29 | Neuigkeiten.

HILAL

Ich bemühte mich, so leise wie möglich auf dem kalten Marmorboden zu laufen. Meine Schritte so zu setzen, dass ich niemanden aus dem Schlaf riss. Sie schienen alle noch nicht wach zu sein. Was merkwürdig war angesichts der Tatsache, dass die Woche noch nicht vorbei war.

Normalerweise wurde der Flur unserer gemütlichen Wohnung durch den Klang des alten Antennenradios erfüllt, das seinen festen Platz auf der Kücheninsel einnahm und die Stille mit Wettervorhersagen und Neuigkeiten aus der Heimat verdrängte. Kitschige Musik von Wael Kfoury, die von der heiseren Stimme unserer Mutter begleitet wurde. Obwohl es am Morgen nervtötend war, ihrer euphorischen Stimme zuzuhören, war sie insgeheim die beste Sängerin und es fehlte.

Nicht mal der Duft von frisch aufgegossenem Mokka, der die rosige Raumluft übertünchte, war vorhanden. Nicht, dass es mich störte, ich trank immerhin keinen Kaffee und hasste ihn.

Und trotzdem fehlte das alles hier. Die Routine des Morgens fehlte. Merwan, der sich zur Arbeit hetzte. Adnan, der sich stundenlang im Bad aufhielt, obwohl er wusste, dass es ihn nicht schöner machte. Mutter, die das Frühstück vorbereitete und uns mental auf den Tag zurechtstimmte.

Ich ging weiter und näherte mich dem Wohnzimmer, um nachzusehen, ob Adnan verschlafen hatte. Da ich kein Lebenszeichen vernahm, warf ich einen Blick hinein und merkte, dass alles an seinem rechten Platz zu sein schien. Der Essbereich war verlassen, die Wolldecke auf dem Sofa ordentlich zusammengefaltet. Merkwürdig. Dann war er also auf dem Weg zur Arbeit. Um halb sieben.

»Hilal!«, vernahm ich ein leises Rufen aus weiter Ferne. Aus Merwans Zimmer, das sich ziemlich abgeschieden an der Wohnungstür befand. Erst jetzt fiel mir auf, dass die Zimmertür einen Spalt offen gestanden und er mein Rumschleichen bemerkt hatte.

Ich setzte mich langsam in Bewegung, um nachzuforschen, was er von mir wollte. Es kam selten vor, dass ich sein Zimmer betrat. Mein zweitältester Bruder legte sehr viel Wert auf Privatsphäre und unterschied sich dahingehend von Adnan.

Sein Drang nach Privatsphäre wunderte mich mit Blick auf das Dutzend Pfandflaschen, das sich kreuz und quer über die Holzdielen verteilte, nicht wirklich. Im Bereich seines Bettes begann er sogar, sie mit System zu stapeln. Das einzige Ordentliche in seinem Zimmer war die rötliche Dienstuniform, die er fein säuberlich an einem Kleiderhaken aufgehängt hatte.

Erhellt wurde sein Zimmer, dessen Vorhänge zugezogen waren, nur durch einige LED-Elemente, die sich inmitten der Wohnwand befanden und den Fernseher einrahmten, über den Merwan eine seiner Playlists laufen ließ. Die Zeichen deuteten darauf, dass er heute erst spät zur Arbeit aufbrechen würde, wenn überhaupt. Sonst gab es für ihn keinen anderen Grund, um zuhause zu chillen.

»Ich hab Bereitschaftsdienst«, antwortete er auf meine kurze Rückfrage. »Ich wollte dich fragen, ob du kurz in Adnans Zimmer gehen kannst. Er hat sich meinen Laptop geliehen, ich brauche ihn wieder.«

»Dann hol ihn dir«, meinte ich.

Ich warf mich auf das Ecksofa und legte die Füße auf den kleinen Couchtisch. Bediente mich an einer Tüte Chips, die geöffnet herumstand und nur danach rief, leergegessen zu werden.

