31 | Segen und Fluch. (1/2)
KAAN ALBAYRAK
Nisans älterer Bruder
Der Tag hätte so gut starten können. Normalerweise wurde ich jeden Morgen durch das Gelächter meiner kleinen Tochter geweckt. Von meiner Frau, die mir das Frühstück ans Bett bringt und mir mitteilt, wie sehr sie mich liebt und sich auf den neuen Tag freut. Doch immer wieder wurde mir bewusst, dass man im Leben nicht immer das bekam, was man sich wünschte.
»Er steht schon wieder vor der Tür«, weckte mich die angespannte Stimme meiner Ehefrau Layla. Sie zog die Rolläden der Fenster abrupt hoch und mir die Bettdecke vom Körper. Vom daraus entstehenden Windzug wurde mir ganz kalt um die Hüften.
Ein Blick in ihr Gesicht offenbarte mir eine dünne Schicht Schminke, was bedeutete, dass sie etwas vorhatte. Besonders die zimtfarbenen Schatten auf ihren Augenlidern zogen meine Aufmerksamkeit auf sich.
»Du stehst jetzt auf und redest dem Typen mal ins Gewissen«, forderte sie aufmüpfig und vor Wut ganz erregt. »Wenn ich ihm sage, dass er hier nichts verloren hat, sagt er, das wäre nicht meine Entscheidung. So ein Untermensch! Schick ihn bloß weg, hörst du?«
Sie unterbrach kurz, um einen Blick auf die Uhr über der Tür zu werfen. »Scheiße, ich komme viel zu spät zu meinem Vorstellungsgespräch!«
Ihre Forderungen ließ ich unbeantwortet. Stattdessen setzte ich meinen müden Körper in Bewegung, streckte mich einmal ausgiebig. Doch es zeigte keine Wirkung. Heute gab es also kein Frühstück im Bett. Nicht mal einen Kuss, der mich weckte. Ich stapfte ins Badezimmer, das direkt gegenüber der Türschwelle lag und übte mich in einer Partie Schattenboxen vor dem Spiegel. Am liebsten hätte ich Salman genauso auseinandergenommen wie mein Spiegelbild.
Natürlich wusste ich, worum es Layla ging. Wir wären nicht grundlos in die tiefsten, umliegenden Provinzen gezogen, wenn mit meiner Familie und den dazugehörigen Strukturen alles gut wäre. Dieser Neuanfang war unser Mittel zum Zweck gewesen, uns von einer kranken Verwandtschaft loszulösen.
Layla fürchtete meine Familie, die einen Hang zur organisierten Kriminalität hegte, nach außen aber den Eindruck einer perfekten, integrierten Erfolgsgeschichte verschaffen wollte. Sie hassten Layla und hatten mir immer wieder abgeraten, die Tochter einer – aus ihrer Sicht – dreckigen und ungebildeten kurdischen Familie zu heiraten.
Gebracht hatte es nichts. Wir waren frisch verliebt gewesen, Layla nach dem Urlaub in Paris schwanger geworden und damit unser Schicksal besiegelt. Meiner Familie kam das einem Verrat gleich, auf den es Konsequenzen geben musste. Aber das war mir egal gewesen. Wir wussten, wir würden Eltern werden und eines Tages ein zufriedenes, unabhängiges Leben abseits meiner Familie führen.
Genug Gedanken.
Nachdem ich mich auf dem Klo erleichtert hatte, spritzte ich mir eiskaltes Wasser in die müden, geröteten Augen. Das Wasser raubte mir für einen kurzen Moment sämtliche Spannung. Die Ruhe, die durch den Gang ins Badezimmer entstanden war, wurde durch erneutes Schellen der Klingel unterbrochen.
Das Holztür knallte gegen die Wand neben dem großen, runden Wandspiegel. Layla, die ihr beiges Kopftuch noch immer nicht gebunden hatte, trat aufmüpfig herein.
»Kaan, schick ihn weg!« Mit einem Grummeln verdeutlichte sie mir ihren Unmut und schob mich in den Flur. Die Tür fiel zu und der Schlüssel drehte sich im Schloss rum.
»Dir auch einen guten Morgen, mein Schatz«, surrte ich. Ihr Gemecker nahm ich noch wahr, als ich schon im Schlafzimmer angekommen war.
