32 | Segen und Fluch. (2/2)
KAAN
Ich saß bereits im Auto, als Layla mich anrief. Da mein Körper noch immer vor Wut zitterte und ich mir sehr viel Mühe geben musste, das Auto in keine Leitplanke zu setzen, ging ich nicht ran, sondern ließ einfach klingeln. Falls sie nach Hause wollte, müsste sie mit der Bahn fahren oder eine ihrer Freundinnen anrufen. Ich hatte gerade ein anderes Problem.
Wenn ich Pech hatte, war mein Vater mit Elif bereits über alle Berge. Dann müsste ich nach Köln fahren und es würde Mord und Totschlag geben. Aber wenn ich Glück hatte, befanden sie sich in der besagten Eisdiele und waren noch nicht allzu weit gekommen. Ich hoffte es so sehr. Hoffte, dass ich Elif bei mir haben konnte, bevor Layla mitbekam, dass unser gemeinsames Kind unerlaubt mitgenommen wurde.
Nach ein paar Minuten erreichte ich das nächste Dorf und ordnete mich in dessen Mitte ein, die nach Marktplatz aussah, in einen der Parkplätze ein. Ausgerechnet heute fand hier ein Wochenmarkt statt. Auf diesem wurde von Obst und Gemüse bis hin zu Kleidung und Haushaltsartikeln alles verkauft. Es war die Hölle los und die Suche nach einem freien Parkplatz gestaltete sich schwieriger als zunächst angenommen.
Ich achtete auf besondere Fahrzeuge. Mein Vater ließ sich gerne in Jeeps rumkutschieren, daher achtete ich auf sperrige Fahrzeuge. Davon war allerdings keine Spur, somit setzte ich meine Suche nach der Eisdiele fort und drängte mich mühsam an den kleineren Ansammlungen von Menschen vorbei, die sich am Markt tummelten, bis ich schließlich vor einer kleinen Eisdiele stand, die nicht mehr als eine Handvoll Tische innen und außen vereinte.
Doch sowohl drin, als auch draußen konnte ich weit und breit nichts von Elif in Begleitung eines alten Greises erkennen. Ich suchte die Umgebung noch einige Male nach ihren auffälligen, braunen Locken ab und entschloss mich dann dazu, an der Kasse bei den Bedienungen nachzufragen.
»Hallo ... ich weiß nicht, wie ich anfangen soll«, stammelte ich, während die Bedienung ihrem Gesichtsausdruck nach zu urteilen große Mühe hatte, Deutsch zu verstehen. Italiener oder so. »ich bin auf der Suche nach meiner Tochter. Sie ist vier Jahre alt und wurde von einem Mann entführt. Haben Sie zufällig gesehen?«
Der alte Mann, in dessen Gesicht altersbedingt bereits die Falten geschlichen waren, dachte eine Sekunde nach. »Diese Mann«, begann er, »kurze Haar, Anzug? Kleines Mädchen mit Locke? Ich weiß noch ihren Namen, ehm ... Alice, oder was?«
»Elif vielleicht?«, korrigierte ich voll Hoffnung.
Er rief laut auf. »Aaach, stimmt! Elif!«
Dann verschwand er kurzzeitig vom Tresen und verließ das gemütliche Eiscafé durch eine Art Terrassentür. Wenige Augenblicke später kam er wieder und deutete nach draußen. »Tochter sitzt dort!«
Mein Puls stieg wieder. Ich bemerkte, dass ich ein wenig zu schwitzen angefangen hatte. Die Aktion meines Vaters bedeutete einiges an Aufregung für mich. Wenn Elif nicht dabei wäre, wusste ich, würde ich meinem Vater den Arsch aufreißen. Da war es mir auch ganz egal, ob ich ihn mal als Familie bezeichnet hatte.
Ich bedankte mich und betrat die Terrasse. Ich hätte Vater in Begleitung von mindestens zwei breit gebauten Kerlen erwartet, fand ihn zur Überraschung jedoch ganz alleine vor. Wenn er allein war, bedeutete das meist, dass er irgendwas von mir wollte.
