08 | Vertrauen wahren.
GÖNÜL KARAYİĞİT
Nisan's beste Freundin
Aufgebracht stocherte Salman im Salat herum. Seine Anspannung spürte ich bis hier, obwohl sich ein ganzer Tisch zwischen uns befand. Salman war sauer. Nisan hatte ihn bloßgestellt. Vor seiner Familie, vor ihrer. Behçet, Nisans Vater, setzte ihn schon seit dem Verschwinden unter Druck. Da ich Nisans engste Freundin war, setzte Salman wiederum mich unter Druck, sie so schnell wie möglich aufzuspüren und zu ihm zu bringen.
Wenn aufgedeckt würde, dass ich von ihrem Aufenthaltsort Bescheid wusste, würden sie mich kaltmachen. Salman, ihr Verlobter. Nisans Vater. Ich fürchtete mich. Doch meine Verpflichtung für Nisan, welche mir im Leben immer stets zur Seite gestanden hatte, war großer als die Furcht vor ihrer mafiaähnlichen Familie. Ich konnte meine beste Freundin nicht verraten, auch wenn das bedeutete, dass sie nie wieder zurückkehren konnte und man uns in der Öffentlichkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen durfte.
Nisan war verschwunden, und jeder einzelne hier merkte es. Während sich die Familie den Kopf darüber zerbrach, was Nisans Verschwinden für ihren allgemeinen Ruf bedeuten könnte, wurden die umliegenden Nachbarn, Bekannten und Freunde bereits hellhörig. Man sah Nisan nicht mehr in der Öffentlichkeit - weder in der Uni, wo wir gemeinsam Kunst studierten, noch in der Stadt. Obwohl überall, wo Nisan war, die Sonne erstrahlte, die Vögel zwitscherten und die Leute geselliger wurden.
Auch wenn nur eine Handvoll an Leuten, zu denen ich mich zählen durfte, wusste, wo Nisan sich befand, machte ich mir riesengroße Sorgen um sie. Denn da war noch Adnan, ihr Ex-Freund, von welchem wir jahrelang nichts gehört hatten. Auf einmal hatte Adnan sich in ihr Leben geschlichen. Ausgerechnet in dem Moment, in dem sie genug von den Männern hatte. Während ich mir Mühe gab, die Klappe zu halten, war es umso wichtiger, Adnan von Nisan fernzuhalten. Sie hatte es nicht verdient, von einem Haufen Männer belästigt zu werden.
»Wenn ich sie nicht finde, bin ich geliefert, Gönül«, war der erste Satz, der aus Salmans Kehle tönte und mich aus den Gedanken riss. Er kickte seine Salatschüssel in die Mitte des Tisches und verschränkte die Arme wie ein kleines Kind. Meinen Salat hatte ich noch gar nicht angerührt. Ich bekam nichts runter. »Wir müssen Nisan finden«, fuhr er fort. »Ruf nochmal an. Weit kann sie nicht sein.«
Ich seufzte aus. »Ich habe es zehnmal versucht, Salman. Nur die Mailbox. Ihr Handy ist aus. Musstest du sie unbedingt-«
»Sei still!«, schrie er. »Wir sind hier nicht allein. Niemand darf erfahren, was geschah, sonst sind wir geliefert.« Unbeeindruckt zuckte ich mit den Schultern und entschuldigte mich, um kurz die Toilette zu besuchen.
Nach dem Aufstehen drehte ich mich noch einmal zu Salman um, bemerkte, dass er meinen Körper auffällig musterte. Unschuldig sah er zu mir auf, brachte mich empört zum Lachen. Gern hätte ich ihm in diesem Moment so vieles gesagt, ihn niedergemacht. Aber ich ging einfach davon, ohne eine Streitigkeit zwischen uns herauf zu beschwören. Umso beruhigter war ich, als ich Distanz gewonnen und die Damentoiletten erreicht hatte. Ich spritzte mir ein wenig Wasser ins Gesicht, ehe ich eine der leeren Kabinen betrat und den Blick gebannt aufs Handy richtete.
Ich versuchte zweimal hintereinander, Nisan zu kontaktieren, obwohl mir klar war, dass es nichts nützen würde. In der Galerie betrachtete ich ein, zwei unserer gemeinsamen Bilder, fuhr mit dem Finger über Nisans Gesicht. Ach, Nisan. Was hat deine Familie dir da bloß angetan?
