30 | Darf ich vorstellen?
ADNAN
17:30
»Packen Sie alles in die Box«, sprach der genervte, glatzköpfige Vollzugsbeamte, während wir kooperativ unsere Taschen leerten und uns auf eventuell versteckte Gegenstände abtasten ließen. »Geldbeutel, Handys, Armbanduhren. Sie bekommen Ihre Wertsachen zurück, sobald die Besuchszeit vorüber ist.«
Natürlich ergab die Sicherheitskontrolle grünes Signal. Wir durften nun die Justizvollzugsanstalt betreten, die sich außerhalb der Stadt befand und in der mein Vater, Ahmad, nun seit vier Jahren seinen Alltag bestritt.
Je näher wir dem Besuchsraum kamen, umso mehr zog sich mein Brustkorb zusammen. Ich hatte es zuvor nie hinter mich gebracht, ihn zu besuchen. Ich hatte es nie gewollt. Ehrlich gesagt hätte ich nicht gedacht, dass ich ihn überhaupt mal wiedersehen würde. Scheinbar wollte es das Schicksal anders. Beim nächsten Mal würde ich ihm unter freiem Himmel begegnen, wenn wir seine Sachen ins Auto luden und nach Hause fahren würden.
»Ich bin so gespannt«, sprach Nisan. »Eure Erzählungen waren schlimm genug. Ob er immer noch so drauf ist wie früher?«
»Freu dich nicht zu früh. Daran, dass er ein Arschloch ist, wird der Knast wenig geändert haben. Danke, dass du überhaupt mitkommst.«
Ich hatte mir ausführlich Gedanken darüber gemacht, ob ich Nisan überhaupt mitnehme. Zugegeben fühlte mich ein wenig schlecht. Wir lebten erst ein paar Tage zusammen und ich hatte Angst davor, sie abzuschrecken. Es war ungewiss, wie mein Vater auf sie reagieren würde. Ich hoffte, er würde mich nicht zu sehr vor ihr bloßstellen. Andererseits wollte ich keine Geheimnisse mehr vor Nisan haben. Und so musste sie auch die schlechten Seiten unserer Familie kennenlernen. Es würde schlimmer sein, ihr dies vorzuenthalten.
»Ich wette, mein Vater ist schlimmer«, scherzte sie, um die Stimmung zu lockern. »Aber bevor ich es vergesse. Wie hat deine Schwester eigentlich reagiert, als du es ihr erzählt hast?«
»Ich würde lügen, wenn ich sage, dass sie sich gefreut hat«, erzählte ich. »Aber eigentlich ist sie ganz ruhig geblieben.«
»Sie haben eine Dreiviertelstunde«, grätschte der Gefängniswärter in unsere Unterhaltung, ehe wir den Besucherraum betraten, in dem sich bis auf ein paar Tischgruppen nicht viel befand. »Aber versprechen Sie sich nicht allzu viel von ihm. Mit uns spricht er nur, wenn es nötig ist.«
Nur knapp konnte ich mir einen Kommentar verkneifen, dass es vielleicht sogar besser war, wenn er gar nicht sprach.
Erinnerungen an früher wurden wach.
Wenn er nicht so besoffen war, dass er nicht mal mehr sprechen konnte, brachte er meist nur Scheiße über seine Lippen. Mehr als Menschen niedermachen oder sich über die ungerechte Welt beklagen hatte er noch nie gekonnt und mehr erwartete ich auch heute nicht.
Dennoch stieg die Anspannung, je näher wir einer einzelnen Person kamen. Einem Mann, der erst Mitte vierzig war, den der Knast und die Krankheit allerdings so schwer gezeichnet hatte, dass man ihn locker als Ende fünfzig verkaufen konnte. Ergrautes, schütteres Haar. Eingefallene, faltige Züge im blassen Gesicht, die von einem ungleichmäßigen, schwarzen Bartschatten eingerahmt wurden.
Damals, so erinnerte ich mich, war er ziemlich kräftig gewesen; heutzutage war er davon jedoch meilenweit entfernt, als befände er sich in einem Hungerstreik. Der Wohlstandsbauch war gewichen und die Leere in dem ausgewaschenen Poloshirt, in dem sich je nach Bewegung die einzelnen Rippen abzeichneten, ließ selbst mich ein Gefühl von Hunger und Magerkeit verspüren.
