohnen? Plauderst du ihm dann alles aus?«

Azads Augen durchbohrten meine, während er um Fassung rang. Ein Moment des Schweigens hing zwischen uns. Nicht mal das Zwirbeln seiner schwarzen Barthaare konnte ihm die Nervosität nehmen. Schließlich antwortete er langsam: »Du verstehst mich falsch. Ich bin nicht wie mein Cousin. Denkst du, ich hätte sonst so gelassen reagiert?«

Seine Worte waren fest, der Unterton jedoch verriet eine gewisse Unsicherheit. Er wusste, dass Worte allein nicht ausreichten, um das Misstrauen zu besänftigen. Ich konnte sehen, wie sein Verstand nach Wegen suchte, um mich zu überzeugen.

»Vertrauen muss man sich verdienen«, erwiderte ich ruhig mit einem gewissen Nachdruck. »Hilals Familie hat mich aufgenommen, als ich vor Salman geflüchtet bin. Ich hatte Todesangst und wusste nicht wohin. Kannst du das verstehen?«

Meine Worte hallten in der kleinen Teestube wider und für einen Moment schien die Welt um uns herum still zu stehen. Ich blickte in seine dunklen Augen und erkannte die Aufrichtigkeit darin. Irgendetwas, das es mir um jeden Preis beweisen wollte. Vielleicht bestand wirklich eine Chance, dass Azad anders war und nicht die Werte seiner Familie teilte.

Obwohl es noch einiges zu sagen gab, kehrte Hilal alsbald an den Tisch zurück und unterbrach unser Gespräch. Sie rückte ihre weiße Bluse zurecht, während sie sich auf ihren Platz neben Azad setzte. »Die Typen an der Bar haben mich total angeglotzt. So viel zum Thema Respekt«, meckerte sie. Doch offenbar hatte sie die Spannung in der Luft mitgeschnitten. »Ist alles in Ordnung bei euch?«, fragte sie besorgt.

Azad und ich tauschten einen flüchtigen Blick aus, bevor ich antwortete: »Ja, alles in Ordnung. Ich hatte nur ein bisschen Kopfschmerzen bekommen.«

Sie zog skeptisch eine Augenbraue hoch und rief: »Warte, ich hab da was.« Mit der Hand wanderte sie in die cremeweiße Handtasche und zog eine kleine Blisterfolie hervor, in die eine Aspirin eingefasst war. »Hier, nimm die. Und zuhause ruhst du dich später am besten aus.«

Ich bedankte mich, nahm die bitter schmeckende Tablette kommentarlos zu mir. Währenddessen kam ich nicht davon ab, Azad weiterhin zu beobachten. Wie liebevoll und respektvoll er Hilal umgab, wie gewählt seine Worte waren. Immer wieder lachten sie zusammen, worauf reger Körperkontakt folgte. Ein Typ, dem man nichts anlasten konnte. Bis auf die Tatsache, dass in ihm potentielle Gefahr schlummerte.

  »Kann ich euch fünf Minuten alleine lassen?«, fragte ich schließlich, um mich aus dem Anblick zu lösen. Hilals sorgenvoller Blick blieb an mir haften, versuchte meine Miene zu lesen und mir irgendwie zuvorzukommen. »Ich geh kurz an die frische Luft, vielleicht wird's dann besser.«

  »Soll ich mitkommen?«, erkundigte Hilal sich, als sie nach ihrem Mantel griff.

  Meine Hand berührte ihre und ich schüttelte den Kopf. »Nein, bleib sitzen, ich komm gleich wieder.«

  Hilal nickte zögerlich. Sie sank wieder zurück aufs dunkelbraune Ledersofa. Erst das Glockenspiel über der Ausgangstür bedeutete Rettung für mich. Die kühle Abendluft erwartete mich mit ihren offenen Atem und ich atmete tief ein, um meine Nerven zu beruhigen. Ich ging ein paar Schritte auf und ab und dachte nach.

  Was soll ich jetzt tun? Abhauen?

