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Am Freitagabend trafen die Freundinnen sich bei Bella Zuhause. Ein Abend mit all ihren Stufenkameraden stand ihnen bevor. Denen, die sie mochten und denen, die sie nicht leiden konnten. In weniger als einem Jahr würden sie ihr Abitur schreiben und sich wahrscheinlich nie wieder sehen.

„Versuchs doch mal hier mit", sagte Bella. Sie hielt Debby, die auf ihrem Bett saß, ein schwarzes, schulterfreies Oberteil hin. Es hatte einen hübschen aber dezenten Ausschnitt und schmale T-Shirt Ärmel, die Seiten waren gerafft. Sie selbst und Clari steckten bereits in den Klamotten, die sie sich für die Party gekauft hatten, nur welche Schuhe sie anziehen wollte, wusste Bella noch nicht.

„Das ist echt schön", meinte Debby und nahm ihr den samtigen Stoff aus der Hand.

„Probier's an."

Clari saß an ihrem Schminktisch und zog sich mit konzentriertem Blick und geöffnetem Mund einen Lidstrich. Debby rutschte vom Bett und drehte den beiden den Rücken zu. Sie zog sich ihren Pulli und das T-Shirt über den Kopf und schlüpfte in das schwarze Oberteil.

„Steht dir", meinte Bella, als sie sich wieder umdrehte. „Aber die Träger ... Hast du einen trägerlosen BH dabei?"

„Ich hab nicht mal einen", sagte Debby und schaute auf die ebenfalls schwarzen Träger auf ihrer Schulter.

„Vielleicht doch lieber was anderes?", überlegte Bella und wandte sich wieder zu ihrem geöffneten Schrank.

„Wieso?", fragte Debby. Sie trat einen Schritt vor und betrachtete sich neben Claris Gesicht im Spiegel. „Ist doch gut."

„Wenn dir das gefällt", sagte Bella und hielt mit den Händen in einem Haufen Oberteile inne.

„Ich mag's", lächelte Debby. Sie strich über den glatten Stoff, der kühl auf ihrer Haut lag.

Eine gute Stunde später waren sie fertig angezogen, geschminkt und frisiert und liefen durch die kühle Abendluft zur Bahnhaltestelle.

„Endlich wieder ausgehen! Ich freu mich", lachte Clari. Sie zog die dünne Jacke enger um ihren Oberkörper, der nur in dem paillettenbesetzten Top steckte.

Debby störte die Kälte nicht weiter. Nachher im Club in der Innenstadt, den das Vorabi-Party-Komitee für den Abend ausgesucht hatte, würde es ohnehin warm sein.

„Heute wird ein denkwürdiger Abend", stimmte Bella mit ihren leuchtend rot geschminkten Lippen zu und klimperte mit den Wimpern, die durch ihre Mascara lang und voll erschienen.

„Das sagst du immer wenn wir weggehen", grinste Debby.

„Und jeder dieser Abende war denkwürdig, oder?"

Lachend und scherzend liefen sie durch die leeren Straßen und stiegen in die Bahn, die sie zum Hauptbahnhof brachte. Von dort mussten sie nur die Einkaufsstraße runterlaufen und rechts in eine Seitenstraße einbiegen.

Vor dem Club standen kleine Grüppchen von Leuten, die sich unterhielten und rauchten. Debby hielt die Augen nach Thomas offen, aber er schien bereits drinnen zu sein.

„Stürzen wir uns ins Getümmel", lachte Bella und schwang ihre Hüfte gegen Debbys. „Ich hol' mir einen Drink und dann werde ich auf die Tanzfläche gehen."

„Da bin ich dabei", lachte Clari und ließ ihren Blick unauffällig über die umstehenden Typen schweifen. Der Türsteher nickte ihnen zu, als sie durch die Tür ins Innere des Clubs traten, wo sie von lauter Musik und buntem, flackernden Licht empfangen wurden.

„Ich schau mal, ob ich Thomas finde", rief Debby über den Lärmpegel hinweg.

„Bring ihn dann mit. Wir sehen uns auf der Tanzfläche!", erwiderte Clari und ergriff Bellas Hand. Die beiden bahnten sich ihren Weg durch die tanzenden Körper zur Theke hinüber, während Debby stehen blieb und versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen.

