23 | Wie sich alles änderte. (1/2)
NISAN
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18:27
Ich tat irgendwas, um mich abzulenken. Machte die Wäsche, half Gönüls Mutter beim Haushalt oder suchte einfach ein paar Minuten Schlaf. Nichts davon half mir weiter. Mein Kopf quoll über vor lauter Gedanken, zudem plagten mich herbe Kopfschmerzen, die mich letztendlich dazu zwangen, auf dem Sofa im Wohnzimmer Platz zu nehmen und den Versuch zu wagen, mich ein wenig auszuruhen.
Irgendwie wusste ich nicht, wo mir in der ganzen Sache mit Gönül der Kopf stand. Einerseits glaubte ich nicht an das, was Hilal mir erzählt hatte; andererseits waren die Details, die Hilal mir vorgetragen hatte, wirklich kurios.
Was mich irritierte war die Tatsache, dass Hilal präzise benennen konnte, welches Auto Gönül fuhr – einen silbernen VW Golf.
Dann die Art und Weise, wie Gönül nach Hause gekommen war ... nasses Haar, vollkommen unterkühlt und verunsichert ... es war seltsam. Äußerst seltsam. Es konnte nur eine Wahrheit geben und ich musste versuchen, die richtige zu finden. Aber wie?
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Gerade war ich dabei, wegzudämmern, als die Haustür mit einem sanften Ruck ins Schloss fiel. Ich schreckte auf und die gesamte Entspannung, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, schlug fehl.
Es war tatsächlich Gönül, die sich gelassen an den Türrahmen des Wohnzimmers lehnte und mich mit einem sanften Lächeln begutachtete. Sie winkte mir zu, flüsterte: »Hey, Schlafmütze. Ich hoffe, du hast dich hier nicht allzu sehr gelangweilt.«
Ich streckte mich ausgiebig, ehe ich mich behutsam aufsetzte. Die Kopfschmerzen, die mir zuvor die Nerven geraubt hatten, waren nahezu vollständig geschwunden; die Unsicherheit, ob Gönül wirklich sauber, oder aber all die Jahre unehrlich zu mir gewesen war, wiederum nicht ganz.
»Nein, alles gut«, sagte ich. »Ich hab Wäsche gemacht, deiner Mutter im Haushalt geholfen. Wenn mir langweilig gewesen wäre, wäre ich ein wenig joggen gegangen, oder so. Und du? Wie war's in der Uni?«
Gönül gähnte, kam näher, warf sich auf das andere Ende des Sofas. »Ich hab letzte Nacht nicht so gut geschlafen ...«, sie zögerte einen Moment. »das habe ich dann in den Vorlesungen und in der Bibliothek nachgeholt. Aber sonst ... war's ganz gut. Du fehlst mir in der Uni echt.«
»Früher oder später hätte ich das Studium dann doch sowieso beenden müssen«, antwortete ich. »Aber ich muss mit dir ganz dringend über etwas anderes reden, Gönül. Es ist wirklich wichtig.«
Da war sie aber schon in ihr Handy vertieft und ich drauf und dran, ihr das Gerät aus der Hand zu reißen und in die nächste Ecke zu werfen. Wenn es eine Sache gab, die ich hasste, waren es die Momente, in denen ich mit Gönül sprechen wollte und sie mit ihrem Handy rumspielte.
Ich riss das Handy aus Gönüls Händen und setzte mich darauf. »Gönül, ich will jetzt reden!«, rief ich. »Heute ist etwas passiert und ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Also bitte hör mir zu.«
Gönül suchte den Blickkontakt.
