2
Als Debby am Montagmorgen aus dem Bus stieg und die Straße runter in Richtung Schule schaute, waren schwarze, wild abstehende Haare das erste, das ihr ins Auge fiel. Der Punk trug einen Rucksack mit schwarz-weißen Patches auf dem Rücken und blieb gegenüber des Schulhofs stehen, eine Zigarette in der Hand.
Wie hatte er ihr zuvor nie auffallen können?
Eilig schob sie sich zwischen den Schülern hindurch, die wie sie Richtung Schule strömten und wechselte die Straßenseite. Der Punk trug keine Jacke, hatte aber Ohrhörer in den Ohren stecken. Den Blick in die Ferne gerichtet bemerkte er sie nicht, bis sie ihn leicht an der Schulter berührte.
„Hey, entschuldige", sagte sie und trat einen Schritt zurück, als er sich erschrocken einen Ohrhörer rauszog.
„Ja?", fragte er und wirkte, als habe sie ihn aus fernen Welten in die Realität zurückgeholt.
„Ich bin Debby", stellte sie sich vor und redete schnell weiter, als die Situation plötzlich irgendwie unangenehm wurde. „Wir kennen uns von vorgestern Abend am Bahnhof. Du hast mit mir auf den Zug gewartet und mir deine Jacke gegeben, danke nochmal dafür. Die hätte ich dir natürlich mitgebracht, aber ich hatte keine Ahnung, dass du auf meine Schule gehst, um ehrlich zu sein."
„Kein Problem", erwiderte er freundlich. „Ich könnte sie heute Nachmittag abholen, wenn dir das passt." Asche rieselte von seiner Zigarette zu Boden, ehe er sie an die Lippen führte und einen Zug nahm
„Das klingt gut. Hast du einen Zettel oder so? Dann schreib ich dir meine Adresse auf."
Er zog sein Handy aus der Hosentasche, schüttelte das Kopfhörerkabel vom Display, entsperrte es und tippte kurz darauf herum, ehe er es ihr mit der geöffneten Notizenapp hinhielt. Sie nahm es entgegen und tippte ihre Adresse ein. Nach einem letzten Zug trat er seine Kippe am Boden aus und schob das Handy in seine Hosentasche zurück.
„Bis heute Nachmittag dann", verabschiedete er sich und drehte sich bereits weg, als sie ihn zurückhielt.
„Warte! Wie heißt du eigentlich?"
Er lächelte ein wenig.
„Farin", sagte er, steckte sich den Ohrhörer wieder ins Ohr und wandte sich in Richtung Haupteingang um.
Debby hingegen drehte sich zum Schulhof und entdeckte dort zwei Mädchen, die beieinander untergehakt am Eingang standen und zu ihr rüber starrten. Sie schaute nach rechts und links und überquerte die schmale Straße.
Lächelnd gesellte sie sich zu ihren besten Freundinnen, aber weder Bella noch Clarissa erwiderten das Lächeln. Stattdessen zogen sie die Augenbrauen hoch und setzten einen tadelnden Blick auf.
„Was war das denn?", fragte Clari und strich sich eine Strähne ihres hellbraunen Haars hinters Ohr.
„Was meinst du?" Debbys Lächeln schwand.
„Hast du dem etwa deine Nummer gegeben?", fragte Bella. Sie trug einen auffälligen, dunkelroten Lippenstift.
Debby drehte sich in die Richtung, in der von Farin nichts mehr zu sehen war.
„Nein, ich hab ihm meine Adresse aufgeschrieben", erwiderte sie, woraufhin Bella und Clari noch verständnisloser aussahen als vorher.
„Direkt die Adresse, alles klar. Du weißt schon, dass du einen Freund hast?", sagte Clari.
„Ich weiß das. Aber Thomas hat Samstag kurzzeitig vergessen, dass er eine Freundin hat. Er hat nämlich lieber ein paar vollkommen Fremde angepöbelt, als mit mir den Zug zu kriegen. Und dann stand ich mitten in der Nacht alleine am Bahnsteig", gab Debby zurück und hob zum Ende die Stimme, um das Klingeln der Schulglocke zu übertönen. Die drei setzten sich in Bewegung.
„Und deswegen möchtest du ihn jetzt gegen diesen ... Typen eintauschen?", schlussfolgerte Clari.
„Dieser Typ war so nett mit mir zu warten und hat mir seine Jacke geliehen. Die hab ich vergessen ihm zurückzugeben", erklärte sie und Clari zuckte erneut mit den Augenbrauen. Überzeugt wirkte sie nicht.
Als Debby gefolgt von Bella und Clari kurz vor dem zweiten Klingeln den Klassenraum betrat, sprang Thomas von seinem Platz auf und kam zu ihr nach vorne. Bevor sie etwas sagen konnte, zog er sie in eine Umarmung.
