Das Weihnachtskind

Das Weihnachtskind

Von callmedarkgirl

Übersetzt von miracleworld 


Am Nachmittag des 24. Dezembers sind die Straßen von Petion-Ville belebter als sonst. Die Menschen stolpern beinahe aus den Geschäften, in denen sie sich mit Geschenken beladen haben. Es ist Heiligabend. Man kann die Magie schon überall spüren. Manche Häuser sind mit Lichterketten dekoriert, die allerdings nicht die ganze Nacht leuchten können, weil der Strom fehlt. Einigen Glücklichen war es möglich zur Feier des Tages einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Gelächter erklingt. Kinder laufen auf dem Platz umher - unter den liebevollen Blicken ihrer Eltern, deren Gesichter vor Freude strahlen. Auf einer der Bänke sitzt ein kleiner Junge. Er spielt nicht. Er wirkt abgelenkt, als ob all die Freude um ihn herum nicht zu ihm durchdringen kann. Sein Blick ist gesenkt auf seine löchrigen Turnschuhe - er besitzt sie jetzt schon seit zwei Jahren. Ein Schrei erweckt seine Aufmerksamkeit. Es ist ein Kind, das vor Freude in die Luft springt, als seine Eltern es mit einem Fahrrad überraschen, das sie ihm mitgebracht haben.

Der Weihnachtsmann war aber früh dran dieses Jahr, denkt er sich.

Diese Gesten der Zuneigung zwischen Kindern und Eltern haben bei ihm schon immer schlechte Erinnerungen geweckt. Er hatte niemals die Chance, seine Eltern kennenzulernen. Seit fast sechs Jahren sind die Straßen sein Zuhause. Seine Eltern brauchten ihn nicht, vielleicht. Oder sie konnten es sich einfach nicht leisten, ihn großzuziehen. Diese Fragen bleiben wie immer unbeantwortet. Das Einzige, an das er sich erinnern kann, ist ein Mann, der ihn an seinem sechsten Geburtstag auf der Straße zurückgelassen hat. Seitdem lernte er, alleine zu leben, auf sich selbst aufzupassen und Essen zu beschaffen, in dem er bettelte oder die Autoscheiben von gönnerhaften Autofahrern wusch, die ihm dann ein paar Münzen in die Hand gaben.

Als die Laternen den Boden erleuchten, merkt er, dass es bereits Nacht ist. Er ist alleine. Die anderen sind nach Hause zu ihren Familien gegangen - da besteht kein Zweifel. Er rollt sich auf der Bank zusammen, wissend, dass es besser ist, heute Nacht hier zu schlafen. Doch der Schlaf kommt nicht. Seit vielen Jahren hat er Geschichten über den Weihnachtsmann von anderen Kindern gehört, doch von ihm besucht wurde er selbst noch nie. Er wünscht sich niemals besonders viel. Neue Schuhe würden ihm schon reichen. Sein Körper zittert in der kalten Nachtluft, und das macht ihn noch unglücklicher. Über sein Gesicht strömen Tränen bevor seine Augen endlich zufallen.

***

Die Nacht ist nicht besonders lang - wie immer. Es scheint, als würde sich der Morgen extra beeilen, um dieses arme Kind an die Realität zu erinnern, die so anders ist, als die Welt in seinen Träumen. Er setzt sich auf, reibt sich die Augen und als er sie öffnet, fällt sein Blick auf etwas direkt vor ihm. Da liegt ein Sack auf dem Boden. Er schaut sich um, um zu sehen, ob der Besitzer irgendwo in der Nähe ist, doch er kann niemanden entdecken. Überrascht und neugierig zugleich lehnt er sich nach vorne und greift nach der kleinen Karte, die am Griff der Tasche festgebunden ist.

Frohe Weihnachten, Michel, entziffert er mühselig. Es ist erst knapp einen Monat her, dass ein Taxifahrer, der ihn sehr mag, ihm das Lesen beibrachte.

Beim Anblick seines Namens findet er den Mut, den Sack zu öffnen. Ein rotes Shirt in seiner Größe und eine schwarze Hose sind das erste, das er herauszieht. Außerdem findet er zahlreiche Spielsachen und springt vor Freude in die Luft. Nach etwas gründlicherem Suchen sieht er ein Paar Turnschuhe in seiner Größe. Freude strömt in sein Herz. Dieses Jahr hat der Weihnachtsmann ihn nicht vergessen. Er würde all die neuen Sachen an Heiligabend tragen und es würde der beste Tag seines Lebens werden.

Michel reißt sich aus seinen Gedanken, verstaut all die neuen Dinge wieder in der Tasche und wirft sie sich über die Schulter. Überglücklich läuft er in das Viertel, in dem er schon seit gut einem Jahr willkommen ist. Hier versammeln sich Kinder in einem Innenhof und schlafen unter den Sternen. Seine Freude verschwindet aus seinem Gesicht, als er die traurigen Minen seiner Freunde hier sieht. Sie sind nicht glücklich und spüren keine Weihnachtsmagie. Manche von ihnen haben bereits Lappen in der Hand, um Autoscheiben zu putzen. Andere fassen sich an den Bauch und verziehen das Gesicht, weil sie so hungrig sind. Ihm fällt ein Kind auf, welches barfuß läuft und weint, weil es auf eine Nadel getreten ist.

Er setzt den Sack auf dem Boden ab und pfeift, um ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen.

„Kommt her," sagt er.

Schnell bildet sich ein Kreis um die Tasche und er greift hinein.

„Das Shirt für Sam, die Hose für Jonathan, dieses Spielzeug für Camille und das andere für Jean. Oh! Und das hier, das ist für dich, Ama!"

„Dankeschön Michel!" sagen alle, die von ihm beschenkt wurden.

Er verteilt weiter während die Freudenschreie und die Dankbarkeit der anderen Kinder gar nicht mehr zu enden scheinen. Als er merkt, dass er nicht genug Spielsachen hat, um jedem eines zu geben, rät er allen, in Gruppen zu spielen. Alle sind einverstanden. Zum Schluss hat er nur noch das Paar Turnschuhe übrig, doch als er das Kind, welches barfuß gelaufen war, alleine dasitzen sieht, geht er näher heran und gibt ihm die Schuhe. Seine eigenen sind löchrig, aber dieses Kind hat gar keine. Wer weiß, vielleicht würde der Weihnachtsmann im nächstes Jahr wieder welche bringen.

„Frohe Weihnachten," wünscht er allen mit einem breiten Grinsen.

„Frohe Weihnachten," antworten sie ihm im Chor.

Er nimmt den Sack, das einzige, was noch übrig ist und beschließt, ihn als Schlafsack zu benutzen.

Noch nie in seinem Leben fühlte Michel sich so glücklich. Er sieht das Lächeln der anderen und das reicht ihm als Geschenk völlig aus. Nie wieder würde er sich über sein Schicksal beschweren, weil es nur so wenig braucht, um ihm eine Freude zu machen.

Sie nennen ihn das Weihnachtskind. Seit diesem Tag weis er, dass es an Weihnachten mehr ums Geben als ums Nehmen geht. 

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