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„Was ist passiert?", fragte Bella, die gefolgt von Clari in Debbys Zimmer trat. Auf dem Bildschirm des Computers war noch immer die Serie pausiert und Debby saß mit einem Kissen in den Armen auf ihrem Bett.
„Farin ist vorbei gekommen, um seine Jacke zu holen", erzählte sie, während Bella sich auf dem Schreibtischstuhl niederließ und Clari sich zu ihr aufs Bett setzte. „Thomas hat sich total aufgeregt, hat erst ihn angemacht und mir dann verboten ihn wiederzusehen."
„Farin?", fragte Bella.
„Der Typ von heute Morgen. Der Punk."
„Willst du ihn denn wiedersehen?", fragte Clari. Sie rückte ein Kissen zurecht, lehnte sich an und zog ihre Beine ins Bett.
„Darum geht's nicht. Es geht darum, dass er mir nicht zu sagen hat wen ich treffen darf und wen nicht." Sie umarmte das Kissen ein wenig fester.
„Er will dich nur beschützen", meinte Bella und strich sich eine Locke aus der Stirn.
Debby verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf.
„Das hat nichts mit beschützen zu tun", erwiderte sie.
„Was soll er denn sonst tun? Er hat doch recht, du weißt nichts über diesen Punk", sagte Clari und schaute sie einfühlsam an.
Debby legte das Kissen beiseite.
„Es geht nicht um Farin", wiederholte sie, rutschte an die Bettkante und stand auf. An Bella vorbei griff sie nach ihrer Maus. „Aber auch egal, ich hab keine Lust mich auch noch mit euch zu streiten. Wollen wir einen Film gucken?"
„Klar", sagte Clari und Bella stand auf, um es sich ebenfalls auf dem Bett gemütlich zu machen.
Sie schauten ein Actiondrama und Debby holte zwei Tafeln Nussschokolade aus dem Schrank im Wohnzimmer, die sie sich teilten. Dann starteten sie eine Liebeskomödie mit einem Schauspieler, den Bella anhimmelte, und sie berichtete von den neusten Gerüchten, die sie im Internet auf irgendeiner Klatschseite über ihn gelesen hatte.
Debby schwieg. Sagte nicht, dass das Privatleben dieses Kerls sie genau so wenig interessierte wie das von Frau Müller zwei Häuser weiter. Sie ließ die beiden tratschen und genoss die Zeit, die sie mit ihnen verbrachte.
Es war kurz vor elf, als sie Bella und Clari zur Tür begleitete.
„Mach dir keinen Kopf, das mit Thomas und dir wird schon wieder", lächelte Bella, nachdem sie ihre Schuhe angezogen hatte. „Ihr passt von allen Pärchen echt am besten zusammen, das zerbricht nicht so schnell."
Debby erwiderte das Lächeln dankbar. Sie stand auf der letzten Treppenstufe, die Hand auf dem Geländer.
„Wir sehen uns morgen in der Schule", sagte sie und umarmte die beiden, dann öffnete Clari die Tür und Debby winkte ihnen noch, ehe sie die Tür wieder schloss. Zurück in ihrem Zimmer scrollte sie durch das Filmangebot der Onlinevideothek. Durch die Neuerscheinungen, die einzelnen Genres. Immer wieder ließ sie den Bildschirm ihres Handys aufleuchten, aber eine neue Nachricht von Thomas ging nicht ein.
Eine halbe Stunde später holte sie das Deutschbuch und ihr Heft aus der Tasche. Sie schlug beides auf, schrieb aber kein einziges Wort. Der Füller ruhte ungenutzt in ihrer Hand.
Keine Nachricht von Thomas. Falls er wartete, dass sie sich zuerst meldete, konnte er lange warten.
Am nächsten Tag stand Debby in der Mittagspause mit ihren Freundinnen zusammen, während Thomas unweit von ihr mit seinen Kumpels an der Tischtennisplatte rumhing. Er hatte ihr nicht geschrieben, war nicht auf sie zugekommen und hatte sich nicht entschuldigt. Ob die nächste Idee eine gute war, wusste sie nicht, aber sie sagte ihren Freundinnen trotzdem, dass sie gleich zurück sei und ging mit Thomas' Blick im Nacken über den Schulhof auf die Punks zu, die draußen vor dem Tor standen.
„Hallo", sagte sie und lächelte ein wenig verunsichert. Zigarettenrauch stieg ihr in die Nase, während sie in die gepiercten Gesichter von Farin und seinen Freundin blickte.