»Elif!«, machte ich auf mich aufmerksam. Ich spurtete an den Tisch und unterbrach sie beim Essen. Mit strahlenden Augen raste die Kleine auf mich zu, erwiderte mein Rufen mit einem entzückten „Babiii!« und fiel mir in die Arme.
Ihren kindlichen Duft sog ich regelrecht in mich ein. Ich striff mit den Fingern sanft durch ihre dicken Locken, um zu realisieren, dass ich sie tatsächlich in meinen Armen hielt.
Ich begutachtete ihren Mund, der mit einer dünnen Schicht Schokoladeneis umrandet war. »Anscheinend hattest du heute Eis zum Mittag, hm?«, meinte ich. Meine Hand ging auf die Serviette neben ihrer Eisschale, womit ich das Eis sanft aus ihrem Gesicht wischte. »Hoffen wir mal, dass du später keine Bauchschmerzen kriegst.«
Fast schon hatte ich vergessen, dass da noch jemand war, der auf mich gewartet hatte. Mein Vater, der mich mit seinen giftigen und grünen Schlangenaugen nahezu anstarrte und dieses penetrante Grinsen in den Mundwinkeln hielt. Die Geheimratsecken in seiner Stirngegend waren noch stärker vorangeschritten als vor ein paar Monaten, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte. Ansonsten wirkte er recht gepflegt und machte einen ausgeruhten, gar gelassenen Eindruck auf mich.
Am liebsten hätte ich ihm sämtliche Zähne aus der Fresse geprügelt für den Schrecken, den er mir eingejagt hatte. Ich hasste meinen Vater; es gab da nicht mal Worte für. Doch im Moment konnte ich ihn nicht zusammenstauchen, da sich meine Tochter zwischen uns befand. Und wie soll man vor einem kleinen Kind streiten, ohne dass es das mitbekommt und im schlimmsten Fall irgendwelche Worte aufschnappt?
»Du hast ja gar nicht Bescheid gesagt, dass du Elif heute vom Kindergarten abholst«, erwähnte ich die Wahrheit mit zynischem Unterton, ohne meinen Vater wirklich zu begrüßen. Ich klang wahrscheinlich immer noch viel zu anständig.
Er schmunzelte. Dabei musste ich ihn nicht mal direkt ansehen; das Knirschen seiner gebleichten Zähne reichte schon. »Wo du geboren bist, ist es normal, dass Kinder Zeit mit den Großeltern verbringen, oğlum.« Was folgte, war ein kurzes Nippen an seinem Espresso. »Ist doch schön, wenn man sich dann zufällig begegnet.«
»Und was willst du wirklich von mir?«, fragte ich ihn kalt.
»Babi, mein Eis smilzt!«, unterbrach Elif das kurze Gespräch und startete einen Versuch, sich aus meinen Armen zu winden. Ich ließ sie, wenn auch nur äußerst widerwillig, runter, womit klar wurde, dass ich mich zur Runde gesellen und zu meinem Vater an den Tisch rücken musste.
Elifs Schale war noch zu drei Vierteln gefüllt. Was bedeutete, dass wir uns hier noch ein wenig länger aufhalten würden. Meinen Blick ließ ich allerdings nicht auch nur eine Sekunde in Vaters Richtung wandern. Wir redeten, während Elif aß, auch nicht miteinander. Dennoch spürte ich seine kalten Augen auf meiner Haut. Wie sich das gehässige, sich übergeordnet fühlende Wesen an mir ergötzte, der einfach nur nach Hause und keinen Kontakt zu seiner Familie haben wollte.
