11 | Erkenntnis.
HILAL YASIN
Adnan's Schwester
Ich führte die Kelle langsam in den Topf voller frischer Nudeln, um meinen beiden Brüdern das Abendessen zu servieren. Es war das erste Mal seit Tagen, dass wir gemeinsam miteinander zu Abend aßen und den Freitagabend ordentlich ausklingen ließen.
Während Merwan sich fast dauerhaft seiner Arbeit widmete und wir uns höchstens zum Essen zu Gesicht bekamen, hatte Adnan seine freie Zeit für Nisan genutzt. Egal ob montags, mittwochs oder freitags – Adnan verbrachte seine Zeit in Huzurs Klinik, um nach der mysteriösen Frau zu sehen. Und es konnte kein Zufall sein, dass er sich derart um eine fremde Frau kümmerte. Vielmehr kam es mir so vor, als sei mehr zwischen ihnen geschehen. Eine gemeinsame Vergangenheit oder dergleichen.
Ganz gleich, wie sehr Adnan mich als Schwester zu schätzen wusste: Er hasste meine Neugier wie die Pest. Egal wie viele Fragen ich ihm bezüglich der Person, welche ihn derzeit am allermeisten beschäftigte, gestellt hatte, er hielt dicht, blieb das verschlossene Buch, das er schon seit seiner Kindheit gewesen war. Keine Chance für mich, irgendwas herauszufinden. Allerdings verband uns zwei genau eins: Sturheit. Adnan wusste, ich konnte und würde nicht lockerlassen. Gerade deswegen versuchte ich mein Glück beim Abendessen.
»Hast du Mist gebaut?«, kündigte sich Adnan an. Wie immer striff er sich, durch ruhige Behaglichkeit gekennzeichnet, den dünnen Cardigan vom Leib und warf sich schier unelegant auf den Stuhl. Ich wich einen Meter von ihm. »Was meinst du?« Adnan wiederum lachte und erläuterte seine Aussage wie folgt: »Na, sonst machst du nie Essen. Wenn du keinen Stress hast oder was brauchst, weiß ich auch nicht, Alby.« (Mein Herz)
»Mama meinte, ich soll kochen«, log ich. Doch damit nicht genug. »Darf ich nicht mal kochen, ohne dass du Misstrauen säst?« Adnan stand auf, genehmigte sich einen Blick in den dampfenden Topf, welcher sich in der Mitte des Esstisches befand. Dann näherte er sich mir und verschränkte die Arme, da er der ganzen Sache immer noch nicht traute. »Hör mal zu, Hilal«, senkte er den Ton. »Du bist für mich Schwester und beste Freundin in einem. Wir kennen uns nicht erst seit gestern. Raus mit der Sprache.«
Ich verdrehte meine Augen und übernahm unbewusst Adnans unnahbare Körperhaltung. »Ich hab Nisan im Bus gesehen. Sie wurde entlassen.« Adnan riss die Augen auf, wich ein paar Schritte weiter zurück. »Weißt du, wo sie hingegangen ist?«
»Wenn du mir erzählst, was euch zwei verbindet, sag ich's dir«, improvisierte ich, ohne zu wissen, ob Adnan das Wissen darüber wirklich so wichtig war.
Aber da musste irgendwas gewesen sein, und ich zielte genau darauf ab, es herauszufinden. Adnans Reaktion hatte ihn verraten. Er war schockiert darüber, dass Nisan sich selbst entlassen hatte. Trotz der deutlichen Verunsicherung war Adnan bereit, noch etwas länger dicht zu halten. Adnan sprach: »Deswegen hast du gekocht, richtig? Du wolltest eine gute Atmosphäre schaffen, um deine Neugier zu stillen. Netter Versuch.«
»Nein, das ist falsch«, verteidigte ich mich. »Aber ich sorge mich. Welche Frau raubt dir die Sinne so sehr wie diese Nisan? Denk mal nach, Adnan. Du hast Urlaub und rennst einer fremden Frau nach!« Adnan platzte der Kragen. Er zog mich näher an sich heran und ließ die Augen auf meinem Gesicht brennen. Die Hand umschlang die ganze Zeit über meinen Ärmel, seine Fingerspitzen bohrten sich unzart in meine Haut. »Sie ist keine Fremde. Für dich vielleicht, aber für mich nicht. Ich hab Nisan geliebt, aber davon verstehst du nichts. Pass auf, was du sagst, oder ich mach dich fertig!«
Zwar kränkte mich seine Drohung, das wollte ich gar nicht bestreiten. Allerdings überraschte es mich stark, dass ich Adnan so schnell aus der Reserve gelockt hatte. Als Adnan mich von sich weg und gegen den Tisch schubste, wich mir ein ganzer Schwall an Tränen. Ich wich und ließ ihn mit der Aussage »Ich muss kurz aufs Zimmer« zurück. Adnan regte sich nicht, sondern blieb auf der Stelle stehen und behielt seine grimmigen Gesichtszüge.