Ich griff nach irgendeiner Jogginghose und zog sie mir in Windeseile über. Dabei blickte ich aus dem Fenster, beobachtete Salman, wie er sein Handy zückte und eine Nummer einwählte. Im selben Moment klingelte mein altes Nokia auf dem Schreibtisch.
Der Gang zur Haustür kostete mich einiges an Überwindung. Ich war gespannt, was er mir zu sagen hatte. Ich kannte ihn ja praktisch nur vom Sehen. Aus den Zeiten, in denen ich mit meinen Eltern noch auf heile Welt machen musste.
Beim Öffnen der Haustür schwebte mir ein instabil wirkendes Wrack mit mangelnder Körperhygiene vor. Ich zog sie hinter mir zu, um die bissige Kälte nicht in den Neubau zu lassen. Am liebsten hätte ich mir eine dünne Jacke angezogen, da es im Unterhemd ziemlich frisch war. Ich wusste nicht, ob ich die Anspannung in meinem Körper der Kälte oder Salmans Anwesenheit zuschreiben sollte.
»So so, mein ungeliebter Schwager«, meinte ich nüchtern, als ich ihm entgegentrat. »Woher hast du unsere Adresse?«
»Deine Mutter hat sie mir verraten«, offenbarte er mir die traurige Wahrheit. »Ich dachte, dass du mir vielleicht bei einer kleinen Sache behilflich sein kannst. Und dein Vater will, dass ich die Wogen zwischen dir und der Familie glätte.«
Natürlich. Ich rieb mir durchs Gesicht, versuchte aber, die Anspannung nicht zu deutlich nach außen zu tragen. Meine Mutter war die Einzige gewesen, der ich meine Adresse mitgeteilt hatte. Bei all dem Hass, den ich ihr gegenüber empfand, hatte ich es ihr nicht antun können, ihre bisher einzige Enkelin nicht aufwachsen zu sehen. Vielleicht hätte ich im Vorfeld schlauer sein sollen. Jetzt wussten sie, wo sie mich auffinden konnten.
»Du weißt ja bestimmt, was momentan so los ist«, stammelte er, während er hin und her lief und an einer Ecke auf den Boden rotzte. »Und ich weiß, dass du mit der Familie nicht viel zu tun hast. Aber Nisan ist jetzt schon seit einen Monat weg und wir müssen sie finden.«
»Rede mal leiser, okay?«, ermahnte ich ihn und deutete dabei auf die umliegenden Grundstücke, in denen sich vereinzelt Nachbarn aufhielten, um Blumen zu gießen oder die Hecken zu schneiden. »Und guck mal, wie du aussiehst, Mann. Ist ja eklig. Wann hast du das letzte Mal geduscht?«
Er hatte sich gehen lassen und stank genauso eklig, wie er aussah. Der Bart war in die Länge gewachsen und die Klamotten unpassend. Seine Augenringe saßen tief in seinem Gesicht; allgemein erweckte er den Eindruck, als hätte er sein Bett schon ein paar Nächte lang vernachlässigt.
Angewidert wandte ich meinen Blick von ihm und verschränkte die Arme ineinander. »Nenn mir eine plausible Sache, die ich tun kann, um an meine Schwester zu kommen. Ich habe seit eurer Hochzeit nichts mehr von ihr gehört.«
Er kam näher und verzog seine Augen prompt zu zwei dünnen Schlitzen zusammen. »Du musst mir helfen. Und weißt du auch warum?«
Mein Blick ging wieder zu ihm und ich zog eine Augenbraue in die Höhe, um seinem Mund mehr Details zu entlocken. »Ne, warum?«
»War es nicht meine Familie, die dein kleines Architekturbüro damals mit Investitionen und Aufträgen vor dem Bankrott bewahrt hat? Ich glaube nicht, dass du ohne unsere Hilfe hier in deinem schönen Schloss sitzen und Baklava essen könntest.«
»Von euren so genannten Investitionen habe ich bis heute keinen Cent gesehen«, verteidigte ich mich und mein Unternehmen. »Die Aufträge habt ihr uns gegeben, als es uns schon besser ging. Ich schulde euch nichts. Das kann ein Kerl nicht verstehen, der schon sein Leben lang von seinem Vater durchgefüttert wird. Ehrliche Arbeit kennst du nicht.«
Ich verschränkte die Arme und wurde ruhiger. So kannte ich mich gar nicht. Normalerweise ging ich nicht auf derartige Provokationen ein, aber nun war das was anderes. Er hatte sich ohne Ankündigung Zutritt zu meinem Grundstück verschafft, um mich nun mit irgendwelchen Problemen zu belästigen, die er selbst verzapft hatte. Der Typ hatte echt Nerven.