Die Menschen auf der Tanzfläche sahen alle gleich aus. Ihre Gesichter waren in dem Lichtgewitter nicht zu erkennen, also schob sie sich zwischen die feuchten Körper. Es stank nach Schweiß und Bier, nach verschütteten Getränken, die ihre Schuhsohle bei jedem Schritt am Boden festhielten. Frische Luft war Fehlanzeige. Sie kämpfte sich ihren Weg durch die Tanzenden zur Rückseite des Clubs, wo einige Sitzgelegenheiten für diejenigen standen, die es nicht auf der Tanzfläche aushielten. Als sie sich zwischen zwei breit gebauten Kerlen aus dem Sport LK durchschob, entdeckte sie nicht Thomas, aber einen grünen Irokesen in der Couchecke. Sie trat näher und tatsächlich gehörte der Iro niemand anderem als Hadrian, der auch heute wieder in abgeranzte Militärklamotten gekleidet war. Rechts von ihm saß Lasko und als sie noch einen Schritt näher trat, erblickte sie auch Farin, der in der schwarzen Couch in der Ecke zu versinken drohte. Auf seinem Schoß saß ein Mädchen, das sie zuvor noch nie gesehen hatte.

„Hey", brüllte sie in dem Versuch die hämmernde Musik zu übertönen, aber niemand reagierte. Sie startete einen neuen Versuch und streckte dann die Hand aus. Vorsichtig berührte sie Hadrian an der Schulter und er wandte sich um. Nach einem kurzen Augenblick lächelte er sie an.

Auch Lasko und Farin wurden jetzt auf sie aufmerksam. Farin rief irgendwas, aber seine Worte drangen nicht bis zu ihr durch. Dann lachte er, aber sie stimmte nicht mit ein.

Ihr Blick hing an dem Mädchen auf seinem Schoß, das ihm mit den gefärbten und zum Teil ausrasierten Haaren so ähnlich war. Ihre Schminke in Grün- und Blautönen war auffälliger als Bellas und die Löcher in ihrer Strumpfhose entblößten fast ihre gesamten Beine. Farins Hand lag auf ihrer Hüfte nur knapp über ihrem Nietengürtel. Debby spürte einen fiesen Stich, den sie nicht zuordnen konnte.

Farin grinste sie an und schob das Mädchen einfach von seinem Schoß. Er drückte sich aus dem Polster hoch und trat an Debby heran, um sie in die Arme zu schließen.

„Alles gut bei dir?", fragte er direkt in ihr Ohr. Trotz der lauten Musik hörte sie sein Lallen und der Geruch von Bier und Rum stieg ihr in die Nase.

Sie drehte den Kopf ein wenig.

„Alles super und bei dir?", erwiderte sie direkt neben seinem Ohr.

„Bestens", grinste er und löste sich wieder von ihr. Er klopfte ihr auf die Schulter und schob sich an ihr vorbei. „Ich geh pissen", hörte sie ihn noch sagen, dann war er zwischen den Menschen verschwunden.

Debby schaute ihm ein wenig irritiert hinterher.

Hadrian erhob sich ebenfalls und beugte sich an ihr Ohr heran.

„Der ist besoffen, wunder dich nicht", erklärte er.

„Ich hatte nicht erwartet euch hier zu treffen", gab sie zurück. Die Housemusik konnte niemals den Musikgeschmack der Punks treffen.

„Wir wollten billig saufen und da sind wir hier genau richtig", grinste Hadrian. „Setzt dich doch zu uns."

Sie schüttelte den Kopf.

„Ich bin eigentlich auf der Suche nach meinem Freund, aber danke für das Angebot. Bestell Farin noch einen Gruß von mir", rief sie, lächelte ihn nochmal an und kämpfte sich auf der Suche nach Thomas wieder durch die Menschenmassen. Sie fand ihn an der Theke, wo er sich mit Clari unterhielt. Als er sie näher kommen sah, lächelte er.

„Da bist du ja!", brüllte er gegen die wummernden Bässe an und zog sie in seinen Arm. Er drückte ihr einen schnellen Kuss auf die Lippen und sein Glas in die Hand.

„Wodka-E", sagte er und sie nahm einen Schluck von dem schrecklich süßen Zeug.

„Lasst uns tanzen!", brüllte Clari, deren Stimme noch ein wenig dünner und höher war als Debbys eigene. Sie zeigte auf die Tanzfläche, wo Bella bereits mit einem Typen aus ihrer Stufe tanzte, dessen Namen Debby nicht kannte.