  Nein. Abhauen war nicht angebracht. Nicht schon wieder. Ich konnte Hilal hier nicht mit ihm alleine lassen. Ich hatte ihr versprochen, für sie da zu sein. Obwohl Azad mich mit Sorgen erfüllte, versuchte ich, ruhig zu bleiben. Hätte er so besonnen reagiert, wenn er ein Tyrann wie sein Cousin wäre? Oder war vielleicht gerade das seine Taktik?

  Wie gern ich jetzt Adnans Schachtel Zigaretten bei mir gehabt hätte, um den Stress in meinen Venen abzubauen. Apropos Adnan. Mit Sicherheit hatte er schon Feierabend gemacht. Von Hilals Date hatte ich ihm gar nichts erzählt. Würde man mich nun entdecken, wüsste er gar nicht, wo ich mich befand, da ich ihm von Hilals Date gar nichts mitgeteilt hatte.

  Ich griff nach dem Handy und überprüfte es auf Benachrichtigungen, doch fand keine einzige vor. Also rief ich ihn selbst an. Hoffte, dass wenigstens seine Stimme mich ein bisschen beruhigen konnte.

  Er hob allerdings nicht ab; am Telefon erreichte ich bloß die Mailbox, was mich einerseits beruhigte, da er somit nicht mitbekommen hatte, dass wir uns in der Stadt aufhielten. Andererseits ... was sollte ich tun, was sollte ich bloß tun?

»Nisan, ist alles okay?«, riss Hilal mich aus dem gedanklichen Wirrwarr. Ich hatte nicht gemerkt, dass sie und Azad mittlerweile ebenfalls nach draußen gekommen waren, um nach mir zu sehen.

  Ich drehte mich zu ihr und gab ihr mit einem flüchtigen Nicken zu verstehen, dass alles in Ordnung war. Auch Azads Blick wirkte sorgenvoll, seine leeren Augen wichen mir allerdings aus, als er bemerkte, dass ich ihn für einen Moment musterte.

»Dein Bruder hat angerufen«, meinte ich. »Er ist auf dem Weg nach Hause. Ich will euer Treffen ungern stören, aber er klang wirklich gestresst. Ich glaube, wir sollten nach Hause gehen.«

  Und während ich hoffte, dass sie meine Lüge einfach nur schlucken würde, gingen ihre Augen zügig in Azads Richtung. »Oh man. Ich glaube, sie hat recht. Aber wir holen das nach, ja?«

  Nach zunächst neutraler Stille lächelte Azad breit durch den Bart und lachte. »Wie könnte ich auf dich sauer sein?« Er näherte sich Hilal und deutete eine kleine Umarmung an. »Dann lass dich wenigstens kurz umarmen, hm?«

  Sie stimmte sofort ein und genoss seine Nähe. Irgendwie fühlte ich mich schuldig, dass ich nun ihr Date versaut hatte. Für mich gab es keine andere Wahl, ich war dazu gezwungen, auf dieses flaue Gefühl in meinem Magen hören, welches Azad als gefährlichen Typen ausmachte. Seine dunklen Augen, die mich gebannt anstarrten, glitzerten über Hilals Kopf hervor wie die Augen einer Raubkatze. Am liebsten hätte er mich mitsamt Haar und Knochen aufgefressen. Er wusste, was ich getan hatte, und es passte ihm gar nicht.

  Ich zog die Augenbrauen hoch, nickte ihm flüchtig zu, sodass er den Blick von mir abließ und sich kurze Zeit später auch von Hilal löste. Dann fragte er: »Soll ich euch fahren? Vielleicht seid ihr dann zuhause, bevor dein Bruder auftaucht.«

  »Lieber nicht«, intervenierte Hilal zu meiner Überraschung.

  »Fährst du nicht gerne mit mir?«, lachte Azad und stieß ihr sanft, aber neckend in die Seite. »Hab doch keine Angst, Hilal.«

  Sie erwiderte seinen Stoß und lachte heiter. »Angst davor, dass dein Auto liegen bleibt, oder was?« Ich stimmte widerwillig ins Schmunzeln mit ein. Beeilt euch endlich, ihr Turteltauben. »Wenn Adnan ein fremdes Auto sieht, gibt's Ärger. Wir sollten lieber den Bus nehmen.«

  »Da hat sie allerdings recht«, meinte ich.