Dann konnte ich es mir aber doch nicht nehmen lassen, auf ihn zu reagieren. »Hab ich was im Gesicht, oder was guckst du so?«, fragte ich. »Und sag mir endlich, was Sache ist. Wieso musste ich in eine Eisdiele kommen, um dir zu begegnen?«
»Auf meine Anrufe reagierst du nicht«, sprach er. »Und Salman, dieser Versager, konnte dich nicht überzeugen. Also musste ich ran. Du weißt, in welcher Situation sich unsere Familie befindet, oder?«
»Unsere Familie«, wiederholte ich schnippisch. Zuckte dabei unbeeindruckt mit den Schultern. Es war mir egal; von mir aus konnte die ganze Sippe untergehen, wenn das eine bessere Welt bedeutete und ich mit Layla und Elif in Ruhe weiterleben konnte.
Auf seine Worte ging ich nicht näher ein. Tat so, als hätte er nichts gesagt und unterhielt mich stattdessen mit meiner Tochter. Erkundigte mich, wie ihr Tag im Kindergarten verlaufen war.
»Seit wann bist du so kalt, oğlum?«, fragte er. Meine Ignoranz missfiel ihm. »Ich bin mir sicher, dass das von dieser Kurdin kommt. Sie tut dir nicht gut.«
»Layla tut mir nicht gut, sagst du?«, fragte ich. »Im Gegensatz zu euch hat sie mich nie an meinem Glück gehindert.«
Vater lachte bloß. Er wischte sich mit der Serviette die Oberlippe ab, auf der noch ein feiner Satz Espresso lag. »Zieh endlich die rosarote Brille ab. Seit du mit ihr verheiratet bist, bist du ein anderer Mensch geworden. Du meldest dich nicht und zeigst dich vor allem nicht hilfsbereit. Ganz schön undankbar im Gegenzug dazu, was ich dir alles ermöglicht habe.«
»Du hast mir gar nichts ermöglicht«, fiel ich ihm ins Wort. »Ich musste gehen, weil ihr mich zerstört hättet. Layla hat zu immer mir gehalten. Sie ist meine Familie. Aber ein Bewusstsein für Familie besitzt du eben nicht. Du hast deine Tochter verkauft und jagst sie nun quer durch die Stadt, obwohl sie jedes Recht dazu hatte, abzuhauen. Da mache ich nicht mit. Egal, was du jetzt mit mir anstellst, weil ich nicht nach deiner Pfeife tanze. Lass mich ruhig entführen oder erschießen. Aber meine Frau und mein Kind hältst du aus der Sache gefälligst raus. Sonst lernst du mich richtig kennen.«
Nach dem letzten Satz überkam eine unangenehme Stille den Saal. Die Bedienung, die ab und zu nach dem rechten sah und auf unseren Tisch zusteuerte, kehrte prompt um, als sie den Stress witterte, der in der Luft lag. Meine Aussage schien Vater zu beschäftigen. Er lehnte sich im Stuhl weit zurück. Die Hände hinter den Kopf faltete er hinter dem Kopf zusammen und überschlug die Beine, um nachzudenken.
»Wenn du das so siehst, Sohn«, tat er meine Äußerung ab, rieb sich das Gesicht. »Ich bin ein schlechter Vater, der fiese Dinge angestellt hat. Ich weiß das. Aber Kaan, Junge ... ich brauche dich, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Dann kannst du wieder zurückkommen. Deine Frau werde ich auch herzlich willkommen heißen.«
Das Problem.
Wie konnte ich auch so naiv sein, zu glauben, dass sich der Typ ernsthaft Gedanken über meine Worte macht? Ernsthaft, mir blieb die Spucke weg. Seine Aussagen waren wie ein Schlag mit der geballten Faust – mitten ins Gesicht. Zweimal, dreimal, immer wieder.
Ich lief rot an, ballte die Fäuste. Der Puls stieg. Ruhig, Kaan, dachte ich. Er will nur mit dir spielen. Er will nur, dass du dich aufregst.
Am liebsten wäre ich nun auf ihn losgegangen. Ich sah mich bereits, wie ich ihn über alle Tische und Bänke prügelte, um all die aufgestauten, negativen Emotionen rauszulassen. Doch das konnte ich neben Elif, die von alledem noch nichts verstand, unmöglich tun. Mir bot sich keine andere Möglichkeit, als das Gespräch nun zu beenden. Ich fragte mich, warum ich mich überhaupt darauf eingelassen hatte und nicht sofort abgehauen war.