„Tut mir leid", murmelte er in ihr Ohr, während er sie an sich drückte. „Ich war so ein Idiot, ohne Scheiß. Keine Ahnung was Samstag mit mir los war." Er löste sich von ihr und behielt die Hände an ihren Schultern, während er sich etwas zurückzog und ihr in die Augen schaute. Echte Reue lag in den seinen.
„Ist schon gut", murmelte sie und lächelte, woraufhin er sich vorbeugte und ihr einen liebevollen Kuss auf den Mund gab. Sein ernster Gesichtsausdruck wurde von einem Lächeln abgelöst.
„Danke", sagte er und sie küssten sich nochmal, ehe er sie wieder losließ. Der Lehrer trat in den Raum und die beiden gingen durch die Sitzreihen zu ihren Plätzen. „Ich komm heute bei dir vorbei und wir machen uns einen schönen Tag, okay?", schlug Thomas vor und Debby nickte lächelnd, ehe sie nach rechts abbog und sich neben Bella niederließ, während er sich auf der linken Seite zu seinen Kumpels setzte.
Clari lehnte sich auf den Tisch und beugte sich vor, ihr Collegeblock verschwand unter ihrem langen Haar.
„Denkst du wirklich es war eine gute Idee diesem Punk deine Adresse zu geben?", flüsterte sie, während der Lehrer vorne seine Tasche aufs Pult legte und sie aufforderte ihre Hausaufgaben rauszuholen.
„Wieso?", fragte Debby, während sie in ihrem Rucksack nach ihrem Deutschheft suchte.
„Vielleicht brechen er und seine kriminellen Freunde bei dir ein."
Sie hielt inne und hob den Blick. „Was für ein Unsinn. Und wie kommst du bitte drauf, dass er kriminell ist?"
„Sind die das nicht alle?", meinte Bella und zog einen Streifen Kaugummi aus der Tasche ihrer Jacke, die hinter ihr über der Stuhllehne hing. Debby ließ ihren Blick ein bisschen weiter wandern, um jetzt Bella anzusehen, die mit fragendem Blick auf ihrem Kaugummi herumkaute und auch Clari schien sich keiner Schuld bewusst. Sie seufzte und schüttelte den Kopf, dann schaute sie wieder in ihren Rucksack, um endlich ihr Heft zu finden.
Debbys Mutter kam aus der Küche in den Flur, als ihre Tochter gemeinsam mit Thomas durch die Tür trat.
„Schön dich zu sehen, Thomas", sagte sie mit einem Lächeln. „Das Essen ist auch gleich fertig, ich hoffe ihr habt Hunger mitgebracht."
„Danke, Susanne. Haben wir", antwortete er und lächelte höflich, ehe er in die Hocke ging und wie Debby seine Schuhe aufschnürte.
„Ich hab mir schon Sorgen gemacht, als Debby am Samstag alleine nach Hause gekommen ist, aber scheint ja alles gut zu sein bei euch", sagte Susanne und ging in die Küche zurück.
„Zum Glück", meinte er, als sie schon im Gehen war. Er schaute ihr nicht hinterher, sondern blickte Debby an, die ihre Hand auf Treppengeländer gelegt und ihren Fuß auf die erste Stufe gestellt hatte.
Sie lief die Treppe voraus nach oben, nachdem er seine Schuhe ins Schuhregal gestellt hatte. In ihrem Zimmer startete sie den Computer, der auf ihrem Schreibtisch an der linken Wand stand, und Thomas machte es sich auf ihrem Bett am Fenster bequem.
Er warf einen kritischen Blick auf Farins Jacke, die über dem Schreibtischstuhl hing, sagte aber nichts. Debby wählte die nächste Folge der Serie, die sie gerade schauten und legte sich dann in seinen Arm. Er zog die Decke über sie und sie versanken in fremden Welten, bis Debbys Mutter sie eine halbe Stunde später zum Essen rief. Debby kletterte aus dem Bett und pausierte die Folge mit einem Tippen auf die Leertaste, dann lief sie gefolgt von Thomas in die Küche und setzte sich an den Esstisch, auf den ihre Mutter gerade den dritten Teller stellte.
„Es gibt Gemüseauflauf, ich hoffe, er schmeckt euch", sagte sie und holte die Auflaufform aus dem Backofen. Mit einem Pfannenwender trennte sie ein rechteckiges Stück heraus und schaufelte es Thomas auf den Teller.
„Es riecht auf jeden Fall hervorragend", sagte der und entlockte Debbys Mutter ein Lächeln.
„Vielen Dank", erwiderte sie und warf Debby einen vielsagenden Blick zu, als sie ihr das nächste Stück auftat.
Debby lächelte. Ihre Mutter war nicht die einzige, die Thomas charmante Art schätzte. Was in der Nacht von Samstag auf Sonntag am Bahnsteig in ihn gefahren war, konnte sie sich immer noch nicht erklären.