»Wenn du nicht mein Schwager wärst, würde ich dir jetzt ein paar Respektschellen geben«, meinte er und musterte mich aufgebracht von oben bis unten.
Ich zuckte mit meinen Schultern und sah auf den Boden, um ihm zu suggerieren, dass ich seine Drohungen nicht besonders ernstnahm. »Wenn du dann wenigstens abhaust«, rief ich. Meine Hand umschloss wieder die Türklinke. »Also dann, auf nimmer Wiedersehen.«
Doch anscheinend verstand er mich nicht. Seine Augen lagen penetrant auf mir. Er steckte sich eine Kippe in den Mund und rief: »Mach dich ruhig über mich lustig. Du hast es dir ja ganz leicht gemacht und bist mit deiner perfekten, kleinen Familie aufs Dorf abgehauen, während bei uns die Hütte brennt. Wie geht's deiner Frau?«
»Geht dich nichts an«, antwortete ich. Aus Reflex – heimliche Verbundenheit unter Rauchern – steckte ich mir auch eine Zigarette an. »Apropos Hütte, das hier ist auch Laylas Haus, also hättest du dich verpissen sollen, als sie dich weggeschickt hat. Nochmal: Es ist kein Wunder, dass meine Schwester vor dir abgehauen ist.«
Er lachte zynisch, als hätte ich was Dummes von mir gegeben. »Du glaubst doch nicht wirklich an das Märchen der Gleichberechtigung in einer Ehe, oder?«
»Du kannst das ja noch weniger beurteilen«, stichelte ich ihn weiter. »Dicker, du hast in einer Moschee geheiratet, die vor ein paar Jahren mal eine Shishabar war. Und deine Frau ist direkt abgehauen vor dir. Du hast praktisch nie eine Ehe geführt, also rede nicht.«
»Kaan, du musst uns helfen«, versuchte er, mich zu überzeugen, doch ich ließ ihn nicht.
»Ich muss gar nichts. Ich helfe dir nicht bei der Suche nach Nisan. Und ich schwöre dir, wenn du meiner Frau noch einmal dermaßen respektlos gegenübertrittst, schlag ich dich behindert. Ist mir so was von egal. Hau jetzt ab.«
»Okay«, gestand er ein. Mit einem Klicken gab sein Auto das Signal, dass es die Tür entsperrt hatte. »Aber vergiss nicht. Man sieht sich immer zweimal im Leben. Du wirst es noch bereuen, deiner Familie in dieser Zeit nicht beigestanden zu haben.«
»Ich scheiß auf diese Familie«, meinte ich. »Und meinem Vater kannst du sagen, dass er für mich längst gestorben ist. Euch alle brauch ich nicht in meinem Leben.«
Kommentarlos machte er sich vom Acker, so dass ich wieder beruhigt aufatmen konnte. Erst, als sich sein Auto in der Ferne zu den unzähligen Wagen auf der Hauptstraße einreihte, die in der Menge insgesamt aussahen wie buntes Konfetti, stolperte ich wieder in den Hausflur.
»Er ist jetzt weg«, knurrte ich. Die Schlüssel warf ich in die Blechschale auf der Kommode neben der Treppe und ging in die Küche, wo Layla wie ausgewechselt auf mich wartete. Die Stressfalten hatten ihre Stirn verlassen und mit ihren Lippen formte sie ein breites Lächeln.
Es beruhigte mich, dass sie sich wieder ein wenig abreagiert hatte. »Ein Mann verteidigt das, was er liebt«, kommentierte sie meinen Auftritt und ergänzte ihre Aussage um ein freches Zwinkern. Layla näherte sich mir an; ihr Blick hatte sich an mich geheftet. Sie biss sich auf die Unterlippe und öffnete einen Knopf ihres perlmuttfarbenen Hemdes, worauf mir ein Stück ihres Ausschnitts zuteilwurde. »Wenn ich jetzt nicht zum Gespräch müsste...«
»Soll ich dich fahren? Dann haben wir noch ein paar Minuten für uns«, entgegnete ich flüsternd. Ich öffnete den nächsten Knopf und begann, ihren Hals zu küssen. Dabei spürte ich, wie laut ihr flacher Atem wurde und wie sehr sie die Nähe zu mir genoss. Wie sich ihre zarten Arme um meine Schultern schlangen und ihre Fingerspitzen in meinen Haaransatz fuhren.