»Erzähl», flüsterte sie. »Was ist los?«
»Heute war jemand hier«, erklärte ich. »Genau genommen ... es war Adnans Schwester. Sie heißt Hilal. Und sie hat mir komische Dinge erzählt.«
»Was?! Woher weiß die denn, wo wir wohnen? Das ist doch bestimmt wieder auf Adnans Mist gewachsen, oder?!«
Ich schüttelte den Kopf. »Sie sagt, sie wäre von alleine hergekommen. Weißt du, was sie noch meinte? Dass du gestern Abend dort gewesen wärst und mit Adnan gesprochen hättest. Und ich möchte nun wissen, was du bei Adnan zu suchen hattest.«
»Nisan, das Weib belügt dich«, zischte Gönül. Wow. Das war nicht die Art Aussage, die ich von Gönül erwartet hätte. Gönül verschränkte ihre Arme defensiv. »Ich war nicht bei ihm, Nisan. Was sollte ich auch dort wollen? Ich habe diesem Mensch nichts zu sagen.«
Ich entgegnete trocken: »Sie meinte, dass du die Frau wärst, mit der Adnan mich betrogen hat. Und als das kam, musste ich echt schlucken ... nicht, dass ich ihr glaube, oder so, aber das war echt krass. Und sie schien das ernst zu meinen, Gönül.«
»Nisan!«, meckerte Gönül. Ihre wilde Gestik sprach Bilder; sie wurde ganz rot im Gesicht und spielte aufgeregt mit ihren Fingern herum. Was war der Grund dafür, dass sie so nervös wurde?
Gönül atmete einen Moment aus und hielt still. Sie war nicht mehr so zappelig, ging für einen kleinen Moment in sich, woraufhin sie sich zu beruhigen schien. Aber anscheinend hatte ich mich geirrt. Es war, als säße eine Fremde vor mir. Derart aufgedreht kannte ich Gönül gar nicht. Das Gespräch wurde immer komischer.
»Weißt du was? Es reicht«, knurrte sie und sprang vom Sofa auf. »Ich fahre da jetzt hin und sage dieser Hilal, was Sache ist! Die kann was erleben...«
»Woher weißt du, wo sie wohnt? Warst du etwa doch dort?«, fragte ich. Dabei biss ich mir vor Anspannung so stark in den Innenbereich meiner Wange, dass ich wenig später den metallischen Geschmack von Blut vernahm. »Sag es doch einfach. Ich wäre auch nicht sauer, falls du das denkst.«
Ich wäre nur enttäuscht, zerstört.
Mein Vertrauen wäre gefickt.
Nur das, mehr auch nicht.
»Hörst dir selbst zu?!«, krähte Gönül, ehe sie wie eine Verrückte an mir und meinem Körper rüttelte. Als wenn das was brächte. »Nisan, hör mir zu. Du bist meine beste Freundin. Denkst du echt, ich sei unehrlich zu dir? Willst du etwa der Schwester des Mannes glauben, der dich betrogen hat? Willst du, dass die beiden unsere Freundschaft endgültig zerstören?«
Gönüls lange Fingernägel bohrten sich in das Fleisch meiner Schultern; ihre Hände lagen wie angewachsen auf mir. Ihre Augen hafteten so aufdringlich auf meinen; die Brauen hielt sie bis zum Anschlag zusammengezogen. Was auch immer gerade mit ihr los war, ich hatte das Gefühl, dass Gönül den Verstand verlor.
»Lass mich los, du tust mir weh.« Mit einem Ruck stieß ich Gönül von mir herunter und gewann ein wenig Distanz zwischen uns. Um ehrlich zu sein war mir die ganze Situation ein bisschen zu viel. »Ich weiß doch selbst nicht, was ich glauben soll. Ihr erzählt mir alle verschiedene Geschichten. Gönül ... ich glaube, ich ziehe mich mal kurz ins Zimmer zurück. Das ist mir gerade ein wenig zu viel hier.«
Ich sprang vom Sofa auf und schritt zur Tür, von wo ich Gönül noch einen Moment lang musterte. Sie regte sich gar nicht, sondern versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Aber sie wirkte auch nicht so, als würde sie mich vom Gehen abhalten wollen. Ich jedenfalls hatte ihr nichts mehr zu sagen und entschloss mich, aufs Zimmer zu gehen. Was auch immer der Grund war, dass sie so gereizt reagierte: Sie benahm sich merkwürdig. Nicht so, wie man es von der besten Freundin eigentlich erwartete.