Ich brauchte ein paar Minuten, bis ich wieder aufstand und bereit war, rauszugehen. Das Handy ließ ich in die Tasche rutschen, verließ die Toilette und machte mich wieder auf den Weg nach draußen, wo ich von Salman erwartet wurde.
»Warst du dich frisch machen?«, scherzte er.
»Nein, nur kurz auf Toilette«, entgegnete ich und warf ein gespieltes Lächeln in seine Richtung. Sein anzüglicher Blick von vorhin brannte immer noch unter meiner Haut. »Ich muss jetzt los, ich bin müde. Muss mich ausruhen«, gähnte ich anschließend.
Salman lachte, gähnte ebenfalls. Mein Versuch, ihm zu entrinnen, langweilte ihn. Er strich sich eine der lockigen Strähnen aus dem Gesicht und sprach: »Na ja, jetzt, wo sie weg ist, hätte ich schon Lust, mit dir Zeit zu verbringen. Aber wie du willst.«
Ehe wir uns von den Stühlen erhoben, warf Salman zwanzig Euro auf den Tisch, um das Essen zu bezahlen. Was allerdings immer noch nicht bedeutete, dass ich meine Ruhe vor ihm hatte. »Soll ich dich nach Hause fahren?«, fragte er. Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, lass nur«, winkte ich ab. »Die Leute reden genug. Da braucht man uns zwei nicht im selben Auto sehen. Aber danke.« Gerade, als ich mich aus dem Staub machen wollte, zog er mich wieder zurück. »Eine Sache ist da noch, Gönül.«
Ich wendete mich erneut und forderte ihn mit einer deutenden Kopfbewegung zum Sprechen auf. »Denk nicht daran, mich zu hintergehen. Jeder Schritt, den du ohne mein Wissen tätigst, bedeutet Verrat. Und du weißt ja, wie man Verrat in unseren Kreisen beantwortet.«
Ein schmerzhafter Stich in meiner Hüftgegend. Mir wurde schlecht, am liebsten hätte ich mich noch auf der Stelle übergeben. Mein Verstand galt nur Nisan. Ich wollte sie retten, ihr helfen, aber wusste nicht, wie. Ich durfte auf keinen Fall auffliegen, Nisan wiederum bloß nicht zu ihrer Familie zurückkehren.
»Hast du mich verstanden?«, wiederholte Salman seine Frage. Ich nickte, als ich zu mir kam. Dann drehte ich mich um und lief in einem zügigeren Gang, um das Gelände, des kleinen Restaurants wieder zu verlassen.
Werde gesund und verschwinde, Nisan.
Es könnte über dein Leben entscheiden.
Verschwinde aus der Stadt, Engel.
• • •
Weißt du, Salman? Nur, weil du mich einschüchterst, heißt das nicht, dass ich keine Aktionen starten kann.
Ich suchte die Adresse eines ganz speziellen Menschen heraus, auch wenn ich mir weitaus Angenehmeres vorstellen konnte, als ihn zuhause aufzusuchen. Uns verband wirklich so gar nichts, bis auf die Tatsache, dass Nisan ihm noch Jahre nach der Beziehung hinterher gerannt war. Die Rede war von Adnan, der den Ball ins Rollen gebracht hatte, indem er Nisan weggeschafft und Salman in Aufruhr versetzt hatte.
Sein verwunderter Blick an der Tür brachte mich dazu, die Augen zu verdrehen. »Alles okay, Gönül?« Kommentarlos nickte ich, ehe ich mich selbst ins Haus einlud. Adnan schloss die Tür und warf mir einen fragenden Blick zu. »Du willst zu Nisan, richtig?« Nicken. »Hör zu, Adnan.«
Er hielt inne, obwohl er bereits die Autoschlüssel in der Hand balancierte. »Ich mag dich nicht und bin mir sicher, dass Nisan dich auch verabscheut. Aber du bist die einzige Person, der wir vertrauen können.«
Wohlwollend erklärte ich ihm die Sachlage. Dass Salman mich verpflichtet hatte, Nisan zu finden. Dass ich unter einem ernormen Stress stand und es jederzeit passieren konnte, dass sie mich mit Gewalt zu Nisans Aufspürung zwingen würden. Gewaltig viel Druck. Aber wir mussten Nisan ein stressfreies Leben ermöglichen. Wir mussten als Team zusammenarbeiten. Adnan, ich, und selbst Nisan. Jeder, der hinter uns stand.