Es dauerte einen Moment, bis Ahmad – so sein Name – realisierte, dass zwei Leute vor ihm standen und sich ihren Teil dachten. Als mein Anwalt Dejan mir von der Erkrankung unseres Vaters erzählt hatte, war dieses Bild alles andere als das gewesen, was ich mir vorgestellt hatte. Er konnte einem nur leidtun.
»Hallo Baba«, knirschte ich es fast unhörbar zwischen den zusammengebissenen Zähnen hervor. »Das ist mein Vater. Ahmad«, stellte ich ihn Nisan vor. Doch er schien zunächst nur körperlich anwesend. Es dauerte einen Moment, bis er sich regte und bemerkte, dass man ihn angesprochen hatte.
Seine Augen, umrahmt von dicken Augenringen, wirkten verschlafen; das Braun darin verblasst und trostlos wie zwei Regenpfützen in einer verlassenen Seitengasse. Der Glanz darin war vollständig gewichen.
»Setz dich.« Er deutete mit seinem knochigen Zeigefinger auf die hölzerne Sitzbank vor mir. Es schien, als hätte er Nisan nicht wahrgenommen. Doch dann wanderte sein Blick zu ihr. »Ist das ... hey, ist das Hilal? Ist die Kleine denn wirklich ... so groß geworden?«
Seine Worte verstarben in einem gequälten, schmerzhaften Hustenanfall. Der Brustkorb zog sich zusammen und ein Stück Stoff, das ihm als Taschentuch diente, füllte sich stellenweise mit frischem, dunkelroten Blut.
Er war am Ende. So sehr, dass ich es ihm nicht mal übel nahm, dass er eine ihm fremde Frau für seine Tochter hielt. Hilal und Nisan sahen sich bis auf die Haarfarbe nicht wirklich ähnlich.
»Hallo, Herr Yasin. Mein Name ist Nisan«, stellte sie sich adrett vor und streckte ihm ihre Hand entgegen. Doch er würdigte sie keines Blickes, sodass Nisan ihre Hand wieder langsam zurückzog.
»Adnan, Junge ... ich hätte wissen müssen, dass du mich nur vor Fremden bloßstellen willst... der ganzen Welt zeigen willst, wie schwach ich nun bin ... mit deiner Schlampe kannst du dich sonst wohin ficken gehen. Was willst du?«
»Pass auf, wie du mit meiner Freundin sprichst. Du kommst bald frei, da dachte ich, ich stelle sie dir vor. Aber ich war naiv, zu glauben, dass du nicht derselbe verschissene Wichser wie früher bist. Gott soll dich richten.«
Seiner Kehle entrann ein gequältes, aber dreckiges Gelächter, als hätten wir uns innig und friedfertig begrüßt. Dabei steckte in unseren Worten nicht viel mehr als Verbitterung und im Grunde genommen war er derjenige, der mich gerade bloßstellte. Die Besucher beobachteten unser Wortgefecht; Mütter, die ihren Kindern die Ohren zuhielten, Häftlinge, die sich über uns lustig machten. Selbst die Wärter schienen sich zu amüsieren.
»Hört bitte auf und lasst uns wie vernünftige Menschen reden«, wies Nisan uns an. In ihrem Gesicht lag eine unverkennbare, ernste Mimik. »So sollten Vater und Sohn nicht miteinander sprechen.«
»Kleine, das ist unsere Art und Weise, uns zu zeigen, dass wir uns lieben ... so ein Vater-Sohn-Ding ... nicht wahr, Adnan?«
»Mhm«, brummelte ich unbeeindruckt in den Saal. »Wenn hier nicht so viele Beamte wären, würde ich dir den Arsch aufreißen und dich im Wald vergraben, du -«
»Adnan, psht!«, zischte Nisan. Sie schob mich ein wenig vom Tisch weg, über den ich mich gelehnt hatte, um meinem Gegenüber direkt ins Gesicht schauen zu können.
Wieder lachte er, was mir gar nicht gefiel. Er würde irgendwas Gehässiges auf Kosten anderer von sich geben und die Stimmung nur aufheizen. Je stärker, umso weniger konnte ich mich mit meinen Sprüchen zurückhalten.