„Gute Idee!", meinte Thomas. Er griff Debbys Hand und zog sie mit sich, sodass ihr etwas von dem klebrigen Getränk auf die Finger schwappte.

Sie bahnten sich ihren Weg in die Mitte der überfüllten Tanzfläche. Stinkende, schweißnasse Körper drückten sich gegen Debby, rempelten sie an und drückten ihr spitze Ellbogen in die Seiten. Mit einer raumgreifenden Bewegung schlug das Mädel neben ihr ihr das Getränk aus der Hand. Der klebrige Energydrink schwappte über ihre Arme und Hände und das Glas zerbrach am Boden.

Genervt hielt sie in ihrer Bewegung inne. Viel mehr als die Schultern zu schaukeln und ein paar Schritte vor und zurück zu machen tat sie sowieso nicht, aber Thomas, der normalerweise auch eher ein verhaltener Tänzer war, schien verdammt viel Spaß zu haben. Vielleicht hatte er schon genug getrunken.

„Ich geh mal zum Klo", brüllte sie ihm ins Ohr, woraufhin er sich schulterzuckend von ihr abwandte und dem Mädchen zu, das ihr eben das Getränk aus der Hand geschlagen hatte. Sie kämpfte sich zu den Toiletten durch und schubste die Menschen nach ein paar Schritten einfach aus dem Weg, weil es anders kein Vorankommen zu geben schien. Nachdem ein weiterer Ellbogen unter ihrem Kinn gelandet war, erreichte sie endlich die Sitzecken und stieß zwei Schritte weiter die Tür zum Toilettenraum auf. Sofort trat sie ans Waschbecken, drehte den kalten Hahn auf und wusch sich die klebrigen Getränkereste von der Haut. Sie seufzte und betrachtete ihr Bild im Spiegel, während sie den Schaum von ihren Fingern spülte.

Was war los? Das war nicht ihr erster Besuch in einem Club wie diesem. Mit schlechter Musik und viel zu vielen Menschen. Sonst hatte sie getanzt und Spaß mit Thomas und ihren Freundinnen gehabt, wieso ging ihr heute alles auf die Nerven?

Sie wischte die letzten Seifenreste weg und drehte das Wasser wieder ab. Hinter ihr hatte sich eine kleine Schlange vor den Kabinen gebildet und sie schob sich an den Mädels vorbei ins Innere des Clubs. Ihr Blick blieb an der Sitzecke hängen, in der Farin und Lasko gerade die Köpfe in den Nacken legten und ein Bier um die Wette exten.

Farin setzte die Flasche als erster ab und drehte sie um, ehe er sie schwungvoll auf den Tisch stellte. Das Punkmädchen neben ihm lachte, dann beugte sie sich zu ihm und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.

So eine Schlampe.

Erschrocken hielt Debby inne. Woher kam dieser Gedanke? Vielleicht war das Mädchen Farins Freundin, das konnte sie nicht wissen. Sie kannte sie nicht, sie hatte kein Recht über sie zu urteilen. Hatte sie sich nicht aus genau diesem Grund mit ihren Freundinnen verkracht? Weil die nicht mehr als einen Blick riskierten, um einen Menschen zu bewerten?

Farin streckte seine Hand über den Tisch und schlug lachend bei Lasko ein.

Vielleicht sollte sie sich doch zu ihnen setzen? Unschlüssig ließ sie ihren Blick schweifen und entdeckte Thomas auf der Tanzfläche, wo er inzwischen mit Clari tanzte. Sie lachte und drehte sich schwungvoll um, tanzte rückwärts an Thomas heran, der eine Hand an ihre Seite legte.

Ein kleines Lächeln huschte über Debbys Gesicht. Wenigstens ihre Liebsten hatten Spaß, wenn sie den Abend schon nicht genießen konnte.

Ihr Blick wanderte zu den Punks zurück. Das Mädel lehnte sich gerade auf Farins Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr, woraufhin er lachte. Dann erhob er sich und kam plötzlich genau in Debbys Richtung. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, aber Farin lief einfach an ihr vorbei. Den Blick zielsicher auf die Theke gerichtet kam er natürlich nicht auf sie zu. Wieso sollte er auch?

Als er auf ihrer Höhe war, bemerkte er sie doch. Er hielt inne und drehte sich zu ihr.