»Netter Versuch«, begann dann auch sie, zu flüstern. »Ich muss jetzt los. Das Angebot mit dem Fahren nehme ich gerne an. Und wenn das Gespräch gut verlaufen sollte... belohne ich dich später entsprechend dafür.«
»Dann geh schon mal ins Auto, ich ziehe mir schnell was Ordentliches an«, antwortete ich, als ich ihr die Autoschlüssel in die Hand drückte. Ihr dünnes Grinsen beantwortete ich mit einem verführerischen Zwinkern. »Und auf das mit der Belohnung komme ich später zurück.«
• • •
Etwa eine halbe Stunde später hatte ich Layla vor einem großen Krankenhaus im Süden Kölns rausgeworfen. Es begeisterte mich zwar nicht, dass sie in Köln arbeiten wollte – dem Zentrum all unserer Probleme – aber ich wusste, dass ich mich schlechter fühlen würde, wenn ich sie an ihrem Karrierewunsch hinderte.
Sie wünschte es sich so sehr, endlich als Ärztin praktizieren zu können. Zwar übte sie sich in ihrer Rolle als Mutter großartig und hatte auch keine andere Wahl gehabt, als unsere Tochter Elif auf die Welt gekommen war, doch nun wollte sie endlich arbeiten gehen. Karriere machen und Menschen helfen. Klein und Groß, Jung und Alt. Ich fühlte mich verpflichtet, sie hierbei zu unterstützen.
Die Vibration meines Handys unterbrach mich in den Gedanken. Eine SMS von Layla. Als der Verkehr an der nächsten Kreuzung zum Erliegen kam, zückte ich das Nokia 3310 und öffnete ihren Chat.
›Vergiss nicht, Elif um halb drei vom Kindergarten zu holen‹, schrieb sie.
Ich verdrängte den Gedanken, dass ich unser Kind bei all dem Stress am Vormittag wirklich vergessen hatte und schon in Richtung Heimweg war. Ich würde somit einen kleinen Umweg fahren müssen.
›Wie könnte ich unseren kleinen Sonnenschein vergessen? :P‹, antwortete ich.
Ich schmunzelte und fuhr weiter.
Je weiter ich mich von der Stadt entfernte, umso mehr kam ich runter; umso mehr konnte ich entspannen. Mein Körper lockerte sich und ich stimmte mit einem leichten Nicken in Musik der frühen 2000er ein.
Nach zwanzig Minuten Fahrt erreichte ich das kleine idyllische Dorf, in dem nicht mehr als zwanzig Häuser standen. Inmitten dieser befand sich der Kindergarten, hinter dem sich ein riesengroßer Spielplatz mit viel Grünfläche befand. Auf der gegenüberliegenden Seite auf einer Art Marktplatz teilten sich Bäckerei, eine Eisdiele und ein Aldi die Ladenflächen; mehr hatte die Ortschaft mit etwa zweihundert Einwohnern allerdings nicht zu bieten.
Es war perfekt für eine kleine Familie, die nur ungestört leben wollte. Für ein Kind war die frische Luft und das deutsche Umfeld ebenso perfekt. Wir waren richtige Almans geworden, um Elif ein gutes Leben zu ermöglichen. Und wenn ich daran dachte, gefiel es mir wieder irgendwie. Hier gehörte man in gewisser Weise dazu und ging nicht unter Millionen Menschen verloren.
Ich trat aus meinem Auto heraus und näherte mich dem Kindergarten, da ich keine weitere Zeit verlieren wollte. Es gestaltete sich immer schwierig, Elif aus dem Kindergarten zu kriegen. Sie war mittlerweile dreieinhalb Jahre alt und besuchte den Kindergarten erst wenige Monate, doch hatte sich bereits gut eingelebt.
Oft verging noch mindestens eine Stunde, in der mich Kindergärtnerinnen mit einem Glas Wasser vertrösten mussten, bis sich Elif einverstanden zeigte, mit nach Hause zu kommen. Sie war eben wie sie war: ein verspielter und ausgeglichener Sonnenschein. Und ich freute mich jedes Mal, wenn sie das Haus wieder erfüllte.