  Azads Lächeln erlosch, seine Augen verengten sich. Da lag wieder diese Spannung in der Luft, die sich wie ein unsichtbares Seil um uns alle legte und noch enger zusammenzog. Er schien zu überlegen, ob es nun wirklich dabei belassen sollte. Doch letztlich zuckte er mit den Schultern, als hätte er entschieden, dass es für ihn okay sei.

  »Wir sehen uns dann morgen, ja?«, rief Hilal. »Also falls ich zur Schule kommen sollte.«

  »Ich hoffe doch!« Breites Grinsen, tiefe Grübchen. »Ich halt's nicht noch einen Tag ohne dich dort aus. Bis morgen, Hilal.«

  »Bis morgen«, erwiderte sie mit einem Grinsen, was Azads Zeichen war, sich wieder ins Café zu begeben. Schließlich musste er für gefühlte zehn Liter Tee und eine Tonne Baklava bezahlen, die wir aufgrund meiner Aktionen nicht verzehrt hatten.

  Mehr oder weniger schweigend schlenderten wir im vorangeschrittenen Sonnenuntergang zurück zur Bushaltestelle. Allmählich legte sich die Nacht auf die Straßen; nur das leise Brummen der Fußgänger und Dieselmotoren durchbrach die Stille, die sich zwischen uns befand. Ich war froh, dass Hilal nichts weiter sagte, denn in mir tobte ein Sturm aus Fragen und unbestimmten Ängsten.

  Hatte ich das Richtige getan? War es korrekt, überhaupt zuzulassen, dass sie sich mit Azad trifft? Was würde jetzt passieren?

  Als wir endlich im Bus saßen und die blassgrauen Fassaden der Innenstadt an uns vorbeizogen, lehnte sich Hilal an mich und schloss ihre Augen. Sie sah so friedlich aus, als wäre es wirklich keine große Sache. Azad würde sie in der Schule jederzeit wiedersehen können. Was mich betraf, wusste ich nun wirklich nicht, wie ich Azad einschätzen sollte. Ob ich ihm glauben sollte, dass er ein anständiger Typ war, oder ob er wie der Rest seiner Familie Dreck am stecken hatte.

  »Du bist aber nicht sauer, oder?«, unterbrach ich die Stille zwischen uns dann schließlich doch.

  Ihre Augen öffneten sich augenblicklich, sie nahm ein wenig Distanz auf, um den Blickkontakt wieder aufzunehmen. Sie blinzelte und richtete sich, bevor sie mich wieder ansah. »Sauer? Warum?«

  »Naja, dass du die Zeit mit Azad nicht sinnvoll nutzen konntest.«

  Nachdem sie kurz überlegte, schüttelte sie ihren Kopf. »Er rennt mir doch nicht weg. Ich sehe ihn in der Schule jeden Tag«, meinte sie.

  »Wenn du zur Schule gehst«, korrigierte ich.

  »Genau«, stimmte Hilal mit ein. »Ich bin gespannt, was das mit ihm und mir wird. Glaubst du, er meint es ernst mit mir?«

  Am liebsten hätte ich gesagt: Abgesehen davon, dass Azad mit Salman verwandt ist, hatte er sich ganz ruhig und höflich verhalten. Für einen jungen Mann, der gerade mal zwanzig war, war er wirklich sehr ruhig. Vielleicht sogar ein bisschen zu ruhig. Gut gekleidet, hervorragende Manieren.

  »Stille Wässer sind tief«, sprach ich distanziert, um nicht allzu sehr den Anschein zu erwecken, dass es ein Problem gab. »Ich fand Azad wirklich nett. Aber wenn du wissen willst, wie er ist, musst du ihn besser kennenlernen. Bis du irgendwann sicher sein kannst, dass es keinen Haken gibt.«

  »Wahrscheinlich hast du recht.«

  Der Haken war Azad selbst.

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