Auf dem Zimmer angekommen, ließ ich mich mit voller Wucht aufs Bett fallen. Da ich gefühlt nichts wog, hielt das Bett mein Gewicht ohne Weiteres stand. Das Gesicht vergrub ich in meinem Kopfkissen und wünschte mir, ich könnte dieser Welt entrinnen. Aber es ging nicht. Ich war ein Flüchtling meiner Selbst. Aber das Schlimmste war, dass es vor all den schlechten Dingen keinen richtigen Zufluchtsort gab.
Mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich Gönül vertrauen sollte. Sie war seit Kindheitstagen meine beste Freundin, hatte mich nach dem Krankenhausaufenthalt bei sich aufgenommen und ohne sie ... ohne sie wäre ich doch nichts.
Andererseits ... Hilal machte auf mich einen seltsam vertrauten Eindruck. In angenehmen Tönen hatte sie mir ihre Sicht der Dinge geschildert. Andererseits war Hilal im Grunde genommen eine Fremde. Wie sollte ich ihr also Vertrauen schenken? Dass sie Adnans Schwester war, machte die Sache auch nicht unbedingt besser. Trotzdem besaß Hilal etwas ungeheuer Vertrauliches.
Ich konnte mich gut an die Begegnung während der Busfahrt vor ein paar Wochen erinnern, in der sie mir Wasser angeboten und später ihre Handynummer zugesteckt hatte. Die Handynummer!
Sie hatte mir ihre Handynummer gegeben!
Sofort sprang ich aus dem Bett auf und begab mich zur Handtasche, die ich bestimmt mehrere Wochen schon nicht mehr angerührt hatte. Ging jedes einzelnes Fach darin durch, bis ich tatsächlich auf einen kleinen Fetzen Papier mit einer Nummer darauf stieß. Sie hatte mir ihre Nummer gegeben, damit ich sie im Bedarfsfall anrufen konnte.
Als Nächstes griff ich zum Handy. Auch das hatte ich nur ein einziges Mal verwendet; nun würde es endlich mal zum Einsatz kommen. Ich tippte die Nummer maßstabgetreu, wie sie auf dem kleinen Zettel stand, in mein Handy ein und erstellte einen neuen Kontakt namens ›HILAL‹. Dann drückte ich auf den grünen Button, um sie anzurufen.
Das Freizeichen ertönte.
Einmal... zweimal... drei...
›Hallo?‹
Mein Herz raste.
»Hilal? Bist du das? Ist das hier die richtige Nummer?«
›Ja. Und du bist?‹
»Nisan. Ich weiß, du hättest nicht gedacht, dass ich dich anrufe«, flüsterte ich in den Hörer. »Aber ich habe Gönül gerade mit dem konfrontiert, was du heute Morgen erzählt hast.«
Kurzes Zögern am anderen Ende der Leitung. Hilal seufzte, sprach dann: ›Ah, hallo. Wie hat sie reagiert? Habt ihr euch gestritten?‹
Es überraschte mich ein wenig, wie gelassen und im Endeffekt selbstlos Hilal auf meinen Anruf reagierte. Tatsächlich wusste ich nicht, ob man das Gespräch mit Gönül als Streit bezeichnen konnte. Allerdings war die Stimmung zwischen uns alles andere als heiter gewesen. Eher angespannt, aufgeheizt.