»Ich mag die Energie deiner süßen Freundin. Endlich mal eine gefunden, die dir auch Contra gibt? Mal schauen, wie lange sie es mit dir aushält, sobald sie erlebt, was ein Sturkopf du bist. Da sind wir beide aus demselben Holz geschnitzt, mein Sohn. Setzt euch.«
An dieser Stelle musste wiederholt werden, dass es sich tatsächlich um ein mehr oder weniger normales Gespräch zwischen uns handelte. Der raue Ton, der vermuten ließ, dass es zwischen uns im nächsten Moment Mord und Totschlag geben würde, war im Grunde genommen harmloser Natur.
Ich sah Nisan an. Ihr Blick wirkte genervt, als hätte sie jetzt schon genug. Was mich nicht wunderte, immerhin hatte er sie in den ersten Minuten bereits als Schlampe betitelt. Doch als ich auf die Sitzbank deutete und sie zur Geduld aufrief, nickte sie sanft und so setzten wir uns schließlich. Um sie ein wenig zu beruhigen, legte ich meine Hand auf ihre.
»Viel hab ich dir eigentlich nicht zu sagen«, gab ich stumpf zu, als er still blieb. Seine fragenden Augen blieben dennoch auf mir kleben.
»Ah ja. Und warum bist du dann hier? Du hast mich auch die vergangenen Jahre nie besucht, nicht mal angerufen hast du. Die Einzige, die jeden Monat kam, war deine Mutter.«
»Weil ich froh war, dass dieses Elend zuhause ein Ende hatte«, offenbarte ich ehrlich. »Wir sind alle über uns herausgewachsen. Ich habe die Kurve gekriegt, doch noch Abi gemacht und einen ordentlichen Beruf erlernt. Merwan ist endlich Sani geworden. Hilal wird immer erwachsener. Nur unsere Mutter ist kleben geblieben wegen dir.«
»Junge, sie ist erwachsen ...«, stammelte er einen Moment rum, schien dann jedoch doch mal für einen Moment nachzudenken, bis er es komplett bleiben ließ und verlegen mit den Fingerkuppen herumspielte.
»Darum geht's auch nicht. Bald kommst du nach Hause. Du sollst wissen, dass zuhause herrschen nun andere Töne herrschen. Ich will dir nur sagen: Solltest du dir auch nur einen Fehltritt leisten, schmeiße ich dich und all deinen Plunder raus. Auf deine Krankheit nehme ich dann keine Rücksicht mehr.«
Meine Botschaft nahm er mit einem schweren Nicken widerwillig entgegen. »Schon gut, ich gebe mein Bestes.«
»Hoffe ich für dich.«
Mir war klar, dass er nicht sein Bestes geben würde. Das entsprach ihm einfach nicht. Er konnte und würde sein Verhalten nicht mehr ändern, dafür war er bereits viel zu festgefahren. Versprechen, die er gab, hatte er noch nie mit ganzem Herzen eingehalten. Ich erwartete in der Hinsicht nichts mehr von ihm. Aber ich wollte es ihm zumindest gesagt haben.
»Mein Name ist Ahmad«, richtete er sich nun an die Begleitung neben mir. »Woher kommt dein Name, Nisan? Hal anti arabiya?«
»Nein, ich bin Türkin«, sprach sie. Es erschloss sich mir nicht nicht, ob er sich wirklich dafür interessierte, oder nur fragte, um ihr dann mit einer dummen Bemerkung zu begegnen. »Nisan bedeutet April. Ich bin im April geboren, daher stammt mein Name.«
»Und deine Geschwister heißen dann Mai und Juni?« Dass es so schlecht wird, hatte ich jedoch nicht erwartet. Es war so dumm, dass ich mich selbst beim Schmunzeln ertappte. »Nur ein Witz.«
»Kaan und Mikail«, erwiderte Nisan auf seine ironische Frage hin. Sie lachte kurz auf, wanderte verlegen durch ihr Haar.
Ahmad hingegen bekam sich gar nicht mehr ein vor Lachen, feierte sich selbst für seine Frage. So sehr, dass er sie sogar in Teilen wiederholte. Was mir auffiel, war, dass seine trostlosen Augen beim Lachen ihren alten Glanz zurückerlangten, bis das Gelächter durch einen erneuten Hustenanfall unterbrochen wurde.
Interessanter schien das Gespräch nicht mehr zu werden. Während Nisan aus den abgesicherten Fenstern auf den Hof des Gefängnisses blickte, wanderte mein Blick einfach nur durch die Gegend. Die meisten Häftlinge, die ich auf den ersten Blick sah, machten auf mich einen stabilen und reflektierten Eindruck, als hätten sie bis kurz vor ihrer Haft noch ein ordentliches Leben gelebt.