„Hey, Debby", erwiderte Farin mit einem leichten Lächeln auf den Lippen. Er führte die Zigarette zum Mund und nahm einen Zug, während sie einen Blick über die Schulter warf. Thomas starrte sie mit leicht geöffnetem Mund an, während die Blicke von Clari und Bella skeptisch waren.
Sie drehte sich wieder nach vorn, doch das Gefühl von Thomas' Blick in ihrem Nacken ließ sie nicht los.
„Das ist Hadrian", sagte Farin und deutete mit der linken Hand auf einen großen Kerl, der einen grünen Irokesen auf dem Kopf und einen Ring in der linken Augenbraue trug. Seine Beine steckten in Tarnhosen, die Füße in grün angesprühten Bundeswehrstiefeln und eine Kette mit Dog Tags hing vor seiner Brust.
„Hi", sagte er und lächelte.
„Hi", wiederholte Debby und erwiderte sein Lächeln.
„Das ist Lasko." Farin deutete mit der rechten Hand, in der er nicht viel mehr als den Filter seiner Zigarette hielt, auf einen schmächtigen Typen mit wuscheligem blauem Haar, einem Ring im Nasenflügel und einem in der Unterlippe.
Lasko zog an seiner Kippe und nickte ihr zu, dann ließ er den Rauch durch seine Nasenlöcher entweichen.
Sie lächelte und spürte das Bedürfnis sich nochmal umzudrehen, aber diese Genugtuung würde sie Thomas nicht geben.
„Was gibt's?", fragte Farin und schnipste den Zigarettenstummel weg, während sie ihren Blick noch über die Kleidung der Punks huschen ließ. Bandshirts mit Namen, die sie noch nie gehört hatte. Schief aufgenähte Patches, Ketten an den Hosen. Lasko trug spitze Nieten auf den Schultern und ihre Klamotten waren allesamt zerrissen. Farin trug die Lederjacke, die bis gestern noch über ihrem Stuhl gehangen hatte.
„Ich wollte mich für gestern entschuldigen", sagte sie und verschränkte ihre Finger ineinander. Sie konzentrierte sich auf den ruhigen Ausdruck in Farins dunkelblauen Augen und das leichte Lächeln auf seinen Lippen.
Hadrian zuckte mit den Augenbrauen und warf ihm grinsend einen wissenden Blick zu, aber er schüttelte den Kopf.
„Ich hab nur meine Jacke bei ihr abgeholt", erklärte er und zog seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche.
Debby verlagerte ihr Gewicht vom einen auf das andere Bein und knete ihren Zeigefinger. Mit den drei zusammenzustehen fühlte sich anders an. Während Bella immer Lippenstift und Spiegel bei sich trug und Clari ihre Haare unter riesigen Kapuzen vor jedem Nieselregen schützte, damit sie nicht kraus wurden, schien für sie das Urteil der Menschen um sie herum egal zu sein. Sie standen zwischen all den Leuten aber drehten sich nach niemandem um, der sie anstarrte, schienen es nicht mal zu bemerken.
Farin zog eine Zigarette aus der Schachtel und wandte sich Debby zu.
„Du kannst nichts für deinen Freund, er ist sein eigener Herr. Und dass er ein Idiot ist, wusste ich bereits", sagte er und warf einen Blick über ihre Schulter auf den Schulhof, wo Thomas wahrscheinlich immer noch mit verschränkten Armen hinter der Tischtennisplatte stand und zu ihnen rüber starrte. „Ich hoffe, du hattest keinen Stress meinetwegen."
„Nicht der Rede wert", erwiderte sie und schaute auf die Spitzen ihrer Stiefelletten. Eigentlich wollte sie nur sauer sein, aber in ihrem Inneren schmerzte es, dass Thomas sich noch nicht entschuldigt hatte. Mit einem Mal fühlte es sich an als sei er weit entfernt.
Sie hob den Kopf wieder und schaute direkt in Farins Augen. Aufmerksam erwiderte er ihren Blick.
„Hast du dich mit ihm gestritten? Wegen mir?", fragte er und das Lächeln war verschwunden.
Sie versuchte seinem Blick auszuweichen und er versuchte ihn wieder aufzufangen.
„Ja, schon", murmelte sie und sah ihn an. Sein Blick war intensiv und es fühlte sich an, als schaute er ihr tief in die Seele. „Na ja, nicht direkt wegen dir. Eher weil er mir nichts vorzuschreiben hat."