»Nein, gestritten nicht. Aber ich weiß nicht, was ich von der Situation halten soll.« Ich setzte mich aufs Bett und spielte verlegen mit meinem Haar. »Sie hat es abgestritten. Hilal?«
›Hm?‹
»Sag deinem Bruder nicht, dass ich dich angerufen habe, okay?«
›Du kannst dich auf mich verlassen.‹
»Und noch was ... bist du dir wirklich hundert Prozent sicher, dass Gönül gestern bei euch war? Warum sollte ich dir glauben?«
›Glaub doch, was du willst. Ich wäre nicht zu dir gekommen, wenn das gestern nicht passiert wäre. Ich wünschte, ich würde lügen. Aber es ist die Wahrheit. Gönül will nicht, dass Adnan Kontakt zu dir aufbaut. Aber er will nur dich! Er ist so verliebt in dich! Er bereut es, Nisan.‹
»Ja ja, schon gut«, wimmelte ich die Sache mit Adnan ab. Meine Wangen wurden ganz rot. »Ich weiß einfach nicht, was ich noch glauben kann. Die Sache wühlt mich auf. Ich weiß nicht mal, ob ich hierbleiben kann, wenn es sich bewahrheiten sollte. Was soll ich machen?«
›Ich kann dich nicht dazu zwingen, mir zu glauben‹, flüsterte Hilal mit ruhigem Stimmton. ›Aber du solltest dir dringend bewusst machen, dass dich auch die Menschen betrügen können, die dir ins Gesicht lächeln. Ich muss jetzt auflegen. Du schaffst das schon. Und wenn du was brauchst, melde dich einfach bei mir.‹
Hilal legte auf, bevor ich sie aufhalten konnte. Aber das war okay so, das war genug für mich. Ich schaltete das Handy aus und warf es irgendwo in Richtung Kopfkissen. Das Telefonat hatte mich kein bisschen weitergebracht, sondern den Gewissenskonflikt, mit dem ich mich herumschlagen musste, nur noch verschärft.
Die Tür flog auf. Es war Onur, mit dessen Anwesenheit ich in diesem Moment wirklich nicht gerechnet hätte. »Mit wem hast du telefoniert?«, fragte er, bevor er seine Arme verschränkte. »Und was hast du mit Gönül gemacht? Die sitzt unten und heult rum.«
»Ist doch egal, was los war, oder?«, verteidigte ich den Konflikt, welcher an sich nur eine Sache zwischen Gönül und mir war. »Und es ist auch egal, mit wem ich telefoniert habe.«
»Hast du mit Adnan telefoniert?«
»Nein, warum sollte ich?«, entgegnete ich. Im Übrigen fragte ich mich auch, weswegen Onur so aufdringlich war. Er wirkte in seinem Auftreten aufgeladen und angespannt. Und was er dann tat, war echt das Letzte.
Onur begab sich zum Bett; in etwa dorthin, wo das Handy lag. Er nahm es und schaltete es an. »Sag mal, geht's noch?!«, rief ich. Ich kroch über das Bett bis hin zu Onur, um ihm das Handy wieder aus der Hand zu reißen. Mit meiner Hand kam ich gerade so an seine heran; als ich sie aber umfasste, stieß Onur mich aufs Bett zurück.
»Hilal ist seine Schwester, hm?«
»Was ist los mit dir, Onur?!«, rief ich zeitgleich, da ich noch immer nicht verstand, was mit ihm los war.
Ich sprang vom Bett auf und musterte Onur. Als er offenbar nichts mehr auf dem Handy finden konnte, warf er es zurück aufs Bett und kam auf mich zu. Eine Gänsehaut packte mich. Egal wie nett Onur manchmal wirken konnte, in diesem Augenblick beängstigte er mich, schüchterte mich ein und drang mich förmlich in die Ecke.
»Keine Sorge, Nisan, ich tue dir nichts«, raunte er nun etwas ruhiger in meine Richtung. »Ich will nur, dass du verstehst, dass an all dem, was diese Hilal dir versucht zu erklären, absolut gar nichts dran ist. Verstehst du das?«
Mein Blick ging auf den Boden. Ja, ich versuchte tatsächlich, es zu verstehen. Nichts wollte ich lieber tun als zu verstehen, dass Gönül keine Schuld traf und sich Hilals Aussagen als falsch erwiesen. Aber da Gönül sich die vergangenen Tage so komisch verhalten hatte, fiel es mir umso schwerer, überhaupt noch an etwas zu glauben. Ich schüttelte den Kopf.