»Elif, wir fahren nach Hause«, erwähnte ich beiläufig und windete mich fluchtartig aus meinem Stuhl. Elif zeigte sich, obwohl sie nicht begeistert darüber war, ihren Eisbecher zurückzulassen, bereit, mit mir mitzukommen. Ich war froh, dass sie mir keine Widerworte gab.
Sie streckte ihre Arme wortlos aus, damit ich sie in meine Arme heben konnte. Ihre Augen wirkten müde, was bedeutete, dass sie ihren Mittagsschlaf mal wieder ausgelassen hatte. Im Auto würde sie schlafen und danach wahrscheinlich – hoffentlich alles wieder vergessen haben.
Vater stand ebenfalls auf, wirkte nicht begeistert. Er seufzte und stellte seinen Stuhl ran. »Genau. Tu das, was du dein ganzes Leben schon so gut konntest. Flieh. Hau ruhig ab. Du wirst sehen, was du davon hast, wenn dich deine kurdische Nutte irgendwann in den Boden rammt und dir alles wegnimmt. So sind sie eben, die Kurden.«
»Deine gerechte Strafe bekommst du noch«, knurrte ich, bevor ich ihn zurückließ und mich durch die mit Zierpflanzen bedeckten Gänge des Eiscafés windete. Auf dem Parkplatz angekommen, packte ich Elif, die Sekundenschnell in meinen Armen eingeschlafen war, in ihren Kindersitz, bevor ich mir eine Zigarette ansteckte, um mir über das Geschehene ein paar Gedanken zu machen.
Ich hatte in diesen Sekunden fest beschlossen, dass es das letzte Mal gewesen war, dass ich meinem Vater begegnet war. Ich hätte meine Tochter direkt von ihm fernhalten und mich verpissen sollen. Jedes Aufeinandertreffen mit meinem Vater war mir folgende Lehre: Von Menschen wie ihm hält man sich fern.
• • •
Ich weckte Elif nicht, als wir nach zwanzigminütiger Fahrt zuhause ankamen und ich sie in ihr Kinderbett legte. Zu meinem Glück schlief sie meist tief und fest, sodass ich oft vermutete, dass nicht mal das schlimmste Erdbeben, nicht mal der stürmischste Orkan sie aufwecken konnte. Ich hatte mich immer gewundert, wie ein so energiereiches Kind so viel schlafen konnte. Als Kind war ich nicht besser gewesen. Heutzutage arbeitete ich zu viel, um mir mal Schlaf zu gönnen.
Ich wanderte ins Wohnzimmer und ließ mich auf den Massagesessel in der Ecke des Raumes sinken. Ein eindringliches Gefühl Erleichterung breitete sich in meinem Inneren aus. Das Gefühl, alles geregelt und meine Familie vor einer Menge Stress bewahrt zu haben. Was konnte mir mein Vater schon? Es wäre viel zu auffällig gewesen, wenn er oder Salman mich aus dem Verkehr gezogen hätten, weil ich ihnen auf der Suche nach meiner Schwester half.
Allein der Gedanke, dass man Nisan verfolgte und tot sehen wollte, weil sie ein freies Leben anstrebte, ließ mich bitter aufstoßen. Ich hoffte, dass es ihr gut ging, wo auch immer sie war. Falls sie überhaupt noch in Deutschland war und nicht in Paris, oder so. Nisan liebte Paris. Da wollte sie schon immer hin. Wahrscheinlich lebte sie nun dort und nannte sich Michelle, trug eine Baskenmütze. Trank Moët und aß Baguette oder irgendwas anderes Französisches. Sie würde sich pausenlos Kunstausstellungen ansehen und vom Louvre schwärmen. Wie sie es machte, sie machte schon das Beste aus ihrem Leben, da war ich mir ganz sicher. Und irgendwann würden wir uns wiedersehen und über unsere guten Zeiten als Geschwister sprechen.