„Warum stehs' du hier so allein?", rief er gegen die laute Musik an und sie zuckte mit den Schultern.

„Ich weiß nicht wohin mit mir", brüllte sie, ihre Stimme verlor sich beinahe.

Er legte ihr schwungvoll einen Arm um die Schultern und zog sie mit sich in Richtung Theke. Er rempelte sie gegen ein paar ebenfalls herumstehende Leute, die darauf genauso wenig Rücksicht nahmen wie er.

„Dann kommst du eben mit", lachte er und Debby drehte den Kopf, um ihn von der Seite ansehen zu können.

Ein bisschen gruselig war sein super fröhliches, betrunkenes Ich schon, aber sie ließ sich trotzdem mitreißen. An der Theke angekommen nahm er seinen Arm von ihren Schultern und streckte eine Hand in die Luft.

„Fünf Mexikaner", rief er und der Barkeeper nickte ihm zu. Er wendete sich Debby zu. „Und jetzt kommst du mit an unseren Tisch", sagte er, während der Barkeeper die Pinnchen vor ihm aufstellte und dann aus einer großen Flasche eingoss.

Sie schüttelte den Kopf. Sie war mit Thomas und ihren Freundinnen hier, die wollte sie diesmal nicht wieder sitzen lassen. Außerdem saß auch das Punkmädchen mit am Tisch, auf deren Bekanntschaft sie verzichten konnte.

„Sicher?", fragte Farin und sie nickte. Er schaute sie einen Augenblick lang an, dann winkte er dem Barkeeper zu. „Noch einer!", rief er und hob einen Finger an, mit dem er anschließend auf die bereitstehenden Pinnchen zeigte.

Der Barkeeper brachte ihm einen weiteren Mexikaner und Farin zahlte, dann drückte er Debby eines der Pinnchen in die Hand. Auch er nahm sich eines und erhob es mit feierlichem Gesichtsausdruck.

„Auf das Ende dieser Schule!" Grinsend stieß er sein Glas gegen ihres, schaute ihr tief in die Augen und kippte gleichzeitig mit ihr den Alkohol runter.

Der Mexikaner war scharf und brannte sich seinen Weg ihre Speiseröhre hinab bis in ihren Magen, wo er langsam erlosch. Der würzige Geschmack war definitiv angenehmer als die klebrige Süße des Wodka-E, den Thomas ihr in die Hand gedrückt hatte. Trotzdem würde sie am liebsten ein großes Glas Wasser hinterher kippen.

„Dann mal viel Spaß. Und wie gesagt, du kannst gerne zu uns kommen", sagte Farin, während er die übrigen vier Kurzen einsammelte.

„Danke", lächelte sie und blieb stehen, während er sich den Weg zu seinen Freunden zurück bahnte.

„Was wollte der denn?", erklang Bellas Stimme an ihrem Ohr und Debby drehte sich erschrocken zu ihr um.

„Wo kommst du denn her?", fragte sie mit hoher Stimme.

„Von der Tanzfläche", sagte Bella und richtete den tiefen Ausschnitt ihres Oberteils. „Was wollte der?"

„Nichts. Wir haben nur einen Kurzen zusammen getrunken", rief Debby und bemerkte schon jetzt ein Kratzen in ihrem Hals. Die Musik war verdammt laut, gerade so, als wären Unterhaltungen überhaupt nicht erwünscht.

„So so." Bella zog die Augenbrauen hoch und schaute noch einen Moment in Richtung der Sitzecke, dann drehte sie sich zum Barkeeper und bestellte. Kurz darauf drückte sie Debby einen bunten, mit Früchten gespickten Cocktail in die Hand. Ein Schirmchen steckte neben dem Strohhalm zwischen den Eiswürfeln. Auch Bella hielt einen solchen Cocktail in der Hand.

„Auf uns", sagte sie mit einer ähnlichen Geste wie Farin vorhin, dann stießen sie an und Debby trank einen Schluck durch den Strohhalm. Bisher das beste Getränk des Abends – nicht zu süß, nicht zu scharf, aber schön fruchtig. „Und jetzt komm mit zu deinen Freunden und lass uns Spaß haben!" Bella lächelte und hakte sich bei Debby unter. Sie ließ sich mit auf die Tanzfläche ziehen, obwohl ihr nicht gefiel, wie Bella das Wort Freunde betonte.