»Warum sollte Gönül lügen?«, fragte Onur.
»Warum sollte Hilal denn lügen?«, entgegnete ich zum Trotz. »Gönül konnte mir gestern nicht mal genau sagen, wo sie gewesen war. Heute Morgen kommt Hilal aus dem Nichts hierher und erzählt mir, Gönül habe mir Adnan damals ausgespannt! Ist das nicht komisch? Ist das nicht verdammt komisch? Ich weiß nicht, was ich überhaupt noch glauben soll, Onur!«
Wieder näherte Onur sich mir, während sich das merkwürdige Gefühl der Furcht in mir mehr und mehr verdichtete. Eine Art Furcht, die ich selten in mir trug, die ich in letzter Zeit nur ein einziges Mal verspürt hatte; verspüren musste. Die Furcht, die meine damals so makellose Haut in Form von tiefen Messerstichen gezüngelt und diese ihrer Unschuld beraubt hatte; nein, noch mehr: die ihr ihr bisheriges Leben genommen hatte. In diesen Sekunden fürchtete ich mich vor Onur genauso sehr, wie ich mich damals vor Salman gefürchtet hatte.
Bisweilen war er mir so nahe gekommen, dass ich mit dem Rücken fest die Wand berührte und seinen Atem auf meinen Lippen spüren konnte. Frischer, reiner, ruhiger; auf der anderen Seite aber tiefer, stürmischer, rachgieriger Atem.
»Vertrau mir einfach«, flüsterte er mit zartem Klang in der Stimme. »Sie ist deine beste Freundin und würde dich niemals anlügen. Ich bürge für meine Schwester; sie ist ein guter Mensch, Nisan. Wie könnte sie dich anlügen, wo sie dich doch hier bei uns aufgenommen hat?«
Nun versuchte Onur, mich mit seinen tiefbraunen Augen in den Bann zu ziehen. Aber ehrlich gesagt waren diese eher aufdringlich als vertrauenerweckend, ließen einen eiskalten Schauer über meinen Rücken laufen. Sie steckten unter einer Decke. Das wusste ich. Sie versuchten mich für dumm zu verkaufen. Nein, nicht mit mir.
Ich versuchte mich zu rühren, kam aber nicht von der Stelle. Meinen blick konnte ich nicht von seinem lösen; viel zu unsicher war ich darüber, was er tun würde, wenn ich versuchte, mich aus der Sackgasse zu befreien. Wie bei Salman.
»Wir wollen nur das Beste für dich«, meinte er. Doch ich glaubte ihm kein Wort mehr. Kein Wort von dem, was er sagte. »Nur das Beste.«
»Lass mich durch«, forderte ich ihn auf. »Bitte. Das wird mir hier gerade zu viel. Ich brauche meine Ruhe.«
Den Versuch, ihm auszuweichen und mich aus dem Staub zu machen, ließ Onur mir nicht. Er drängte sich wieder vor mir. Seine Arme hoben sich und er fing an, mich gegen die Wand zu drücken; Widerstand gegen meinen Körper auszuführen. Mir war, als bekäme ich Platzangst. Es war eng; ich wurde unruhiger und unsicherer. Aber Onurs starken Arme lagen stetig auf mir. Ich bekam ihn aber auch nicht weggedrückt, da sein Körper einfach zu fest und schwer war.
»Wenn du mich jetzt nicht sofort loslässt, schreie ich. Lass mir bitte meinen Freiraum, ich möchte das nicht!«
Und tatsächlich ... irgendwas war anders. Onurs Kraft ließ nach, seine Arme von mir ab und das Mindestmaß an Freiraum, das ich überhaupt noch besaß, zurück. Onur seufzte. Scheinbar überkam ihn doch die Vernunft, denn er zog die Augenbrauen so reuevoll, so zurückhaltend zusammen.