»Schatz? Ich bin zuhause!«, tönte es aus der Richtung der Haustür. Ich warf einen Blick auf die Uhr. Viertel vor drei. Dass sie schon hier war, wunderte mich ein wenig. Schließlich dauerte ein Vorstellungsgespräch und die Fahrt zurück eine Weile. Vor vier, fünf Uhr hatte ich sie nicht erwartet. Aber das war okay. Wir verbrachten nicht allzu viel Zeit miteinander, da ich oft arbeitete und sie sich um Elif und den Haushalt kümmerte. Ich freute mich über ihre Ankunft.
Sie schleppte einen Haufen Einkaufstüten und dazu noch einen Sixer Mineralwasser mit sich herum. Ich nahm ihr einige Sachen ab. Wir brachten die Sachen gemeinsam in die geräumige Küche. »Warum hast du nicht angerufen? Jetzt musstest du das alles rumtragen.«
Layla wirkte, obwohl sie sichtbar erschöpft aussah, recht heiter. Sie nahm sie meinen Anstoß noch recht gelassen. »Ich wusste ja nicht, dass du schon zuhause bist. Schläft Elif? Sie hat sich bestimmt gefreut, dass du sie ausnahmsweise auch mal abgeholt hast.«
»Ja, ich hab sie vorhin ins Bett gebracht«, bestätigte ich, ohne auf den Rest einzugehen. »Jetzt raus mit der Sprache. Wirst du künftig Kölns schönste Doktorin sein?«
Sie lachte verlegen und schubste mich sanft. Dabei stieg ihr die Röte in die Wangen – das würde man bei ihr selbst durch die dicksten Schichten Schminke erkennen.
»Die Konkurrenz war riesig. Da saßen bestimmt zehn andere noch rum«, meinte sie. »Das Übliche halt. Sie waren überrascht, dass ich Mutter bin. Haben mich gefragt, ob ich damit überhaupt die nötige zeitliche Flexibilität mitbringe.«
»Schaffst du locker«, wendete ich ein. »Zur Not holen wir deine Mutter ins Boot, die passt bestimmt gern auf, nachmittags ab und zu ... so klein ist unser Mädchen ja nicht mehr.«
»Einen Mann hätten sie das bestimmt nicht gefragt«, steigerte Layla sich hinein. Sie griff nach zwei Gläsern im Schrank, stellte mir auch eines hin und goss beide bis zur Mitte voll. Ihr eigenes trank sie sofort leer. »Ich saß in Vorlesungen, als ich mit Elif hochschwanger war. Da hinten«, sie deutete auf eine Urkunde an der Wand im Wohnzimmer, die man durch die Durchreiche erkannte, »da hinten ... ich habe das Studium mit Auszeichnung bestanden. Aber natürlich werde ich jetzt Schwierigkeiten haben, zeitlich flexibel zu sein – ist klar.«
»Warte einfach mal ab, Layla«, versuchte ich sie zu beruhigen. Ich nippte an meinem Glas. »Allah gibt jedem Menschen das Richtige zur rechten Zeit. Der Moment kommt, in dem man dich würdigt, ich verspreche es dir. Und vielleicht hast du diesmal Glück und kriegst die Stelle.«
»Inshallah«, flüsterte sie. Dann ging ihr Blick auf die Küchentür, die sich sanft aufschob. »Guck mal, wer da ist!«
Elif hatte sich aus ihrem Kinderbett bis hinunter in die Küche geschlichen. Das war keine Seltenheit – sie war manchmal so hyperaktiv, dass sie regelmäßig auf ihren Mittagsschlaf verzichtete. Sie versteckte sich hinter den großen Einkaufstüten und lachte, sobald wir sie mit unseren Blicken erwischten.
»Mamiii«, kreischte Elif und stürmte auf Layla zu, die sie mit offenen Armen empfing und anschließend durch die Luft wirbelte.