Kein Streit heute Abend.

Bella zog sie hinter sich her bis zu Clari und Thomas, die noch miteinander tanzten. Sie machten Platz, sodass die vier zusammen in einem Kreis zwischen ihren Mitschülern und Stufenkameraden standen.

Debby trank noch ein paar Schlucke, dann schloss sie die Augen und spürte die Musik in ihrem Inneren. Sie griff nach dem Rhythmus und bewegte ihren Körper im Takt, um endlich Spaß an diesem unvergesslichen Abend zu finden.


Später in der Nacht ging Debby vor die Tür. Die Luft im Club war verbraucht, heiß und stickig und langsam machte sich der Alkohol in ihrem Kreislauf bemerkbar. In der Seitenstraße war die Luft kühl und schmeckte nach Winter, während sie nach Zigarettenrauch roch. Die meisten Leute hatten ihren Weg nach drinnen gefunden und neben dem Türsteher standen hier draußen nur ein paar Raucher herum.

Auf der anderen Straßenseite saß Farin auf dem Boden. Er lehnte mit dem Rücken an der Hauswand, hatte den Kopf zurückgelegt und ein Knie angezogen, während er das andere Bein von sich streckte. Zwischen seinen Fingern qualmte eine Zigarette.

Debby trat an ihn heran.

„Hey", sagte sie. Ihre Ohren klingelten von der brüllenden Musik drinnen.

Farin schreckte auf.

„Ach, du bist's", murmelte er müde und ließ den Kopf wieder gegen die Wand sinken. Mit geschlossenen Augen führte er die Zigarette an seine Lippen und nahm einen tiefen Zug.

Sie setzte sich neben ihn auf den kalten Steinboden und lehnte sich gegen die Mauer. Der kühle Wind strich über die nackte Haut an ihren Armen und die Härchen stellten sich auf. Vielleicht hätte sie ihre Jacke von drinnen mitnehmen sollen.

„Geht's dir gut?", fragte sie Farin, als er sich nicht rührte.

„Bestens", murmelte er, klang aber nicht halb so überzeugend wie vor wenigen Stunden im Club. „Bin nur 'n bisschen müde."

„Und betrunken", ergänzte sie, sog die frische Nachtluft tief in ihre Lungen und spürte das Kratzen vom Zigarettenqualm in ihrem Hals.

„Da kann ich nich' widersprechen", meinte er und brachte seinen Kopf wieder in eine aufrechte Position. Er zog den Rest seiner Zigarette weg und schnipste den Stummel davon. „Was machs' du überhaupt hier draußen?"

„Ich brauchte frische Luft. Da drinnen ist es auf Dauer ja nicht auszuhalten."

„Ja, Luft is' super", stimmte er zu und zog sein Zigarettenpäckchen aus der Jackentasche. Er öffnete es, schob sich eine Kippe zwischen die Lippen und zündete sie an, dann fuhr er sich mit der freien Hand durchs Gesicht. „Sobald ich klar komm' geh ich wieder rein. Oder nach Hause. Wie spät is'n überhaupt?"

„Kurz nach zwölf", antwortete sie.

„Fuck", murmelte er. „Ich glaub' ich mach mich auf'n Heimweg." Er steckte sich die Zigarette zwischen die Lippen und stützte sich an der Wand ab. Schwankend kämpfte er sich auf die Füße und schaute dann Debby an, die ebenfalls wieder aufgestanden war. Er pustete den Rauch zur Seite weg. „Was is' mit dir? Gehst du wieder rein? Ich möchte dich nich' so alleine hier sitzen lassen."

Ein warmes Gefühl schloss ihr Herz ein und ein Lächeln legte sich auf ihre Lippen. Sie antwortete ohne wirklich einen Einfluss auf die Worte zu haben, die aus ihrem Mund fielen.

„Ich glaube, ich komme mit und gehe auch nach Hause. Ich hole nur eben meine Jacke."

„Ich warte hier." Farin lehnte sich gegen die Wand und aschte auf den Boden. Die Nieten auf seiner Jacke verursachten ein kratzendes Geräusch, als sie über den Stein schabten.

Am Türsteher vorbei kehrte Debby in die stickige Wärme des Clubs zurück und ließ ihren Blick über die Tanzfläche schweifen. Überall waren Menschen, unendlich viele Menschen, aber Thomas oder ihre Freundinnen konnte sie nicht entdecken. Also ging sie zur Garderobe, holte ihre Jacke ab und trat wieder ins Freie, wo Farin aussah, als würde er im Stehen schlafen.