Merwan schüttelte den Kopf verneinend. »Nisan schläft doch im Moment in Adnans Zimmer. Ich kann da jetzt nicht einfach reinplatzen und meinen Laptop holen. Das wäre unangebracht, findest du nicht?«

Für einen Moment sah ich ihn an, als würde ich ihn fragen wollen, ob das gerade sein Ernst war. Er selbst wollte sie nicht stören, aber mich schicken, damit ich ihm seinen Computer hole? Wie unbeholfen und sensibel. Dennoch erklärte ich mich bereit, ihm diesen einen Gefallen zu tun.

Ich seufzte einmal tief, raffte mich dann langsam auf. »Na gut. Weißt du denn, wo der Laptop liegt?«

»Müsste auf seinem Schreibtisch liegen.«

Merwan erkannte meine Bereitschaft mit einem dezenten Nicken an, ehe er in sich zusammenfuhr, da sein Wecker anfing zu klingeln. Er reagierte genervt und müde auf das schrille Geplärre. Ich war wohl nicht die Einzige, die die Nacht größtenteils schlaflos verbracht hatte.

Vor Adnans Zimmer angelangt, musste mich ein wenig sammeln, bevor ich es betrat. Ich dachte daran, wie schwer die Umstände für Nisan sein mussten. An unser Treffen, an dem ich ihr Gönüls dreckige Wahrheit offenbart hatte. Der Frau, die ihr ihren Mann ausgespannt, ihre große Liebe ruiniert hatte.

Sie war aufgebracht und durch den Wind gewesen. Hatte sich nicht lange mit mir abgeben wollen. Zuvor wusste ich noch nicht mal, dass Adnan sie liebt. Ich war davon ausgegangen, Nisan und Adnan seien einander fremd gewesen und er hätte keinerlei Bezug zu ihr. Den hatte er, als er sie fand, auch wahrscheinlich nicht gehabt. Sonst hätte er sie schon am Anfang erkannt.

Folgte ich Mutters Erzählungen, so war Nisan ihrem ungewollten Ehemann Salman bereits zum zweiten Mal entwischt. Um ein Haar war es ihr gelungen, sich aus seinen Fängen zu lösen. Er hatte sie niedergeschlagen, missbraucht.

Ich wusste, dass ich meinen Teil zu Nisans Fluchtentscheidung beigetragen hatte. Dass Nisan Gönül konfrontieren; Gönül wiederum Salman rufen konnte und er die Möglichkeit hatte, Nisans Leben zu beenden. Doch Nisans Wille war zu stark, um durch einen Mann wie Salman gebrochen zu werden.

Ich lauschte an der Tür, um Geräusche oder eventuelle Gespräche auszumachen. Fehlanzeige. Im Raum tat sich nichts. Falls Nisan noch schlief, so schlummerte sie ruhig. Doch in dem Moment, in dem ich nach der Klinke griff, vernahm ich ein leises Kichern. Ruhiges, aber raunendes Lachen, als hätte jemand einen guten Witz erzählt. Als würde man sich zumindest bemühen, die Beherrschung nicht zu verlieren und in intensives Gelächter auszubrechen.

Und so trat ich ein. Was sich darin befand, überraschte mich zugegeben ein wenig. Ich erblickte Adnan und Nisan, die Arm in Arm im Bett angeschmiegt lagen und sich anlächelten. Gemeinsam lachten, flirteten. Der ein oder andere Kuss auf Nisans Schläfe entging mir nicht. So romantisch hatte ich meinen Bruder noch nie erlebt, es schockierte mich.

»Was heißt eigentlich Ich liebe dich auf Arabisch?«

»Bhebik

Er streichelte Nisans Arm, wanderte mit den Fingern sanft durch ihre geschmeidigen, hellen Haarsträhnen und zwang sich, ein Lächeln in die müden Mundwinkel zu drücken. Sie bemerkten nicht, dass ich sie beobachtete, bei- was auch immer sie da gerade taten.

Euphorie stieg in mir empor. Ich freute mich für Adnan. Er hatte sich sein Glück ehrlich erkämpft. Mir ging das Herz auf. Endlich war er glücklich. So richtig glücklich und verliebt. Wie er mit den Händen an ihre Wangen fuhr und ihr Gesicht zwischen seinen Fingern wog. Ihre Lippen waren kurz davor, aufeinander zu landen, bevor ich...