»Wir werden Salman dran kriegen«, garantierte Adnan siegessicher. Angesichts der Tatsachen räumte er aber ein: »Aber nicht jetzt. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt. Auch wenn ich mich danach sehne, diese Bastarde bluten zu sehen, müssen wir uns erstmal um Nisan kümmern.«
Ohne auf meine Antworten zu warten, pochte er darauf, mich nun zu Nisan ins Krankenhaus zu fahren. Doch ich merkte, dass er mir noch etwas zu sagen hatte.
»Sie hat mich gestern gefragt, warum ich sie betrogen habe«, gab Adnan wieder, als er die Einfahrt zu seinem Haus verließ. »Ordentlich antworten konnte ich nicht. Fürs Fremdgehen gibt es keine Ausreden. Aber ich habe versucht, es ihr zu erklären.«
Im Wortlaut hatte er ihr Folgendes gesagt: Es ist einfach passiert, Nisan. Ohne Gründe. Ich war jünger, dümmer, gab mich den falschen Leuten hin. Eine treue Seele war mir nicht genug, denn ich war ja selbst keine.
Und das brachte mich zum Nachdenken. Er war ein Arschloch. Aber vielmehr plagte mich die Frage, weshalb Nisan Adnan nach den Gründen für sein Fremdgehen fragte.
»Das frage ich mich auch, Gönül«, meinte er. »Sie nimmt es mir übel, deswegen soll sie mich heute nicht sehen. Das würde uns beiden nur wehtun. Ich warte im Auto.«
»Okay, wie du magst«, akzeptierte ich, seufzte dennoch aus, da ich mich fragte, was in Nisan vorging. »Ganz egal, was auch passiert... Nisan wird nie mehr so lieben, wie sie dich geliebt hat. Das ist kein Vorwurf, aber nur du warst Nisans Leben, Adnan. Nur du.« An der roten Ampel schnellten seine kühlen Augen schließlich in meine Richtung. »Und sie war meines«, flüsterte er heiser, angeschlagen und gedemütigt. Widerspenstige Haarsträhnen fielen in seine Stirn. »Sie war mein Leben. Jede Frau ging, nur Nisan blieb.«
Ich flüsterte: »Und du hast sie einfach ausgetauscht.«
Zeit heilt Wunden, aber Narben bleiben immer. Niemals wirst du über deine Taten hinwegtäuschen, keinen einzigen deiner Fehltritte rückgängig machen können. Schade, dass deine Einsicht zu spät kommt, Adnan. Auch ich hielt mal viel von dir.
Unser Gespräch hielt so lange an, bis Adnan an auf einem freien Parkplatz vor der kleinen Klinik anhielt. Bevor meine Hand auf den Türgriff schnellte, musterte ich Adnan nochmal. Was mich erwartete, war ein erwartungsvoller Blick.
»Du willst wirklich nicht mitkommen?«, fragte ich. Adnan schüttelte sanft den Kopf. Er war sich dieser Sache sicher, antwortete: »Ihr habt mir unmissverständlich klargemacht, dass ich unerwünscht bin. Und ich verstehe euch. Geh hoch, ich warte hier auf dich und bring dann nach Hause.«
Das ließ ich mir kein zweites Mal sagen. Lässig zuckte ich mit den Schultern und hüpfte aus dem großen Wagen. Allerdings schlotterten meine Knie. Das Ambiente des Gebäudes war mir am Tag zuvor alles andere als angenehm und gesellig vorgekommen. Ich fühlte mich minderwertig und schwach, Nisan hier lassen zu müssen. Obwohl es ihr nicht schlecht ging, war sie in ihrem dunklen Zimmer, in dem sie keine Ruhe hatte, alles andere als gut aufgehoben.
Der modrige Luft und die vielen fremden Blicke, welche sich auf mich legten, gaben mir das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Vorsichtig schob ich mich an der Rezeption vorbei, in der eine ältere, telefonierende Frau saß. Die Schritte bis zur Treppe, an der ich mich gestern mit Adnan hochgeschlichen hatte, fühlten sich alles andere als gut an. Meine Füße klebten auf dem Asphalt fest und selbst auf der Treppe machte sich die mangelnde Hygiene bemerkbar. Aber es ging nur um Nisan. Ich musste meine Scham überwinden und zu ihr durchdringen.
Als ich mich vor der abgenutzten Holztür wieder fand, klopfte ich zweimal ganz zügig, bevor ich mir Zutritt verschaffte. »Nisan!«, rief ich erfreut. Nisan fläzte gelassen auf ihrem Bett, während sie eine Zeitschrift las. Aus einer Ecke des Zimmers tönte stille Radiomusik, am Schreibtisch ganz hinten saß der Doktor und erledigte ein wenig Papierkram. »Merhaba, Doktor Hünel.« Mein Tonfall senkte sich ein wenig. Dann kam Nisan angeschossen und fiel mir in die Arme, als hätten wir uns über Jahre nicht gesehen.