»Es macht keinen Sinn«, sprach er. »Ja. Sie hatte damals was mit Adnan. Ich habe davon erfahren, als er nachts mal hier war. Gönül hat ihn hierher geholt. Adnan bereute es; sagte, er wolle sich neu in dich verlieben, eine Familie gründen. Gönül will das unter allen Umständen verhindern. Sie sagte, sie würde niemals zulassen, dass Adnan und du noch einmal zusammenkommt.«
Bevor ich mich zu der Sache in irgendeiner Form äußern konnte, da es tief in mir brodelte und ich das Bedürfnis hatte, irgendetwas zu zerstören, fuhr Onur fort.
»Guck ... Gönül und ich hatten eine Art Deal. Unsere Abmachung lautete: Ich halte meine Schnauze und darf dich näher kennenlernen. Wäre alles gut gegangen, hättest du Adnan vergessen und ich hätte freie Bahn. Aber seine Schwester konnte ja einfach nicht ihr Maul halten.«
Also hatte Hilal tatsächlich recht gehabt. All das, wovor ich mich den ganzen Tag lang gewehrt hatte, war eingetreten. Wenn nun auch noch Onur seine Schwester belastete, wie sollte ich ihr dann überhaupt noch ins Gesicht sehen können, ohne den Drang zu verspüren, ihr vor die Füße zu spucken?
Ich musterte Onur, wandte den Blick später aber wieder von ihm ab. Dabei versuchte ich, mir den Schmerz nicht ansehen zu lassen, auch wenn mir die Tränen klar und deutlich ins Gesicht stiegen. »Es ist okay. Ich sag da nichts mehr zu. Ich packe meine Sachen zusammen und werde hier nicht länger bleiben, sonst ... sonst halte ich das hier nicht mehr lange aus.«
»Wo willst du denn hin?« Als ich versuchte, ihm auszuweichen, versperrte er mir den Weg. »Du hast doch niemanden sonst.«
»Das lass mal meine Sorge sein, okay? Ihr habt genug für mich getan. Und auch genug mit mir angestellt. Lass mich vorbei.«
Als ich Onur dann endlich ausweichen konnte, striff ich seinen Körper ungewollt grob, worauf er allerdings nicht reagierte. Er ließ zu, dass ich die schwarze Sporttasche aus dem Kleiderschrank kramte, in die ich nach und nach alles an Anziehsachen packte, die ich mitgebracht hatte. Ich besaß nicht sonderlich viel Kleidung, sodass ich in der Sporttasche noch meine Handtasche verstauen konnte.
»Okay, geh ruhig«, meinte Onur, als ich auf der Schwelle zum Flur stand. »Aber erinnere dich immer daran, dass hier niemand etwas Böses für dich wollte. Und auch Gönül ist nur ein Mensch.«
Ich nickte. Verließ das Zimmer, raste regelrecht die Treppe hinunter und zog mir die Schuhe an. Ja, einen Abschied würde ich Gönül nicht gönnen, das wusste ich. Das hatte sie auch nicht verdient. Im Endeffekt wollte ich einfach nur weg von hier.
Doch gerade, als ich die Türklinke nach unten drückte und drauf und dran war, mich aus dem Staub zu machen, hörte ich meinen Namen ein, zweimal ganz leise aus dem Wohnzimmer schallen. Ich schauderte einmal kurz, ehe ich mich in langsamen Tempo den Gang entlang zum Wohnzimmer bewegte.
Die Tür stand halb geöffnet, sodass ich Gönül sehen konnte. Sie stand in der Mitte des Raumes, rührte sich aber keinen Meter, als sie mich zu Gesicht bekam. Ich ließ die Sporttasche mit meinen Sachen auf den Boden sinken und schubste die Tür ganz sanft auf.