»Ich will euch ja nicht stören, aber-«

Sie fuhren in sich zusammen. Köpfe, die gegeneinanderstießen. Schmerzerfüllt stöhnten sie auf, rieben sich die Stirn. Adnan sah so müde aus. Nevermind, nun war er wach. Ich erinnerte mich daran, dass sie echt lang auf dem Balkon gestanden und sich unterhalten hatten. Da hatte Adnan bereits einiges an Alkohol intus gehabt. Das Weinregal, aus dem er sich in letzter Zeit häufiger bediente, war auf einen erstaunlich geringen Bestand geschrumpft.

Nisan hingegen wirkte ausgesprochen ausgeruht, als hätte sie den fehlenden Schlaf der vergangenen Tage und Wochen großzügig nachgeholt. Die Schwellungen, die ihr Gesicht die vergangenen Tage unübersehbar ausgeschmückt und wie Tattoos verziert hatten, waren größtenteils gewichen. Sie schien sich wieder erholt zu haben.

»Bleib jetzt ganz ruhig und mach die Tür zu«, ermahnte Adnan mich, als wüsste er bereits, dass ich kurz davor war, wie ein kleines Mädchen loszukreischen. Mir war danach, doch ich wusste, dass dies kontraproduktiv war, solange noch niemand außer mir von ihrer Beziehung wusste.

Adnan ließ sich sanft zurück in die Matratze sinken und striff sich mit den Fingern aufgeregt über die Stirn. »Was willst du so früh von mir? Sind etwa schon wieder Ferien?« Sein Blick ging flüchtig auf sein Handy.

»Ich schwänze«, gestand ich. »Merwan braucht seinen Laptop. Er hat mich geschickt, weil er Nisan nicht stören wollte.«

»Wie vorbildlich euer Bruder ist«, lachte Nisan verlegen. Mit bedachter Stimme fuhr sie fort: »Bei mir zuhause ist man damals ohne Rücksicht auf Verluste einfach ins Zimmer geplatzt.«

Ich verlor mich in ein mindestens genauso verlegenes Lachen, doch Adnan kam uns in die Quere. »Vorbildlich? Er schickt Hilal, das ist das Schlimmste, was er hätte tun können. Stell dich schon mal drauf ein, dass bald das ganze Viertel von uns weiß.«

»Ha ha ha, lustig«, zischte ich und verdrehte die Augen. Hätte ich ein Kopfkissen zur Hand gehabt, hätte ich es ihm im hohen Bogen direkt ins Gesicht geschmissen. »Ich will nur Merwans Computer, was ihr sonst macht, ist mir egal.«

Auch Nisan ermahnte Adnan. »Sei mal was netter zu deiner Schwester, ja? Ohne sie wäre ich jetzt immerhin nicht bei dir.«

Obwohl Adnan sich anfangs verwundert darüber zeigte, dass Nisan ihn maßregelte, schlich sich gleich darauf ein verständnisvoller Ausdruck in sein angespanntes Gesicht. Er verstand, worauf sie hinauswollte, und warf mir mit zugezogenen Augen einen berechnenden, beinahe grimmigen Blick zu. »Der Punkt geht an euch.«

Er verschnaufte noch ein paar Sekunden und streckte sich ausgiebig, bevor er sich mehr schlecht als recht aus seinem Bett räkelte. Er beklagte sich kurz über Rückenschmerzen und ein paar andere Wehwehchen, bevor er anfing er, seinen Schreibtisch auseinanderzunehmen.

Es dauerte bestimmt drei oder vier Minuten, bis Adnan das Meer aus Ordnern, Akten und Papier aller Art durchforstet hatte und ein silbernes Notebook zückte. »Hier, nimm schon mal«, meinte er und streckte mir das Gerät entgegen. »Ich such noch das Ladekabel.«

Da auch das eine Ewigkeit dauern konnte, nutzte ich die Gelegenheit und warf mich aufs Bett, wo sich auch Nisan mittlerweile aufgerichtet hatte und versuchte, auf ihr Leben klarzukommen. Sie gähnte, versuchte dies jedoch elegant hinter ihrem Handrücken zu verstecken.