Nur ein Einziger saß ganz allein in einer Ecke rum. Er war locker zwanzig Jahre älter als Ahmad und seine Körperpflege ließ noch stärker zu wünschen übrig. Es schien, als wartete er auf Besuch, der aber kurzfristig doch abgesagt hat. Erstaunlich, dass selbst mein Vater Besuch bekam, obwohl er der schlimmste Mensch war, den ich persönlich kannte.
»Vergewaltigung und Mord. Die Leiche hat er aus dem Fenster geschmissen«, kratzte Ahmads kaputte Stimme in meinen Ohren. Ich war schockiert und nahm gedanklich direkt einige Kilometer Abstand von dem alten Sack drüben. Meine Empathie hatte sich in Luft aufgelöst.
»Und so einen lässt man mit anderen Menschen in einem Raum sitzen?«, fragte Nisan verstört. Sie wandte ihren Blick direkt von ihm ab, als er in flüchtig unsere Richtung sah.
»Wir sind in Deutschland, nicht in den Staaten. Was erwartest du von einem Land, in dem Steuerhinterzieher härter bestraft werden als Vergewaltiger?«
»Mich hätte es nicht mal gewundert, wenn sie dir nur 'paar Jahre gegeben hätten«, rief ich. »Die Täter haben hier einen warmen Arsch, während die Opfer mit den Folgen leben müssen.«
Er zuckte mit den Schultern. Vermutlich wusste er ganz genau, worauf ich hinauswollte. Hilal. Alle, denen er bisher geschadet hat. Es schien nicht so, als besäße er nur einen Funken Reue für das, was er damals angestellt hatte. Wenn doch, tat er sich gut darin, es zu verbergen.
»Hör mir mal zu, ich habe nie von dir verlangt, dass du mich hier rausholst«, stieß er einen Moment später voller Anspannung aus. »Es ist mir scheiß egal, ob ich in der Zelle verrecke oder in irgendeiner Gosse. Es ist mir sogar lieber, als mir ständig Sachen unter die Nase reiben zu lassen, die ich nicht mehr ändern kann.«
»Da hat mir Dejan aber andere Sachen erzählt«, konterte ich. »Du hast ihn extra zu mir geschickt, damit er es mir erzählt. Du hättest übertriebene Angst davor, allein zu sterben, und so. Gib es doch einfach zu.«
Er verschränkte die schlaksigen Arme ineinander und versuchte so gut es ging, all meine Aussagen von sich zu weisen, was zu einer regelrechten Diskussion entwuchs. Doch je stärker ich nachhakte, umso weniger setzte er sich zur Wehr.
»Du musst mich auch verstehen«, prustete er heiser. Das viele Diskutieren hatte seine Stimme stark beansprucht. Mit den glasigen Augen er starrte die ganze Zeit auf seine geschundenen Hände. »Ich sitze 23 Stunden am Tag in der Zelle rum. Man lernt niemanden kennen. Keinen, der fragt, wie es dir geht, ob du was brauchst. Da sehnt man sich nach Familie. Ich will die letzten Momente wenigstens mit euch verbringen, wenn es so weit ist. Mit dir, deinen Geschwistern und eurer Mutter. Ich gebe es doch zu.«
Ich suchte in seinem Blick irgendwas, das darauf hindeutete, dass er mich verarschte. Doch er hielt seinen Blick stets aufrecht. Eines der wenigen Male, dass er einem Menschen in die Augen sah, ohne den Blickkontakt wieder abrupt abzubrechen. Er meinte es also ernst.
Auch Nisan staunte nicht schlecht. Sie griff nach meiner Hand, die noch immer die ihre berührte. »Dein Vater meint es wirklich ernst, Adnan«, flüsterte sie mit zitternder Stimme. Dann begann sie, sich Luft zuzufächeln. Meine Hand wanderte auf ihren Rücken, ich streichelte ihn sanft und aufmunternd. Mir selbst fiel es schwer, ohne Weiteres einzuknicken.
»Du stirbst nicht allein, alter Sack.« Ich zwang mich zum Ende hin doch zu einem dezenten Lächeln. »Lass uns deine letzten Monate so gut wie möglich gestalten.«
»Ich seh dich ja doch mal lachen«, grinste er. Als Dank nickte er. »Anfang nächsten Monat soll ich freigelassen werden. Das sind jetzt noch ... äh ... welcher Tag ist heute überhaupt?«
»Der Siebzehnte. Bis dahin sind es noch zwei Wochen.«
Einer der Beamten, die gelangweilt neben dem Ausgang kampierten, steuerte auf uns zu. »Ihre Besuchszeit ist jetzt vorbei«, kündigte er an.