»Hi, mein Schatz«, rief Layla in einem ähnlich hohen Ton. »Wie war's im Kindergarten? Hast du dich mit Larissa vertragen?« Es tat gut, zu sehen, wie friedfertig Layla durch Elifs wilden Locken fuhr. Wie sie sich durch die Nähe unserer Tochter beruhigte und es ihr ein stolzes Lächeln ins Gesicht zauberte.
Elif nickte. »Wir sind wieder Freundinnen«, verlautbarte sie munter, während sie an Laylas Kopftuch herumspielte.
»Hast du auch gegessen?«, fragte Layla.
Da rutschte mir das Herz in die Hose. Mein Gesicht begann zu glühen und ich starrte ins Leere. Ich hoffte, dass Elif ihr nicht erzählte, dass ihr Großvater sie aus dem Kindergarten gekidnappt hatte, um sie in eine Eisdiele zu schleppen. Dabei würde das Eis noch das kleinste Problem sein, wenn Layla davon erfuhr, dass Behçet sie ohne Absprache mitgenommen hatte.
Elif führte aus, dass es im Kindergarten zum Mittag eine Kürbissuppe gegeben hatte. Sie erwähnte nicht mal, dass mein Vater sie vom Kindergarten abgeholt hatte. Die Furcht darüber saß noch immer in meinen Knochen und ich wurde sie nicht los. Ich folgte dem Gespräch weiterhin gespannt, während ich die restlichen Einkäufe in die Schränke und Schubladen räumte.
Irgendwann würde Elif die Wahrheit fallen lassen. Sie wusste ja schließlich gar nicht, dass ihr Großvater ein Ganove war und wir alle Jahre unser Bestes gegeben hatten, dass er ihr nicht unter die Augen tritt. Sie war nur ein Kind und Kinder waren eben ehrlich. Und so würde auch Elif irgendwann ehrlich sein. Etwa fragen, wann sie ihren Großvater nochmal wiedersieht, oder so. Oder eben den fragwürdigen Ausflug in die Eisdiele erwähnen. Und dann würde Layla mich einen Kopf kürzer machen. Sie war sehr streng und temperamentvoll, wenn es um den Umgang ihrer Tochter ging.
Als es schließlich nichts mehr zum Einräumen gab, widmete ich mich den beiden wieder. Elif kritzelte einige schräge, aber erkennbare Buchstaben auf ein Blatt Papier und demonstrierte diese ihrer Mutter. Elif ließ Layla dasselbe ausführen. Sie lachten und alberten währenddessen viel herum. Ein Glück, dass das Thema Kindergarten so schnell vorübergegangen war.
»Kaan, sieh mal!«, rief Layla mich an den Tisch herbei. »Elif kann fast ihren Namen schreiben. Sie ist erst drei. Mashallah«, staunte sie. Ich lächelte und erwiderte die Begeisterung. Layla fuhr fort. »Hast du das deinem Vater nicht gezeigt, als er dich vom Kindergarten abgeholt hat?«
Ich hatte mich wohl vorhin zu früh gefreut. Kaum hatte ich ihnen den Rücken wieder zugedreht, ließ Elif schließlich die Bombe platzen. »Babi hat mich nicht geholt«, stammelte sie neutral.
»Nicht? Wer dann?«
»Opa.«
Ein Aufblitzen in Laylas Augen verdeutlichte mir, dass sie haargenau verstand, was Elif meinte. Ihr eigener Vater war noch vor Elifs Geburt verstorben und unsere Großeltern lebten in der Heimat. Elif konnte keinen anderen Opa gemeint haben, da sie - seit heute - nur den einen kannte. Und das war Behçet. So sehr ich gehofft hatte, dass Elif ihr Schweigen bewahrt, umso mehr wurde mir bewusst, dass ich mich auf einen Konflikt mit meiner Frau einstellen musste.