»Ich bin echt froh, dass du es hierhergeschafft hast. Geht es dir schon etwas besser?«, fragte ich mit vorsichtiger Besorgtheit. »Du siehst heute viel besser aus als vor ein paar Tagen.«

Nisan lächelte dankend. »Ich fühle mich auch besser. Tut mir leid, dass ich vor ein paar Tagen so unfreundlich zu dir war. Du meintest es nur gut mit mir«, entschuldigte sie sich und knetete verlegen auf ihrer Handfläche herum.

»Ich hätte genauso reagiert«, beschwichtigte ich sie. Es kam immerhin nicht jeden Tag vor, dass sich die neugierige Schwester des Ex-Partners an die Fersen heftete. Ihr Verhalten war voll und ganz nachvollziehbar.

Nur wenige Augenblicke später flog die Tür erneut auf. Merwan, der seine behaarte Brust mittlerweile unter einem beigen Pullover versteckt hatte, warf mir einen fragenden Blick zu.

»Hilal, mein Laptop«, erinnerte er mich mit äußerst ungeduldigem Unterton. »Du hättest ihn mir ja wenigstens schon mal bringen können, anstatt dich hier breit zu machen.« Sein Blick schweifte zu Nisan, die ihn mit einem Winken begrüßte. »Guten Morgen, Nisan. Wenn Hilal dich nervt, schick sie einfach weg.«

»Alles gut. Hilal und ich verstehen uns«, nahm sie mich in Schutz. Ihr Lächeln glitt in meine Richtung. Merwan zeigte sich unbeeindruckt.

Er richtete sich zu Adnan und nahm plötzlich geduldig auf dem Drehstuhl Platz. »Musst du nicht gleich zur Arbeit? Du siehst echt scheiße aus, Mann.«

»Lange Geschichte«, murmelte er.

»Seine Chefin hat ihn beim Rauchen erwischt«, offenbarte Nisan und sah Adnan an, als sei das irgend so ein Insider zwischen den beiden. Urkomisch klang es allemal.

Merwan und ich nahmen den Augenkontakt auf, da wir mit der Ernsthaftigkeit dieser Botschaft alles andere als gerechnet hätten. Doch je länger wir in Adnans Gesicht nach einem Grinsen suchten, das vielleicht darauf hindeutete, dass er und Nisan uns nur verarschen wollten, umso klarer wurde uns, dass es kein Scherz war.

»Jetzt ohne Scheiß?«, lachte Merwan. »Ich wollte dich eh fragen, wann du aufhörst zu rauchen. Es wirkt sich negativ auf die Potenz aus, weißt du doch, oder?« In dem Moment sah er sowohl Adnan als auch Nisan gleichzeitig an. »Du willst bestimmt mal Kinder haben und bist nicht mehr der Jüngste, wobei das noch das geringste Problem i-«

»Fick dich. Du sprichst, als wäre ich 50«, unterbrach Adnan den Vortrag und feuerte eine Handvoll Papierbälle in die Richtung unseres Bruders. »Ich könnte locker aufhören.« Er untermalte seine Aussage mit einem siegessicheren Lachen, ehe er sich wieder in das Chaos auf seinem Schreibtisch stürzte.

»Sicher?«, kam ihm Nisan zuvor. »Gestern, kurz bevor wir schlafen gegangen sind, hast du bestimmt zehnmal nach deinen Zigaretten gefragt. Wenn du mich fragst, deuten alle Zeichen auf Abhängigkeit.« Merwan und ich verfielen in Gelächter.