Es war echt erstaunlich, wie schnell die Zeit verging. Unser Gespräch war mir vorgekommen wie höchstens fünf, sechs Minuten. Fast schon wie automatisiert setzte sich Ahmad in Bewegung, um in Handschellen gelegt und schließlich wieder in seine Zellen gebracht zu werden.
»Es hat mich gefreut, Ahmad«, schob Nisan bescheiden ein.
Ahmad drehte sich nochmal zu uns um. »Mich auch«, meinte er. »Wenn es nach mir ginge, hätte unser erstes Treffen nicht hier im Gefängnis stattgefunden.«
Es gelang den beiden am Ende tatsächlich noch, sich die Hand zu reichen, auch wenn es nur von kurzer Dauer war. »Pass gut auf dich auf«, flüsterte Nisan.
»Pass du auf meinen Sohn auf«, rief er. Zuletzt wandte er sich nochmal zu mir. »Und du: halt die gut fest, diese schöne Rose. Ich merke, wie gut sie dir tut.«
Ich nickte ihm nur zu. Achtete darauf, ob sich in meinem Körper irgendwas regte. Irgendwas, das mir verriet, ob ich mich auf seine Rückkehr in zwei Wochen freuen, oder aber mich davor fürchten sollte. Aber da war nichts. Einfach gar nichts. Was kam, würde so was von ungewiss sein und hing einzig und allein von ihm und seiner Person ab.
Ahmad hatte es mal wieder geschafft, dass sich alles um ihn drehte. Obwohl ich mir geschworen hatte, es nie wieder dazu kommen zu lassen.
• • •
»Ich seh die Sache immer noch mit gemischten Gefühlen«, murmelte ich, als wir uns auf dem Parkplatz vor meinem Auto wiederfanden. »Eigentlich bräuchte ich jetzt 'ne Kippe zum Runterkommen.«
Nisan verdrehte die Augen und wanderte mit der Hand in die Seitentasche ihrer Jacke, aus der sie die Schachtel Zigaretten zückte. An der Art und Weise, wie reflexartig ich nach der Schachtel greifen wollte, merkte ich, wie abhängig mein Verstand nach roten Marlboros war.
Sie streckte mir behutsam eine Zigarette samt Feuerzeug entgegen und ich stürzte mich darauf wie ein gieriges Tier. »Rauchen fügt Ihnen und den Menschen in Ihrer Umgebung erheblichen Schaden zu«, las Nisan vor, bevor sie die Schachtel in ihrer Jackentasche verschwinden ließ. Sie gab sich gespielt genervt, doch mir war klar, dass sie es nicht wirklich so meinte.
»Als ob es nichts gibt, wonach du süchtig bist«, kommentierte ich die Situation. »Früher hast du Unmengen Schokolade gegessen. Wenn ich dich in deinen Pausen besuchen kam, lag immer eine Tafel auf dem Tisch.« Ich kam ein wenig näher, bis ich ihr ins Ohr flüstern konnte. »Und ich habe mich immer gefragt, wie dieser Körper so in Form bleiben kann.«
Sie lachte verlegen, was bedeutete, dass ich sie erwischt hatte. »Okay, aber das ist was komplett anderes«, rief sie. »Außerdem warst du schuld, du hast sie mir geschenkt.«
»Du hast dich nie beschwert«, wimmelte ich ihren Einwand ab. »Ich hab dir schon schlimmere Geschenke gemacht.«
»Der VW deines Cousins. Weißt du noch? Weil du meintest, ich bräuchte ja unbedingt ein Auto.«
Ich zuckte mit den Schultern und schmunzelte, als ich an die Blechkiste dachte. »Das Auto war okay, es war nur ein wenig...«
»Es hatte einen Totalschaden, Adnan«, hakte sie ein.
»Apropos Totalschaden ... wie fandest du es bei meinem Vater?«, fragte ich. Beim bloßen Gedanken an ihn stieß ich eine kräftige Wolke Zigarettenqualm aus. Es war der letzte Zug, der in meinem Hals brannte und mich räuspern ließ. Ich versenkte die Kippe in einem Gullydeckel.