Ich suchte den geräumige Hallenflur, der hier und da mit Gruppen spielender Kinder gefüllt war, nach den Korkenzieherlocken meiner kleinen Tochter ab. Doch keine Spur von ihr.
»Guten Tag, Herr Albayrak«, unterbrach eine eine der Erzieherinnen meine Suche und winkte mich zu sich. Ich kannte sie nicht mal beim Namen. Wir hatten uns einmal flüchtig über die Dörfer in der Umgebung hier unterhalten und festgestellt, dass wir Nachbarn waren. »Wie kann ich Ihnen helfen?«
Fragezeichen schwebten über meinem Kopf. Wie sollte man mir wohl helfen können, wenn ich im Kindergarten vorbeikam, um mein Kind abzuholen?
»Ich möchte Elif abholen«, meinte ich. »Meine Frau hat ihre Approbation erhalten und ist bei einem Vorstellungsgespräch in Köln. Deswegen bin ich heute hier. Wo ist Elif?«
Die ebenso, wenn nicht sogar noch verwirrtere Reaktion der Erzieherin machte mich stutzig. Es zeigte mir, dass irgendwas nicht normal war. Dass Elif vielleicht gar nicht hier war. Ich versuchte dennoch, ruhig zu bleiben und gab der Frau einen Moment, um die Lage mit ihren Kolleginnen zu besprechen.
Ich setzte meine Suche also fort. Versuchte, in den Gruppen irgendeine Freundin von Elif auszumachen, doch wurde nicht fündig. Mein Gedächtnis reichte nicht aus, um festzustellen, welche der Mädchen Elif schon einmal zuhause zum Spielen eingeladen hatte. Es war zwecklos und Elif anscheinend tatsächlich nicht hier. War sie ausgebüxt? Hatten sie einen Ausflug gemacht und sie irgendwo verloren?
Dann vernahm ich harsche Diskussionen aus einem der Nebenzimmer. Rechtfertigungen, gestammelte Entschuldigungen. Kurze Zeit später kam die Erzieherin, welche sichtlich aufgelöst schien, in Begleitung der Leiterin des Kindergartens, Frau Kaiser, zurück zu mir.
»Klären Sie mich jetzt auf, wo meine Tochter ist?«, fragte ich sachlich, aber ungeduldig.
Frau Kaiser, eine dickliche Frau mit rotem Haar Haar und einer Brille, die die braunen Augen einrahmte, bat mich zu sich ins Nebenzimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und bat mich, mich zu setzen. Ich fühlte mich, als sei meiner Elif etwas zugestoßen. Mein Herz zog sich zu und ich malte mir in meinem Kopf alle nur erdenklichen Szenarien aus.
Wie sollte ich es Layla beibringen, falls unserem Sonnenschein; dem Mittelpunkt unserer kleinen Familie irgendwas zugestoßen war? Sie würde es nicht verkraften. Meine Hände wurden kalt, während mein Magen begann, sich merkwürdig zu verkrampfen. Ich rieb mir durchs Gesicht und bemerkte, dass der Schweiß auf meiner Stirn perlte.
»Elif wurde von einem Mann mitgenommen«, stammelte sie nüchtern. Ihre rauchige Stimme wirkte mir für meinen Geschmack ein bisschen zu besonnen. Ich war fassungslos, doch fühlte nichts in diesem Augenblick. Nur meine Augenbraue zog ich hoch und ich wiederholte langsam ihre Worte.
»Von einem Mann mitgenommen?«
»Ein Türke mit grauem Haar. In Begleitung von zwei weiteren Männern in schwarzen Anzügen, die draußen gewartet haben. Er gab sich als ihr Großvater aus... dass er Elif abholt, sei wohl mit Ihnen und Ihrer Frau angesprochen worden. Ich kann mir nicht erklären, wie das passieren konnte. Normalerweise hätten wir das telefonisch mit Ihnen abgeklärt.«
Nein.
Türke mit grauem Haar. Von zwei Männern begleitet. Großvater. Vater. Mein Vater.
Nein!
Die schwitzigen Hände ballte ich zu Fäusten und zog meine Augenbrauen zusammen. Ich hätte die alte Schabracke in der Luft zerreißen können.