»Fall mir mal nicht in den Rücken, okay?«, rief Adnan. Er hantierte mit dem weißen Netzteil in seinen Händen herum. »Hier hast du dein Kabel, Merwan. Und Hilal ... mach dich mal fertig. Wir gehen rüber ins Café, ich muss mal mit dir reden.«

Mein Puls stieg augenblicklich an und ich fragte mich, worüber er mit mir sprechen wollte. Ob ich ihm mit meinem plötzlichen Erscheinen zu sehr auf den Schlips getreten war. »Hab ich was Schlimmes getan?«

Kommentarlos striff er sich einen schwarzen Hoodie über und schlüpfte in dunkle Nikes. Als er vor mir stand, schüttelte er entwarnend den Kopf. »Quatsch. Es geht um eine wichtige Sache, die ich dir nicht länger vorenthalten möchte.«

Sein Blick ging zu Nisan, die seine Aussage mit einem verständnisvollen Nicken absegnete und mir somit die endgültige Entwarnung gab, wenn ich mich auch fragte, wieso er sich für ein Gespräch extra in ein Café setzen wollte.

Ich tat es Adnan nach. Ich ging in mein Zimmer und kleidete mich schlicht in einem dicken Pullover, der weit über meine Oberschenkel fiel. Wahrscheinlich würden wir aussehen wie Penner, sobald wir vor die Tür traten, was allerdings bedeutete, dass es sich um kein besonders anspruchsvolles Thema handelte.

Binnen weniger Minuten hatten wir unsere Wohnung verlassen; meine Neugier wuchs, während der Magen knurrte. Gut möglich, dass wir eine Kleinigkeit aßen, während er mir sagte, was er auch immer sagen wollte.

Bei der Café-Bäckerei Kocak handelte es sich um eine kleine gemütliche Bäckerei mit Sitzbereich, die sich im Erdgeschoss unseres Nachbarhauses befand. Für gewöhnlich war sie neben dem Waschsalon gegenüber der Ort, an dem die älteren Frauen unserer Nachbarschaft aufeinandertrafen, sobald es (mehr oder weniger) brisante Neuigkeiten zu besprechen gab.

Wahrscheinlich hatte Adnan sich diesen Ort ausgesucht, da angesichts der Uhrzeit noch nicht viel los war. Es war Viertel nach sieben, eisig kalt und die Sonne schob sich am Horizont gerade erst zwischen einer üppigen Wolkendecke hervor.

»Worüber willst du mit mir sprechen?«, fragte ich, noch bevor wir überhaupt die Schwelle des kleinen Cafés betreten hatten. Ich war ungeduldig wie ein kleines Kind und wollte endlich die Gewissheit haben. Was dann kam, überraschte mich sehr.

»Über unseren Vater.«

• • •

»Er wird also freigelassen?«

Mit gemischten Gefühlen stocherte ich in dem Stück Haselnusstorte herum, das ich mir zuvor voller Vorfreude bestellt hatte. Ich hatte nicht gewusst, dass Adnan mit mir über unseren Vater sprechen wollte, und die Neuigkeiten waren alles andere als positiv. Sie ließen mir den Appetit vergehen und sorgten dafür, dass ich den Teller mit der unangerührten Torte ein Stück weit vor mich schob.

Adnans Mimik verriet mir, dass ich korrekt schlussfolgerte. Unser Vater, der jahrelang ungestraft Scheiße gebaut hatte, würde seine lebenslange Haftstrafe nach knappen viereinhalb Jahren beenden dürfen. Der Grund: Krebs.

Unter normalen Umständen hätte ich so was wie Mitgefühl entwickelt. Er war immerhin mein Vater, mein Fleisch und Blut. Hatte mir das Leben geschenkt und mich in den frühen Jahren meines Lebens behütet aufwachsen lassen. Doch bei aller Dankbarkeit ... die Zeit danach war stets von Unsicherheit geprägt gewesen.

Für Drogen und Alkohol hatte er Geld gehabt, genauso wie für die vielen Frauen, mit der er unsere Mutter in unseren eigenen vier Wänden betrogen hatte. Für die Miete und unser Essen war nichts übriggeblieben.
So mussten wir wegen ihm oft umziehen. Von der einen Siedlung in die nächste, einmal sogar ins Obdachlosenheim. Mietschulden ohne Ende, etliche Besuche von Gerichtsvollziehern, die all unser Hab und Gut weggepfändet hatten, bis nichts mehr zu holen übrig war.