Hadrian und Lasko hörten ihr genauso aufmerksam zu wie Farin es tat. Auch Hadrian schaute kurz an Debby vorbei, ehe er seine Zigarette auf den Boden fallen ließ und austrat.
Sie blickte auf ihre verkrampften Hände hinab.
„Möchtest du mit mir allein darüber reden?", fragte Farin. Seine Stimme war weich und löste in ihrem den Impuls aus Nicken zu wollen. Die halbe Nacht hatte sie wach gelegen und sich jemanden zum Reden gewünscht, aber was würde Thomas denken, wenn sie jetzt mit Farin allein wegging?
„Debby", erklang Bellas Stimme. Sie drehte sich um und entdeckte sie und Clari nur wenige Schritte entfernt. Auch Thomas hatte die Tischtennisplatte hinter sich gelassen und stand mit geballten Fäusten und verkniffenen Lippen mitten auf dem Schulhof, den Blick fest auf die drei Jungs hinter seiner Freundin gerichtet. Auf Farin. „Kommst du wieder zu uns?"
„Bitte", sagte Clari und echte Sorge untermalte ihre Stimme.
Debby blickte von Bella zu ihr und zurück zu Thomas. Sie alle erwarteten, dass sie nachgab.
Thomas starrte jetzt sie an, in seinem Blick lag etwas Forderndes. Sie schaute ihren Freundinnen nochmal in die Augen, dann drehte sie sich wieder zu Farin.
„Das wär schön", erwiderte sie mit einem leichten Lächeln, auch wenn ihre Hände zitterten und ihr Herz schneller schlug.
Nicht sie war diejenige, die einen Fehler machte.
Farin interessierte sich weder für Thomas, noch für Bella und Clari. Er drehte sich um und überquerte nach einem kurzen Blick die Straße. Auf der anderen Seite ließ er sich auf einer niedrigen Mauer nieder, die den Vorgarten des angrenzenden Hauses einrahmte.
Debby setzte sich ihm gegenüber und drehte sich zu ihm. Ein blauer Kleinwagen versperrte ihr die Sicht auf den Schulhof, aber die Blicke ihrer Freunde spürte sie trotzdem auf sich.
„Ich denke, du solltest dich mal mit deinen Freundinnen und deinem Freund zusammensetzen und in Ruhe über alles reden. Ohne Streit und ohne Vorwürfe", sagte Farin, nachdem sie ihm alles erzählt hatte. Währenddessen hatte er kein Wort gesagt, nicht auf sein Handy geschaut oder irgendwelche vorbeikommenden Menschen beobachtet. Er hatte ihr zugehört. So, wie ihr zuvor noch nie jemand zugehört hatte.
Nach kurzer Zeit war sein intensiver Blick unerträglich für sie geworden. Sie hatte überall hingeschaut, die meiste Zeit auf ihre Hände oder den Boden links neben ihr, um seinem Blick für einen Moment zu entkommen, während er nicht einmal weggeschaut hatte. Doch da war nicht nur Unbehagen in ihr. Seine ungeteilte Aufmerksamkeit entflammte eine sanfte Wärme in ihrem Inneren.
„Was soll das bringen?", fragte sie eine Sekunde bevor die Schulglocke das Pausenende verkündete.
Farin machte keine Anstalten aufzustehen.
„Ihr müsst euch aussprechen und Verständnis füreinander aufbauen. Nur so kann man Probleme aus der Welt schaffen."
Debby zupfte an der unteren Kante ihres T-Shirts und richtete sich auf, um über das Auto hinweg einen Blick auf den Schulhof werfen zu können, der sich langsam leerte.
„Danke fürs Zuhören", sagte sie mit einem Lächeln. „Wirklich. Ich muss jetzt rein." Sie stand auf, auch wenn sie gerne noch länger mit ihm dort sitzen geblieben wäre.
„Immer gern", erwiderte er und blieb sitzen, während sie die Straße runter zum Schuleingang eilte. Bevor sie durch die Türen trat, warf sie noch einen Blick über die Schulter und sah Farin in aller Seelenruhe die Straße überqueren und den Schulhof ansteuern.
Die Gänge waren fast leer, die Türen zu den Klassenzimmern bereits geschlossen. Debby rannte die Treppen rechts von ihr hinauf, stieß die Glastür auf und huschte an ihrem Lehrer vorbei in den Bioraum.
„Gerade noch rechtzeitig", sagte er und sie eilte an den Tischen vorbei zu ihrem Platz neben Bella und Clari.
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