„Können wir?", fragte sie und er schreckte auf, dann stieß er sich von der Wand ab.

„Immer bereit", nuschelte er, schob seine Hände in die Taschen seiner Lederjacke und lief neben ihr die spärlich beleuchtete Seitengasse hinunter. Abseits von den Clubs und Bars war kaum noch etwas los.

„Was ist eigentlich mit deiner Freundin?", fragte Debby vorsichtig, als sie auf die Einkaufsstraße abbogen. Immer noch hatte sie das Bild vor Augen, wie das Mädchen auf seinem Schoß gesessen hatte. Wie sie ihm einen Kuss auf die Wange gegeben hatte.

„Welche Freundin?" Er hob den Blick und schaute sie aus glasigen Augen an.

„Na, dieses Punkmädchen, das vorhin bei euch saß."

„Ach, du meinst Les. Nee, die ist nicht meine Freundin." Er grinste, lachte dann, schien sich in seinem Lachen zu verlieren und verstummte wieder, den Blick auf einen undefinierten Punkt in der Ferne gerichtet.

Also doch eine Schlampe.

Sie wehrte sich gegen diesen Gedanken, aber ihre innere Stimme ließ sich nicht von ihrer schadenfrohen Feststellung abbringen.

„Wieso fragst du?"

„Nur so." Im Grunde wusste sie es selbst nicht. Farin konnte tun und lassen was er wollte, dieses Mädel konnte tun und lassen was es wollte. Er war nicht ihr Freund, im Gegensatz zu Thomas, dem sie vielleicht Bescheid sagen sollte, dass sie schon gegangen war. Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche und entsperrte es. Das weiße Licht des Bildschirms durchbrach die dunkle Nacht und blendete sie für einen Moment. Sie öffnete Thomas' Chat.

Hey, ich bin schon auf dem heimweg. Du brauchst dir keine sorgen machen, viel spaß noch!

Als sie wieder aufsah, sprang Farin gerade auf die Kante eines steinernen Blumenkastens. Einige Schritte klappte sein Balanceakt erstaunlich gut, dann bekam er Übergewicht nach links und landete wieder auf seinen Füßen auf dem Gehweg. Er schob eine Hand in die Innentasche seiner Jacke und zog Kopfhörer und sein Handy hervor.

„Willst du mithören?", fragte er, während er den Klinkenstecker in die Kopfhörerbuchse steckte.

„Ehm, gern." Sie nahm einen der Ohrhörer entgegen und steckte ihn sich ins Ohr. Der Klang von verzerrten E-Gitarren ertönte. Ein Schlagzeug. Der Bass. Dann setzte der Sänger ein. Seine Stimme war rau und ungeschliffen und auch wenn Debby keine Ahnung von Musik hatte, erkannte sie sofort, dass es sich hier um Punk handelte.

„Eine Wohltat nach dem Scheiß im Club", meinte Farin, der den anderen Ohrhörer trug. Mit leiser Stimme sang er die Texte mit.

„Ist auf jeden Fall was anderes", meinte sie. Sie hatte sich nie zuvor mit der Musik auseinandergesetzt, niemand in ihrem Umfeld hörte Punk und es lief nicht im Radio oder im Fernsehen. Es war anders, auf eine interessante Art und Weise.

„Ich glaub, du musst dich erstmal dran gewöhnen. Aber dann gibt's nichts Besseres mehr", sagte er mit einem leichten Lächeln auf den Lippen.

Auch Debby lächelte, dann spürte sie die Vibration ihres Handys an ihrem Oberschenkel.

Allein?, hatte Thomas geschrieben. Sie sah zu Farin, dessen leiser Gesang sich mit dem des Sängers in ihrem Ohr vermischte und der seinen Blick über die geschlossenen Geschäfte schweifen ließ. Wenn sie Thomas erzählte, dass sie mit ihm unterwegs war, würde es definitiv wieder Streit geben. Sie hatten sich gerade erst wieder vertragen und sie wollte den Frieden nicht aufs Spiel setzen. Deswegen sah sie keine andere Möglichkeit, obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte.

Ja, tippte sie. Es war das erste Mal, dass Debby ihren Freund anlog.

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