Als er verurteilt wurde, spielte er sich auf einmal als der Pate auf, der sich schon immer fürsorglich um seine Familie gekümmert hatte. Von Problemen wollte er nichts wissen. Tat auf großzügig und schickte Adnan Briefe, in denen er ihm mitteilte, er würde uns viel Geld zukommen lassen, mit dem wir all unsere Probleme aus dem Weg schaffen könnten.

Davon hatten wir nie etwas zu Gesicht bekommen und wollten es auch nicht. Er hatte uns angelogen, um uns still zu halten. Den Lebensstandard, den wir heute führten – große Wohnung, ein Leben ohne Hunger – hatten meine Brüder allein aufgebaut, ohne auf die scheinheilige Hilfe des ungeliebten Erzeugers angewiesen zu sein. Und nun mussten wir ihn bei uns aufnehmen.

Ein bitterer Beigeschmack verteilte sich auf meiner Zunge. Ich schluckte tief, senkte den Blick. Mir fehlten die Worte, während sich der Blick meines Bruders auf mir festgebrannt hatte. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, meinte ich. »Das wird so schiefgehen. Nicht mal der Krebs hält ihn davon ab, ein schlechter Mensch zu sein.«

»Wir müssen es versuchen«, sprach Adnan und ließ vor Anspannung die Fingerknöchel knacken. »Ich würde mich schlecht fühlen, wenn ich ihm nicht helfe. Sollte er aufmüpfig werden, kann ich meinen Kollegen jederzeit Bescheid sagen und sie bringen ihn woanders unter.«

»Hast du Mama schon davon erzählt?«

Kopfschütteln. Bestimmt hätte er es getan, wenn er keine Angst vor ihrer Reaktion hätte. »Sie empfängt ihn doch mit offenen Armen. Sie sagt immer, dass sie sich auf seine Briefe freut, und so. Dabei kommen schon seit Jahren keine mehr an. Es ging mir halt um dich, weil ich nicht wusste...«

Adnan nippte an seinem Espresso, um eine kleine Gesprächspause herbeizuführen und einen Moment lang in sich zu gehen. Er wusste nicht, was er antworten sollte und wusste, er würde sich verhaspeln.

»Weil du nicht wusstest, ob ich noch das gleiche Opfer wie früher bin?«

Ich wollte nicht in Adnans Kopf blicken. Womöglich dachte er, ich sei immer noch so instabil wie damals und käme nicht allein mit den Taten unseres Vaters zurecht. Doch die Zeit ohne ihn hatte mich stärker gemacht. Erst nachdem er verhaftet worden war, war unsere Familie gesund geworden.

»Ich hab gestern mit Nisan darüber geredet«, erklärte Adnan und fuhr sich verlegen durch die dunklen Locken. »Es hat mir Bauchschmerzen bereitet, nicht zu wissen, wie du darauf reagieren wirst. Deswegen wollte ich mit dir reden. Mich vergewissern, ob ich mir Sorgen um dich machen müsste, falls ich ihn zurückhole.«

»Musst du nicht«, bestätigte ich. »Trotzdem frage ich mich gerade, was du sonst so vor mir geheim gehalten hast, weil du dachtest, ich würde die Nerven verlieren.«

Meine Aussage löste ein weiteres Schulterzucken seinerseits aus. »Hör mal, Hilal«, sprach Adnan. Er trat ein wenig näher und forderte mich auch dazu auf. Somit lehnte ich mich leicht über den runden Tisch. »Wir haben jahrelang tatenlos dabei zugesehen, wie dich dein eigener Vater tyrannisiert war. Dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen. Aber ich-«

»Wieso holst du ihn dann zurück?«, gab ich unbeeindruckt von mir, zog meine Augenbraue amüsiert hoch und rückte wieder zurück, um Distanz zu schaffen. Mein Rücken berührte das weiche, warme Leder der Sitzbank. »Für mich war er bereits gestorben, mir war er egal. Und du holst ihn zurück, weil du Mitleid mit ihm hast. Wer von uns beiden ist hier schwach?«