Nisan wartete, bis ich mich wieder gefangen hatte. »Du hattest recht, er ist ätzend«, gab sie zu. »Ich hätte zu Beginn nicht gedacht, dass ich für so einen Empathie aufbringen kann, aber seine Worte wirkten glaubhaft.«
»Es fällt ihm leicht, Leute um den Finger zu wickeln. Deswegen bin ich mir ja so unsicher mit ihm. Ich hoffe, es war heute nicht allzu schlimm für dich.«
»Auf keinen Fall«, sprach sie wohlwollend. »Es hätte mich traurig gemacht, wenn du mich nicht mitgenommen hättest. Der Besuch heute hat mir gezeigt, dass es egal ist, wie verkorkst Eltern sein können. Du bist unabhängig von deinem Vater ein wundervoller Mensch geworden und dafür liebe ich dich.«
Nisan näherte sich mir an und fing mich mit ihrem Lächeln. In ihren Augen lag ein unverkennbarer Glanz, der mir ihren Beistand suggerierte. Ich zog sie vorsichtig an mich heran und hob ihr Kinn, um sie auf die Wange zu küssen zu können. Meine Arme umschlangen dabei ihre Taille. Merkwürdigerweise achtete ich immer noch ganz genau darauf, vorsichtig zu sein, als hielt ich eine verletzbare Rose in meinen Händen.
Dabei war es umso erstaunlicher für mich, zu spüren, wie sehr sie diese Nähe genoss, obwohl sie ein paar Tage zuvor noch durch die Hölle gegangen war. Wie sie in meinen Armen versank, obwohl sie sich zuvor noch an anderen verbrannt hatte. Wie unsere Lippen schließlich miteinander verschmelzen konnten, obwohl sie so ohne Hoffnung gewesen war, jemals wieder die Küsse eines Mannes genießen zu können.
Wenn ich daran dachte, wann ich so etwas das letzte Mal gefühlt hatte, entstand in mir tiefe Leere.
»Danke, dass es dich gibt«, flüsterte ich ihr leise ins Ohr, als wir allmählich voneinander abließen. Ich küsste ihre Stirn und öffnete schließlich das Auto. »Aber lass uns mal jetzt nach Hause fahren. Es wird echt kalt.«
Sie bestätigte meine Forderung mit einem Nicken und begab sich auf die Beifahrerseite. Im Auto war es bereits vorgewärmt; unsere eiskalten Hände tauten augenblicklich auf. Mir war klar, dass dieser Nachmittag enorm wichtig für unsere Beziehung gewesen war. Nisan wusste nun ein Stück mehr darüber Bescheid, was in unserer Familie vor sich ging. Somit war sie nun ein Teil davon.
• • •
Als wir nach Hause kamen, war es ungewöhnlich ruhig in der Wohnung, was in den Abendstunden normalerweise nicht der Fall war. Typischerweise hörte man dann schon von der Garderobe aus den Fernseher, vor dem unsere Mutter saß, um eine ihrer Serien zu schauen, während Hilal und Merwan auch nicht weit entfernt waren. Heute war irgendwie alles anders.
»Vielleicht haben wir mal Glück und sind ungestört«, flüsterte ich, während ich mir die Lederjacke vom Körper strich und sie leise an den Kleiderhaken hing. Ich lauschte nochmal und stürzte mich dann in die unheimliche Stille.
So ruhig war es wahrscheinlich nur, wenn wir alle arbeiten waren oder schliefen. Ich schlich durch den Flur und leuchtete dabei in jedes Zimmer, an dem ich vorbeikam. Merwans war leer. In Hilals Zimmer brannte wie immer die Stehlampe auf dem Nachttisch; bis auf einen Berg Wäsche war das Zimmer aber ebenfalls verlassen. Erst, als am anderen Ende des Ganges das große Licht im Wohnzimmer ansprang, wusste ich, dass wir doch nicht ganz allein waren.
Es war Mutter, die mir begegnete. Sie trug eines ihrer guten, perlmuttfarbenen Kopftücher, unter dem der dunkelblonde Haaransatz hervorblickte. Mein Blick ging auf die goldene Ohrringe und auf die ebenso passende Schminke in ihrem Gesicht. So kannte ich sie nicht. Sie sah im Gegensatz zu sonst nicht verschlafen, sondern wunderschön und etwa zehn Jahre jünger aus.