Sie aßen und führten ein lockeres Gespräch, das einige Minuten später von der Türklingel unterbrochen wurde. Alle hielten inne.
„Wer wird das sein?", fragte Susanne und nahm das Messer von der rechten in die linke Hand zur Gabel, da sprang Debby auf.
„Ich glaube das ist für mich", sagte sie, ließ die Gabel auf den Teller fallen und lief zur Tür. Sie öffnete und mit Farins Anblick stieg ihr der Geruch von kaltem Rauch in die Nase.
„Hey", sagte er mit einem leichten Lächeln. „Ich wollte meine Jacke abholen."
Sie erwiderte sein Lächeln.
„Ich hol sie dir, warte kurz", sagte sie und lehnte die Haustür an, weil sie den Blick von ihrer Mutter und Thomas im Rücken spürte. Sie rannte die Treppe rauf und zog die Jacke von der Lehne ihres Stuhls. Als sie die Treppe wieder runterkam war die Tür offen und Thomas stand mit verschränkten Armen im Rahmen.
„Was willst du hier?", fragte er und Debby sprang die letzten Stufen hinunter. Er baute sich wieder auf wie er es am Bahnhof schon getan hatte.
„Keinen Stress mit dir", hörte sie Farins ruhige Stimme.
„Er möchte seine Jacke abholen", mischte sie sich ein und schob sich an Thomas vorbei. Auf Socken trat sie auf die kühlen Steine vor der Haustür und streckte Farin, der einen Schritt vortrat, seine Jacke hin.
Er ergriff sie.
„Die Frage ist, warum meine Freundin überhaupt deine Jacke in ihrem Zimmer hat", kam es von Thomas. Auch er trat einen Schritt vor und stand auf gleicher Höhe mit Debby.
„Weil ich nicht wollte, dass sie sich erkältet, während du damit beschäftigt warst dich mit meinen Freunden zu streiten. Keine Sorge, ich bin nicht hier, um sie dir auszuspannen." Farin schob seinen rechten Arm in die Lederjacke und zog sie schwungvoll an. Er wandte sich Debby zu. „Danke. Wir sehen uns." Er nickte ihr zu und drehte sich zum Gehen.
„Lass dich nicht nochmal hier blicken, klar?", murrte Thomas und schwellte seine Brust noch ein wenig mehr. Debby schaute ihn von der Seite an und hob die Augenbrauen.
„Was soll das?", fragte sie und wich aus, als er ihr die Hand auf die Schulter legen und sie mit sich ins Haus nehmen wollte.
„Wir müssen reden!", erwiderte er.
„Find ich auch", stimmte sie zu und trat vor ihm ein.
„Entschuldige bitte, Susanne, Debby und ich müssen was besprechen", rief er in die Küche, während er die Haustür schloss. Dann folgte er ihr eilig nach oben und setzte sich aufs Bett, während sie sich mit verschränkten Armen auf ihrem Stuhl niederließ.
„Woher hat der Kerl deine Adresse?", eröffnete er. Seine Stimme war gepresst und er saß auf der Kante, die Ellbogen auf den Knien aufgestützt.
„Von mir. Ich hab sie ihm heute Morgen gegeben damit er seine Jacke abholen kann. Da ist nichts dabei, immerhin war es echt nett von ihm, dass er sie mir überhaupt geliehen hat", gab sie zurück und lehnte sich zurück, die Augen leicht zusammengekniffen.
„Nichts dabei?", wurde Thomas laut. „Verdammt, Debby, ich möchte nicht, dass du dich mit Typen wie ihm abgibst. Die sind gefährlich!" Er erhob sich, während er die Worte sprach und auch sie stand auf und blickte ihm in die Augen.
„Ich lasse mir von dir nicht sagen mit wem ich meine Zeit verbringe. Für wen hältst du dich eigentlich?"
„Ich halte mich für deinen Freund, auf den du hören solltest", gab er zurück und straffte die Schultern, genau wie er es Farin und seinen Freunden gegenüber getan hatte.
„Seit wann machst du mir Vorschriften?"
„Seit es notwendig ist. Du hörst auf mich!"
Sie presste die Zähne aufeinander und schaute ihn an. Ließ ihren Blick von seinem rechten zu seinem linken Auge wandern und wieder zurück.
„Es ist besser wenn du jetzt gehst."
„Wie bitte?"
„Raus hier!", wiederholte sie lauter, packte ihn am Arm und schob ihn an sich vorbei Richtung Zimmertür.
Er zog die Augenbrauen hoch und sein Mund klappte auf, sein Widerstand war nur gering.
„Also schön", zischte er, verließ den Raum und knallte die Tür hinter sich zu.
Sie wartete, während seine Schritte auf der Treppe zu hören waren. Stille. Seine Verabschiedung von ihrer Mutter. Das Zuschlagen der Haustür. Sie pustete die Luft aus und ließ sich auf ihren Stuhl sinken, das Gesicht vergrub sie in den Händen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top