Das Kopftuch fiel, als sie fassungslos das Gesicht in ihren Handflächen vergrub. Sie seufzte enttäuscht auf und schüttelte den Kopf. Ihre Hoffnung auf Frieden war zerstört. Wir hatten uns dieses Szenario damals schon so oft ausgemalt. Was passieren würde, sobald meine Familie von unserem Wohnort erfuhr. Wenn sie wüssten, wie gut es uns abseits ging und wie wenig wir von ihnen abhängig waren - nämlich gar nicht.
»Er hat sie einfach mitgenommen«, versuchte ich, ihr die erschreckende Geschichte irgendwie begreifbar zu machen, doch ich merkte, dass das keinen Sinn machte. »Layla, vallah, ich wusste nicht, dass das passiert. Ich kam im Kindergarten an und Elif war weg. Sie haben sie ihm einfach mitgegeben. Ich war außer mir.«
»Kaan«, tönte ihre Stille zerbrechlich in die klamme Stille zwischen uns dreien. Sie atmete lauter und wurde hysterisch. »Wieso hast du nicht sofort angerufen? Du hättest mich sofort anrufen sollen!«
»Nein«, sprach ich. »Ich wollte nicht, dass du dir Sorgen machst. Wenn ich dich angerufen hätte, wärst du außer dir gewesen. Ich wollte nicht. Ich musste das alleine klären, weil du sonst ... es wäre sonst bestimmt eskaliert, oder so.«
»Willst du mir etwa sagen, dass solche Situationen wegen mir eskalieren? Tut mir leid, dass es mir nicht egal ist, wenn unsere Tochter von einem Irren entführt wird – im Gegensatz zu dir!«
Mein Kopf glühte. Es stresste mich extrem, wie laut sie mit mir redete. Wie wenig sie offenbar schätzte, dass ich unsere Tochter geschützt und unsere Familie aus dem Disaster hinausgeführt hatte. Dennoch setzte ich mich so ruhig wie möglich an den Tisch, nahm kurz Luft und sprach: »Ich streite vor unserer Tochter jetzt nicht mit dir, Layla. Du bist gereizt wegen deinem Gespräch und verstehst mich falsch. Ich habe getan, was getan werden musste. Fertig.«
»Also habe ich da kein Wörtchen mitzureden?«, zischte sie erneut, nachdem ich eigentlich fertig war. »Willst du das etwa sagen?«
Dann platzte mir der Kragen. »Nein, will ich nicht!«, brüllte ich. »Elif ist auch meine Tochter! Und ich habe heute Mittag mein Bestes gegeben, um sie zu schützen! Also geh mir aus dem Weg, wenn du nur meckern kannst und dir was darauf einbildest, dass du tausend Jahre studiert hast!«
Sie zuckte erschrocken zurück und drückte Elif an sich, da Letztere anfing zu weinen. Der Grund, warum ich vor Elif nicht streiten wollte. In solchen Momenten hasste ich Layla. Wieder mal war ich vor unserem Kind nun der Böse, den man fürchten musste, und sie selbst der Engel.
Ich rieb mir das Gesicht und erhob mich. So gern ich den Raum auch verlassen wollte, und dies auch fast getan hätte, es fühlte sich falsch und unaufrichtig an. Ein wenig schuldig fühlte ich mich schon. Daher setzte ich mich zu den beiden auf die Bank und legte den Arm um meine Frau.
»Ich habe doch alles geklärt. Behçet wird unsere Kleine nie wiedersehen«, flüsterte ich in Laylas Ohr, als ich wieder runtergekommen war. Doch mit Elif im Schlepptau, selbst den Tränen nahe, sprang sie auf und lief in Richtung Tür.
»Mir egal, Kaan. Für heute lässt du uns beide in Ruhe. Und du schläfst heute Nacht auf dem Sofa. Denk über dein Verhalten nach. Dann reden wir weiter.«
• • •
Sie hatte sich stundenlang mit der Kleinen im Zimmer verbarrikadiert. Es waren bestimmt drei oder vier Stunden – jedenfalls stand die Sonne bereits kurz vor dem Untergang. Ich hatte mich ab und zu dabei ertappt, wie ich mich an die Tür geschlichen und den Geräuschen gelauscht hatte. Doch es war nie etwas zu hören. Scheinbar hatten sie mich jedes Mal gehört und auf einmal so getan, als seien sie gar nicht da.