»Da seid ihr ja wieder«, rief sie, als hätte sie uns bereits erwartet. Sie begutachtete uns mit einem breiten Grinsen, als erwartete sie was von uns. »Ich weiß von euch beiden. Ich freue mich so für euch. Deine Geschwister haben es mir erzählt.«
Ehrlich gesagt stellte das das krasse Gegenteil zu ihren vorwurfsvollen Aussagen dar, ich hätte ihr eine Türkin mit nach Hause gebracht. Zugegeben, ich hatte mich von Anfang an ein wenig gefürchtet, ihr von meinen Gefühlen gegenüber zu offenbaren. Und obwohl ich Merwan und Hilal gern den Hals umgedreht hätte, war ich froh, dass es nun raus war. Nisan und ich mussten um die Sache nun kein Geheimnis mehr machen.
Mutter kam auf Nisan zu und zwang sie beinahe in eine ihrer herzlichen Umarmungen. »Es freut mich sehr, dass du hier bist. Dass du meinen Sohn so glücklich machst. Wenn er sich daneben benehmen sollte, kannst du immer mit mir reden, Nisan. Willkommen nochmal.«
»Danke, Maryam«, murmelte Nisan in Mutters Schulter. An ihrem Gesichtsausdruck erkannte ich, dass sie auf die Situation alles andere als vorbereitet gewesen war, doch genoss sie diese mütterliche und familiäre Wärme.
Genau in dem Moment kamen Merwan und Hilal zum Vorschein, die sich ebenfalls ordentlich herausgeputzt hatten. »Was habt ihr getan? Und warum seht ihr alle so gut aus?«, fragte ich schockiert, während ich die beiden musterte.
»Wir haben euch heute Morgen echt gestört«, sagte Hilal und fuhr verlegen durch ihr gelocktes Haar. Mich wunderte, dass selbst sie ihren sonst gewohnten Look – Jogginghose und Hoodie – gegen hohe Schuhe, Rock und Hemdbluse getauscht hatte.
Merwan fuhr fort. »Kommt mal mit, ihr zwei.« Er führte uns in den Essbereich, in dem der kleine Ofen für Wärme sorgte und uns der gedeckte Tisch zum Essen einlud. Mehrere Salatsorten, gebratenes Hähnchen und Beilagen aller Art, die nur darauf warteten, verspeist zu werden. Doch der Tisch war nur für zwei Personen gedeckt. Ich begriff, dass sie uns allein lassen würden. Dennoch fragte ich nochmal nach.
»Esst ihr nicht mit uns?«
»Wir haben einen Tisch im Mevlana reserviert. Die beiden Stubenhocker hier«, er pausierte und deutete explizit auf Mutter und Hilal, »müssen auch mal wieder raus. Ihr habt also eure Ruhe. Aber tut nichts Unanständiges! Wir sind gar nicht weit weg von euch.«
Wir verfielen in lautes Gelächter, wobei ich ihm, wie ich es öfters tat, auf die Schulter boxte.
»Na los, verzieht euch endlich«, rief ich. Ein kleines, wertschätzendes Grinsen konnte ich mir dann aber doch nicht verkneifen.
»Er meint natürlich, dass er euch dankbar ist«, sprang Nisan für mich ein, was meine Familie positiv stimmte. »Ich hoffe, ihr habt einen schönen Abend«, fügte sie anschließend noch hinzu und schälte sich auch endlich aus der schwarzen Lederjacke.
»Ja, stimmt«, musste ich gestehen. Ab und zu konnte es ziemlich entlastend sein, wenn meine Familie nicht hier war. Dennoch gönnte ich es ihnen, auch mal rauszukommen und einen Abend in der Stadt zu verbringen. Merwan hatte recht; sie waren wirklich Stubenhocker geworden.
Es dauerte nicht lange, bis sie die Wohnungstür hinter sich ließen und es wieder richtig ruhig in unseren vier Wänden wurde. Ich rieb mir die Hände, während ich mir all das Essen ansah, das Mutter für uns zubereitet hatte. Wir nahmen Platz und sogen all die himmlischen Düfte in uns auf.
Irgendwie konnte es aber immer noch nicht fassen und genoss den frischen Segen meiner Familie noch mit Vorsicht. »Sie wissen jetzt also, was zwischen uns läuft. Das ging ehrlich gesagt schneller als ich dachte.«
»Ich liebe deine Familie«, sprach Nisan verträumt.
»Das ist jetzt auch
deine Familie, canım.«
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top