Im Zimmer kam ich aufgelöst an, ohne genau zu wissen, weshalb. Ich fühlte mich hintergangen, obwohl er nichts Schlimmes getan hatte. Doch. Er hatte uns vorenthalten, dass er Nisan kannte. Vieles mir bereits im Voraus klar: Wie jede, die er liebte, hatte er Nisan womöglich schon nach kurzer Zeit fallen lassen, verletzt. Aber bei genau dieser Frau versuchte er nun sein Glück? Nein, das machte keinen Sinn. Das kaufte ich ihm nicht ab. Ich wollte nicht glauben, dass Adnan kurz davor war, denselben miesen Fehler wieder zu begehen. Das war nicht mein Bruder.
Einer Frau die Liebe vorzutäuschen. Eine Frau zu verletzen. Einer Frau zu zeigen, dass nicht er, sondern sie diejenige ist, die auf ihn angewiesen ist.
Und das verletzte mich als Frau zutiefst, vor allem wenn ich daran dachte, wie viel Kraft, Worte und Bittgebete es gebraucht hatte, um Adnan zurück auf den richtigen Weg und weg von den ganzen Frauen zu führen. In Worte fassen konnte ich sein Verhalten nicht.
Ich zückte mein Handy und überprüfte, ob schon irgendein Zeichen von Nisan eingegangen war. Eine Nachricht, ein Anruf, aber nein, rein gar nichts war angekommen. Wieso sollte sie auch? Ihre Worte im Bus rührten nicht daher, dass Adnan ihr fremd war.
Sie hatte keinen Grund, sich bei mir zu melden, wenn sie wusste, dass ich Adnans Schwester war. Er selbst hatte Nisan enttäuscht. Nun konnte ich Nisan nicht warnen, sondern musste zusehen, wie er versuchte, den Kontakt zu ihr wiederherzustellen.
Die Wohnungstür wurde kräftig zugeworfen, was ich auf Merwan zurückführte. Erst jetzt traute ich mich aus meinem Zimmer heraus und zurück in den Essbereich, in welchem sich tatsächlich der besagte Merwan über das zubereitete Abendessen hermachte. Ich klopfte zweimal gegen die Wand, um auf mich aufmerksam zu machen. »Guten Appetit«, flüsterte ich, als er mich erblickte. Merwan schreckte auf und drehte sich in meine Richtung: »Gute Nudeln. Danke fürs Essen, Hilal.« Ein Daumen nach oben.
Ich setzte mich neben Merwan. Es musste kindisch klingen, aber ich wollte nicht neben Adnan sitzen; ignorierte ihn und würdigte ihn keines Blickes. Aber ich fühlte mich auch jetzt unwohl. Hoffte, dass man mir die verheulten Augen nicht ansah. Und ich aß ruhig, um mich vom Streit abzulenken. Die Stimmung schien sich überall verteilt zu haben und sogar unseren unbeteiligten Bruder vom Beginn eines neuen Gespräches abzuschrecken.
»Was ist denn mit euch los?«, ertönte die vierte Stimme unseres Familienbundes – die unserer Mutter. Sie legte Handtasche und Jacke ab und setzte sich zu uns. Dem müden Ausdruck in ihrem Blick entnahm ich, dass sie müde war, weil sie sich wieder mal mit der mühseligen Arbeit als Putzfrau gequält hatte. Und das obwohl sie gar nicht musste, da beide ihrer Söhne noch zu Hause lebten und uns versorgten.
Das war in manchen arabischen Familien auch heute noch üblich. Die Frau, oder in dem Falle unsere Mutter, blieb zuhause, während sich das Familienoberhaupt um die (finanzielle) Existenz kümmerte. In den günstigsten Fällen war das der Vater, aber da unserer seit Jahren im Knast saß, sorgte Adnan – der älteste Sohn – maßgeblich für unser Leben. Doch darauf wollte sie sich nicht ausruhen und selbst einen Teil beitragen. Womit ich das einzige Mitglied in der Familie war, das nur zu Hause hing und höflich zur Schule ging.