»Mitleid würde ich es nicht nennen«, verteidigte er sich und verschränkte die Arme gewissenhaft, um den Vorwurf abzufedern. »Mag sein, dass ich schwach bin. Ich konnte nicht Nein sagen, als es darum ging, Baba irgendwo unterzubringen. Das nehme ich zu hundert Prozent auf mich. Aber wir müssen auf Gott vertrauen. Vor ihm wird er sich irgendwann rechtfertigen müssen.«

»Auf Gott vertrauen? Dass ich nicht lache. Wie soll ich Gott vertrauen, wenn er ihm bisher alles durchgehen ließ? Wie soll ich mit jemanden im selben Haushalt leben, der mein Leben nachhaltig zerstört hat? Es fällt mir jetzt noch schwer, mich auf Leute einzulassen. Ich kann es einfach nicht verstehen.«

»Du bist emotional, ich versteh das. Aber es geht ums Prinzip, Hilal...«

Es gab kein Prinzip.
Sonst würde er nicht in sich gehen, um sich irgendwelche Argumente auszudenken. Adnan steckte in der Sackgasse und wusste, dass er nichts mehr sagen konnte.

Ich hatte noch so vieles zu sagen, wusste aber, dass wir uns im Kreis drehten. Ich hätte ihm noch auf so viele Arten sagen können, wie scheiße ich das alles fand. Dass Adnan mich erst jetzt ins Boot holte, obwohl das alles schon beschlossene Sache war.

»Freust du dich schon darauf, ihm Nisan vorzustellen?«, sprang ich prompt zur nächsten Frage, da mir die Stille allmählich zu langselig wurde. »Wie viel wetten wir, dass sie es mit ihm nicht länger als eine Woche aushält?«

»Gar nichts. Er wird sich benehmen müssen.« Er leerte seine Tasse und ließ sie auf dem hölzernen Untersetzer aufknallen. Er legte seinen Blick auf mir ab und schüttelte den Kopf, als hätte ich ihn an einem wunden Punkt erwischt. Hatte ich. »Diesmal wird er nicht zerstören, was mir lieb ist. Diesmal passe ich besser auf, das verspreche ich dir.«

»Versprich es nicht mir, sondern Nisan. Auf sie musst du jetzt acht geben. Sie ist so eine tolle und charmante Frau.«

Es stimmte mich glücklich zu sehen, dass sich Adnans Gemüt erhellte, sobald man von Nisan sprach. Schon das Erwähnen ihres Namens reichte aus. Man konnte an seinen roten Wangen erkennen, dass er frisch verliebt war. Kein Wort, kein Satz konnte auf Anhieb einen vergleichbaren Hauch von Zufriedenheit in sein Gesicht zaubern.

»Das klingt jetzt kitschig, aber...« Er ging wieder einen Moment in sich; suchte die Luft nach ein paar passenden Worten ab. Die Augen glänzten. »Diese Frau ist für mich der Beweis, dass es sich lohnt, für sein Glück zu kämpfen. Vor ein paar Wochen hat sie mich noch gehasst und jetzt stehen wir uns wieder ganz nahe.«

»Du hast dir dieses Glück verdient, Adnan.«

»Du hast für mich gekämpft, als ich kurz davor war aufzugeben. Du bist großartig.«

»Ja, bin ich«, grinste ich.

Selbst Adnan, der sich sonst eher ausdruckslos gab, konnte das breite Grinsen auf seinen Lippen nicht verbergen. Die Art, wie er mit seinen Fingern spielte, verriet mir, wie verlegen er war, wenn er an seine neue gewonnene Liebe dachte.

Obwohl mir die Neuigkeit über die Rückkehr unseres Vaters ein wenig Übelkeit bereitete, freute ich mich darüber, dass wir thematisch noch einmal die Kurve gekratzt hatten. Ich freute mich, dass Adnan in Form von Nisan eine neue Zuversicht erlangt hatte.

»Wir schaffen das, Hilal.«

Würden wir bestimmt.
Da war uns aber noch nicht bewusst, dass die kommenden Wochen eine Menge Stress für uns bedeuten würden. Wie hätten wir es auch wissen sollen?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top