Irgendwann hatte mich die dicke Luft zwischen uns so müde gemacht, dass ich mich neben der Tür niederließ und das Gesicht in den Armen vergrub. Sie musste irgendwann rauskommen. Ich döste ein bisschen, um auch selbst zur Ruhe zu kommen. Die Sonne sank so weit, dass sie den Flur durch die Fensterfront und irgendwann auch meinen Körper in goldgelbes Licht tränkte, als säße ich im Rampenlicht. Der Abend brach herein.
Schließlich drehte sich der Schlüssel im Schloss herum. Ich tat keine allzu hektischen Bewegungen, um sie nicht wieder zu verschrecken. Ich blieb einfach nur sitzen und wartete ab, was geschah. Ob sie sich nun auf ein Gespräch einlassen würde, oder ob ich für sie heute gestorben war.
Die Tür öffnete sich. Layla trat aus der Tür hinaus, schloss diese direkt wieder und blieb vor mir stehen. Sie musterte mich ein wenig verwundert. Die Tusche auf ihren Wimpern war zum Teil verlaufen und hatte dunkle Abdrücke hinterlassen; ihre Augen sahen müde und klein aus, als hätte sie sich in den Schlaf geweint. Ich hatte sie echt erwischt.
»Elif schläft«, meinte sie. »Geh da jetzt bitte nicht rein. Es hat eine Weile gedauert, sie zu beruhigen. Lass sie schlafen bitte.«
»Okay«, akzeptierte ich ihre Bitte.
Ich stützte mich an der Wand ab, um aufzustehen und meiner Frau von Angesicht zu Angesicht entgegen zu treten. Sie wirkte noch immer verletzlich, was mir ihre kullerrunden Augen verrieten, die jederzeit wieder in Tränen ausbrechen konnten. Es brach mir das Herz, zu wissen, dass sie heimlich wegen mir geweint hatte.
»Ich bin deine Frau, Kaan.« Sie sah mir direkt ins Gesicht und biss sich auf die Unterlippe. »Ich bin keine Fremde, mit der du so reden musst, wie du es vorhin getan hast. Du hast mich echt erwischt. Und Elif hatte Angst vor dir.«
Wortlos bewegte ich mich auf sie zu und legte die Arme um ihre Schultern. Zog sie sanft an mich heran und ließ sie meine Nähe spüren. Das würde nicht genügen, um ihr zu zeigen, wie leid es mir tat, aber ich hoffte wenigstens darauf, sie ein wenig zu beruhigen.
»Tut mir leid, mir ist einfach eine Sicherung durchgebrannt«, erzählte ich, während ich die Falten auf ihrem Kopftuch ordentlich strich. »Es macht mich fertig, dass meine Familie nun weiß, wo wir leben. Und dass mein Vater Elif vom Kindergarten abgeholt hat, war reine Provokation. Sie wollen uns fertigmachen, weil wir ihr dreckiges Spiel nicht mitspielen.«
»Wir müssen zur Polizei gehen, Kaan«, meinte Layla. »Unsere Ehe wird diesen Terror, der von deiner Familie ausgeht, nicht nochmal ertragen. Ich kann nicht noch einmal durch diese Hölle gehen wie damals. So sehr ich dich auch liebe. Da sie nun wissen, wo wir leben, schweben wir in Lebensgefahr.«
»Bei mir seid du und Elif sicher, hayatim«, versicherte ich ihr, obwohl ich mir nicht sicher war. »Ich werde alles dafür tun, dass ihr in Frieden leben können. Verlass dich auf mich.«
»Wenn sie Nisan in die Finger kriegen, hat sie ein Problem. Wir müssen deine Schwester warnen.«
Aber wie?
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