Mutter setzte erneut an. »Was zieht ihr für Gesichter?« Der Blick ging zu Adnan. »Hast du deine Schwester angebrüllt?« Dann wich ihr Blick zu mir, und ich wusste, ich würde ebenfalls Kritik ernten. »Du weißt, dass du ihn nicht stören sollst. Wann wirst du nur daraus lernen, Hilal? Hm?-«
»Lass sie in Ruhe, Mama«, verteidigte Adnan mich unerwartet. »Wir haben gestritten. Aber wir sind erwachsen, wir kümmern uns allein drum. Lasst mich bitte alle allein, ja?«
Ohne sich am Essen bedient zu haben, erhob er sich und verließ den Bereich. In Mutters Augen erkannte ich das Entsetzen, einen fragenden Blick. Aber sie akzeptierte es, versuchte, sich nicht auf den Konflikt zwischen Adnan und mir zu versteifen. Sie musterte die Nudeln mit Bolognese-Sauce und sprach interessiert: »Das duftet gut. Hast du gekocht?«
Ich nickte ruhig, sah ihr in die Augen. »Ich dachte, wenn ihr alle arbeiten seid, koche ich was. Es ist einfach, aber wir werden immerhin satt.« Mein Blick wich auf Merwans halb gefüllten Teller und schließlich auf Mutters, der sich augenblicklich füllte. »Guten Appetit. Ich mache mich bettfertig und gehe für heute aufs Zimmer. Tesbah al khayr.« (Gute Nacht)
Ich räumte meinen Platz nicht ab und würdigte meine Mutter keines erneuten Blickes. Nur Merwan, welcher immer noch ins Essen vertieft war, klopfte ich auf die Schulter und wünschte ihm erneut guten Appetit. Dann verzog ich mich die Treppe hinauf und letztlich ins Zimmer, wo ich meine Ruhe hatte. Ein kleiner Balkon verband mein Zimmer mit dem größeren Wohnbereich. Angesichts des kühlen Abends striff ich mir einen großen Pullover über den Körper und schritt nach draußen. Ich brauchte diese Ruhe nun, doch ich hatte sie nicht. Nicht im Geringsten.
Adnans Worte hallten in meinem Kopf. Du bist für mich Schwester und beste Freundin in einem. Wir kennen uns nicht erst seit gestern. Raus mit der Sprache. Dann der Streit und sein unzärtlicher Griff, den ich noch immer in meinem Arm spürte. So hatte mich unser Vater immer gepackt. Es schauderte mir dauerhaft und ich lehnte mich vorsichtig an der Wand an, um Halt zu finden.
»Hilal, was ist los?« Ich wurde an der Schulter zurückgezogen. Erst als ich mich umdrehte und die Kapuze vom Kopf zog, erkannte ich, dass es Merwan war, der das Abendessen vollendet hatte. »Was soll denn sein?«, fragte ich still, blickte wieder auf das Lichtermeer in der Ferne. Er kam rum und lehnte sich ebenfalls an das Geländer, woraufhin er sich mit der Antwort eine Weile geduldete. »Ihr seid seit Tagen geheimnisvoll. Du und Adnan«, meinte er. »Entweder sehe ich euch gar nicht, ihr redet nicht... und jetzt habt ihr Geheimnisse vor mir.«
Ich lachte künstlich, schüttelte verharmlosend den Kopf. »Er wird es dir irgendwann von selbst erzählen.« - »Was wird er mir von selbst erzählen? Du hast gerade zugegeben, dass da was ist. Ich will es wissen.« Mein Brustkorb brannte, was darauf hindeutete, dass mir das Geheimnis schwer auf der Seele lag. Wenn ich Merwan davon erzählte, wäre Adnan sicherlich sauer auf mich. Aber dann enthielt ich mich nicht meines Wortes. Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf zwei der Stühle, die am großen Fenster angelehnt standen. »Setzen wir uns.«
Das taten wir. »Also?«, forderte Merwan. Er, der er auch ein begnadeter Raucher war, zückte eine Zigarette und steckte sich diese an. Ich seufzte, erzählte. »Die Frau ist seine Ex«, ließ ich es querbeet fallen. »Nisan. Die Frau, die ihr gefunden, die du verarztet hast. Er hat mir erzählt, dass er sie geliebt hat.«
Ich erwartete Aufregung, Krawall, doch Merwan zuckte bloß unbeeindruckt mit den Schultern, als sei das nichts Neues für ihn. »Er hat immer mit den Frauen gespielt, aber in letzter Zeit«, er schlug die Asche seiner Zigarette ab, »in letzter Zeit ist es um ihn und seine Frauengeschichten ruhiger geworden. Er nutzt jede Gelegenheit.«
»Denkst du wirklich, das reizt ihn? Wieso sollte er genau diese Gelegenheit nutzen? Wieso eine, die er mal hatte?«
»Vielleicht, weil er sie wirklich geliebt hat?«
Ich begriff.
Ich begriff und
verstand trotzdem nicht.
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