Ich erhob mich und sah nur noch rot. Ich griff nach den Beinen des runden Tisches, auf dem Tassen, Briefe und andere Dinge lagen und warf ihn quer durch den Raum, sodass alles darauf, inklusive Tisch, an der Wand zerschellte. Dann näherte ich mich ihr.
»Was ist das hier für ein gottverdammter Scheißladen, dass Sie fremden Menschen einfach Kinder mitgeben?!«, schrie ich. Ich atmete schwer. Die Ader an meinem Hals verdickte sich so sehr, dass sie kurz davor war, zu platzen. »Ich bin nicht hierher aufs Dorf gezogen und habe mein Kind bei Ihnen angemeldet, damit es von meinem kriminellen Vater gekidnapt wird! Ich mach euch alle fertig!«
Frau Kaiser verkroch sich in der Ecke, und als ich in meiner Tobsucht den Arm hob, um nach ihr auszuholen, zog sie sich zusammen. Da wurde ich gebremst. Gebremst von dem Gedanken, nie wie mein Vater werden zu wollen. Es besser zu machen und meine Probleme nicht mit Gewalt zu lösen. Ich senkte den Arm und ließ von ihr ab. Atmete tief ein und nahm drei, vier Schritte Abstand. Stolperte über die Überreste dessen, was man vorher noch als Tisch bezeichnet hatte.
»Wenn Sie das hier«, ich deutete auf den Tisch und die verwüstete Umgebung, »irgendwem erzählen, bringe ich Sie um. Ich werde jetzt meine Tochter suchen. Falls ich Elif finde, war das das letzte Mal, dass wir uns gesehen haben. Finde ich meine Tochter nicht wieder, haben wir zwei eine Verabredung. Dann liegen Sie in meinem Kofferraum und ich vergrabe Sie tief im Wald, wo Sie niemand jemals finden wird. Haben Sie das verstanden?«
»Verstanden«, reagierte sie resigniert. Die Tränen lagen tief in ihren Augen und sie war plötzlich so klein mit Hut. Noch kleiner als sowieso schon. Es tat mir beinahe leid, so auf sie losgegangen zu sein.
Dann verpisste ich mich wieder. Draußen war alles ruhig geworden. Kinder, die verdutzt und mit großen Augen in die Richtung der Tür blickten. Die jüngere Erzieherin, die den ganzen Scheiß wahrscheinlich verzapft hatte, würdigte mich keines Blickes. Sie sah nur flüchtig nach, ob es ihrer Chefin gut ging. Sollte mir aber egal sein. Ich verließ das Gebäude, ohne mich zu verabschieden. Ich hatte jetzt Besseres zu tun. Elif war meine Priorität. Ich musste sie finden, bevor Layla was davon mitbekam. Sonst könnte ich es mir niemals verzeihen.
Vor meinem Auto angekommen, zückte ich eine Zigarette. Zwar war mir klar, dass jetzt nicht der richtige Zeitpunkt war, um zu rauchen, doch ich musste wieder runterkommen. Einen kühlen Kopf bewahren, um zu wissen, wie ich reagieren soll.
Zur Polizei? Nein. Die würden mich wahrscheinlich einsperren, wenn sie wüssten, dass ich im Kindergarten randaliert und dessen Leiterin bedroht hatte. Abwarten und hoffen? Nein, zu zwecklos.
Doch ich wurde von der Knalltüte, die meine Tochter weggegeben hatte, höchstpersönlich aufgehalten. »Ich bin Frau Baum von der Kita«, rief sie. »Es gibt da etwas, was ich Ihnen noch sagen muss.«
»Raus damit.« Den kalten Rauch meiner Kippe hauchte ich mitten in ihr Gesicht. Ich lehnte auf meiner Motorhaube, da ich nun ganz Ohr war.
»Der Herr vorhin kannte sich hier nicht aus. Er hat uns Geld geboren und gefragt, wo die nächste Eisdiele ist. Wissen Sie es?«
»Eisdiele, Eisdiele...«, dachte ich kurz nach. »Vielleicht die im nächsten Ort?« Ich drückte ihr die Kippe in die Hand und warf mich ins Auto, bevor ich losdüste. Ich würde es nur wissen, wenn ich es dort versuche.
Ich würde ihm den Hals umdrehen.
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