»Hör zu. Ich weiß, dass du sauer bist. Aber wir können doch in Ruhe über alles reden, oder?«
Sie wirkte ein wenig verunsichert, als wenn sie sich vor irgendetwas fürchtete. Vor mir etwa? Vor meiner Reaktion? Ich antwortete nicht, sondern beobachtete sie einfach. In ihren trüben Augen lag ein wenig Scham, ein wenig Reue, aber ob sich dahinter überhaupt richtige Emotionen befanden, bezweifelte ich. Aber das allein war nicht das Problem.
Ich spürte, dass irgendwas nicht in Ordnung mit Gönül war. Normalerweise kam sie sonst immer direkt auf mich zu, überschüttete mich sowohl mit ihrer Körpersprache, als auch mit ihren Worten.
Seufzend betrat das Zimmer. Hielt genug Distanz zu Gonül, sah ihr aber direkt ins Gesicht und sprach: »Es ist besser, wenn wir uns erstmal nicht mehr wiedersehen. Ich muss nachdenken und ich habe das Gefühl, dass auch du ein wenig Freizeit gebrauchen kannst. Bitte kontaktiere mich in der Zeit nicht, okay?«
Als mir nach wenigen Sekunden klar wurde, dass ich von Gönül keine Antwort mehr zu erwarten hatte, war die Sache für mich auch schon so gut wie beendet, weswegen ich keinen Grund mehr hatte, mich weiter zur Sache zu äußern.
Ich drehte mich um und nahm eine Person im Türrahmen wahr. Mein Herz setzte für einen Moment aus und ich taumelte ein, zwei Schritte zurück, bevor ich so richtig realisierte, was hier vor sich ging. Meine Schläfen brannten, loderten regelrecht und mein Magen zog sich zusammen. Wie hatte er mich gefunden?
»Salman«, flüsterte ich.
Er antwortete mir nicht. Sein Blick klammerte sich in voller Aufdringlichkeit an mich, während sich seine Mundwinkel hoben.
Wie blöd war ich all die Wochen gewesen? Ich wusste doch, dass Salman oft vorbeikam, um Gönül nach mir auszufragen. Ich wollte doch nichts weiter, als von hier wegzugehen und abseits von Gönül meine Ruhe zu haben. Nun war alles vorbei. Salman hatte mich. Er hatte mich gefunden und würde mir kein zweites Mal die Gelegenheit geben, ihm zu entwischen.
Richtig unwohl ... nein, richtig panisch wurde ich erst, als Salman hastig in das Innenleben seines Regenmantels griff und eine Waffe zückte. Kein mickriges Messer, sondern eine richtige Pistole. Massiv, dunkel, bedrohlich. War es Salman zuvor nicht gelungen, mir mit einem Messer den Rest zu geben, so wusste ich, könnte nun wirklich mein letztes Stündlein geschlagen haben.
Ich schluckte tief, atmete ein und aus. Ein und aus. Ein und aus. Versuchte, nun nicht in die blanke Panik abzudriften. Das wollte er doch nur. Er wollte doch nur, dass ich Panik bekam und tat, wonach er verlangte. Dass ich mit ihm kam und mich einer arrangierten Ehe mitsamt Unterdrückung hingab. Mich von meiner freien Bestimmung verabschiedete.
Meine Kehle war so trocken wie Sandpapier, und noch während ich regelrecht nach Luft lechzte, trat mir dieser Mann, mit dem mich nur das leere Bündnis der Ehe verband, so gefährlich nahe, dass ich einfach nur im Erdboden versinken wollte.
»Du dachtest ernsthaft, du könntest dich hier vor mir verstecken? Ich wusste, ich finde dich. Ich wusste, dass du nicht intelligent genug bist, um mir davonzukommen. Und nun habe ich dich endlich da, wo ich dich haben wollte.«
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