»Wie kommst du hierher?«, fragte sie erheitert. »Hat Adnan-« Ich nickte stumpf. Nisan verdrehte die Augen schlecht gelaunt, stieß sich von mir ab. Ich konnte ihre Reaktion gut nachvollziehen. »Aber er kommt nicht hoch. Er sagte, nach dem Gespräch gestern will er dich in Ruhe lassen.«
»Das sollte er auch«, rief sie aufgebracht. »Aber warum hat er dich gebracht? Wieso kamst du nicht allein hierher?«
Nun war ich wieder diejenige, die ihre Augen gen Decke verdrehte. »Du kennst doch mich und meinen grottenschlechten Orientierungssinn. Allein hätte ich hier nicht hergefunden. Da war es leichter, Adnan...«
Nisan schüttelte sich. »Bitte. Ich kriege Gänsehaut, wenn dieser Name fällt. Reden wir nicht darüber, in Ordnung?«
»Wir haben keine andere Wahl, Nisan«, beharrte ich auf meinem Standpunkt. »Salman ist hinter dir her. Sie erpressen mich und wollen, dass ich dich zurückbringe. Wir müssen gut überlegen, wem wir vertrauen können und wem nicht.«
Nisan atmete schwer aus und schritt weiter zu den beiden großen Fenstern. Das tat sie immer, sobald sie in eine nachdenkliche Riege verfiel. Gleißendes Sonnenlicht legte Nisans zierliche Silhouette in eine Hülle aus Gold. Ihre Hand legte sich auf das laufende Radio und schaltete es ab, was den Doktor dazu brachte, ein wenig enttäuscht aufzuschauen. »Nur du und ich, Gönül. Nur wir zwei können uns aufeinander verlassen. Du darfst mich auf gar keinen Fall zurückbringen. Weder zu meiner Familie, noch zu Salman. Das ist die einzige Bitte, die ich dir entgegenbringe, Gönül'üm.« (Meine Gönül)
Ich summte. Mein Herz brach in Scherben, da ich mich in einer Pattsituation befand. Mir war vollkommen klar, dass ich Nisan auf der einen Seite unterstützen musste. Auf der anderen Seite aber musste ich Salman füttern, um nicht selbst in sein gefährliches Visier zu gelangen. Irgendwie mussten wir beide schaffen, ihm zu entkommen.
Nisan fiel mir in die Arme. Ihre wohltuende, körperliche Nähe entlockte mich aus der harten Körperstarre, die im Eifer der Gedanken über mich hereingebrochen war. Ich klammerte mich fest an meine beste Freundin aus Kindheitstagen und bereute die vorausgegangenen Gedanken. Nie würde ich sie verraten können, nur um mein eigenes Leben zu sichern. Mein Gesicht ging in Nisans Haar, roch den süßen Duft nach Rosen und Zedernholz. Ich merkte, wie ich zu weinen begann, und es gefiel mir gar nicht, mich Nisan so zu zeigen.
Ich wog Nisans zartes Gesicht leicht und sanft zwischen meinen Handflächen. »Ich stehe zu dir. Viele Menschen stehen zu dir. Wir kommen da raus, Nisan. Wir schaffen das, mach dir darum keine Sorgen. Und wenn es mich mein Leben kosten sollte: Ich werde dich niemals verraten, hörst du?«
Wir weinten viel, denn wir litten auch viel. Ich hatte schwere Tage verbracht, ohne auch nur den Hauch einer Ahnung zu haben, wie es Nisan ging. Und Nisan war allein gewesen. Einsam und allein. Nach der Entfremdung ihrer Familie hatte Nisan niemanden. Wie denn auch? Ihre eigene Familie hatte sie schließlich entwürdigt und in ein Loch geworfen, aus dem sie womöglich nie wieder entkommen konnte.
Nisan wurde herumgeschubst,
anstatt geliebt.
Sie schwiegen, obwohl
es alle sahen.
Ihre Freunde, ihre Familie.
Ihr Mann würde jedem sagen,
er habe es aus Liebe getan.
Aber was ist das für eine Liebe,
die dich erniedrigt und dir
auch noch den letzten
Rest deiner Würde nimmt?
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