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Ein Knall riss die Geschwister aus ihrer Arbeit. Sara und Kara hoben die Köpfe, standen aber nicht auf. Liana erhob sich und ging ans Fenster. Bestimmt nur die Müllabfuhr.
Doch was sie tatsächlich sah, brachte sie zum Aufschreien.
"Los, zur Hintertür! Wir müssen hier weg!", schrie Liana und rannte panisch ins Nachbarzimmer zu ihrem Eltern und ihren Brüdern. "Wir müssen hier weg!"
Der Vater hob beruhigend beide Hände. "Beruhig' dich! Was ist denn los?", fragte er.
"Das Dorf wird bombardiert!", schrie Liana erneut panisch und ihre Stimme kroch vor Angst ein paar Tonlagen höher.
"Was redest du da?", fragte der Vater mit gerunzelter Stirn und erhob sich im selben Moment, um mit langen Schritten zum Fenster zu gehen.
Die Zwillinge drängten sich mit ängstlich aufgerissenen Augen im Türrahmen. Die Mutter hob verunsichert den Kopf, sagte aber nichts.
Lianas Vater riss die Augen auf, aber vor den Geschwistern nahm er sich etwas zusammen. Kurz schien er vor Schock wie erstarrt, dann erwachte er aus seiner Trance.
"Los, Levan, Xavier, wir müssen hier raus!"
Verzweifelt sah Liana hinaus. Draußen schien nicht gerade die Rettung zu lauern, aber hier drinnen wären sie verloren. Gewiss. Schnell schnappte sie sich Kara, die schnaubend protestierte, als Liana sie urplötzlich auf den Arm nahm, und griff Sara an der Hand und rannte mit beiden zum Hinterausgang. Ihr Vater nahm die beiden Jungs an den Händen und folgte ihr eilig.
Draußen war das Chaos groß: Nicht nur, dass die fallenden und explodierenden Bomben einen Heidenlärm verursachten, die Luft roch so angebrannt, dass Liana das Gesicht verzog. In der Ferne klangen die Schmerzensschreie der Dorfbewohner, die den Terror wahrscheinlich wortwörtlich am eigenen Leib spürten. Der aufsteigende Rauch verdunkelte den hellen Mittagshimmel. Die vielen Feuer ringsum tauchten alles in ein schauriges, oranges Licht. Das Knacken der Feuer schien ohrenbetäubend laut zu werden, und Kara schrie erschrocken auf. Auch Sara heulte auf und Tränen rannen ihr übers Gesicht, während Liana sie durch die hier meist noch intakten Gassen zog. Doch die Himmelsschiffe waren schneller als die fliehende Familie: Alsbald fielen auch um sie die Bomben und zerstörten die einst liebliche Nachbarschaft.
Lianas Vater schrie auf. Da wurde Liana still. Sie hatte ihren Vater noch nie so verzweifelt gesehen. Mutter heulte auch. Die Asche in der Luft legte sich auf ihr Gesicht und ihre Haare und ließ sie alt und müde aussehen. Mutter klammerte sich krampfhaft an die Hand von Vater. Liana wurde langsamer und sie schaute sich um. Die Welt wurde leiser. Nein, das konnte ihnen nicht wirklich passieren. Oder? Oder?!
Sie erblickte ihre rennenden Eltern. Alles schien so fremd, als wäre es nie ihres gewesen.
Sara riss sie aus ihrem Gedanken, als sie Liana ungeduldig an der Hand zog.
Da kehrte auf einmal auch der Ton zurück und alles war viel zu viel.
"Komm', Liana, komm' mit! Wir müssen weiter!"
In dem Moment fiel unmittelbar vor ihnen eine Bombe und explodierte in einem grellen Lichtblitz. Schützend riss Liana ihre Arme hoch und schloss die Augen.
Durch die starke Druckwelle wurde sie zu Boden geschleudert. Aller Lärm mündete in einem einzigen schrecklich grellen Ton, der langsam verebbte.
Alles wurde still. Sie hörte keinen Kampfeslärm, kein Feuer, keine Schreie. Alles schien friedlich. Eine heiße Flüssigkeit troff ihr auf die Wange. Blinzelnd öffnete sie ihre Augen. Sara beugte sich über sie, verzweifelt heulend, mit vielen Platz- und Schürfwunden im Gesicht, aus denen Blut quoll. Sara bewegte ihren Mund, aber Liana verstand keinen Ton. Es war immer noch gespenstig still. Aber sie vernahm jetzt ihren eigenen Herzschlag laut und deutlich in ihrem Kopf. Sie lebte noch.
Mit vor Schmerzen pochendem Kopf rappelte sie sich auf und sah sich um. Ihre Mutter und ihr Vater lagen still zwischen den Trümmern und rührten sich nicht. Liana rannte zu ihnen und kniete sich neben sie. Etwas Warmes rann ihr Gesicht hinab und sie schluchzte. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie angefangen hatte zu weinen.
Langsam kehrten Farben und Töne zu Liana zurück, und sie musste mit Schrecken feststellen, dass der Kampfeslärm nicht abgenommen hatte. Doch ihre Eltern lagen noch genauso still da wie vorher. "Mom, Dad!", wimmerte Liana verzweifelt und rüttelte an den Schultern ihres Vaters. Sie hatte ihre Familie nie sehr geschätzt, abgesehen von ihren kleineren Geschwistern, aber dass sie so entzweigerissen wurden, das hatten sie beide nicht verdient. Sie rüttelte nochmals, als sie eine kleine Hand auf ihrer Schulter spürte. "Xavier!", heulte Sara und deutete auf den entstellten Kinderkörper, der gekrümmt unter den Trümmern eines Hauses hervorguckte.
"Shh, alles wird gut", tröstete Liana ihre Schwester und nahm sie fest in den Arm, aber es war nicht ehrlich. Sie spürte den Herzschlag ihrer Schwester abgehackt und eilig in ihrer Brust hämmern.
Als sie ein paar Sekunden so da gehockt hatten, hörte Liana viel mehr. Sie hörte einen weiteren kleinen Herzschlag, schwach, aber noch nicht verschwunden. Liana löste sich von Sara und rannte zu Kara, die fast verschüttet in den Trümmern lag. Eine Staubschicht hatte sich auf ihr zartes Gesicht gelegt und ihre Haare lagen wild über ihrem Gesicht. Liana strich mit einer Hand eine ihrer dunklen Haarsträhnen aus ihrer Platzwunde, direkt über dem linken Auge. In dem Moment hörte sie, wie eine weitere Bombe fiel und explodierte. Furchtsam zuckte sie zusammen. Sie konnte nicht zuordnen, wie weit die Bombe entfernt gewesen war. Als sie ihre Augen zusammenkniff und zum Himmel schielte, konnte sie nicht sagen, ob sich die todbringenden Himmelsschiffe entfernten oder näherten.
Kurzerhand nahm sie Kara auf den Arm, schnappte Saras Hand und lief weiter durch die Trümmer. Sie sah Levan, wie er reglos zum Himmel starrte. Sein Körper war unnatürlich verkrümmt und die Bombe hatte ihm beide Beine abgerissen. Überall war Blut. Sie kniete sich nicht zu ihm, denn sie hörte, irgendwie, dass sein Herz aufgehört hatte zu schlagen und der Blutfluss durch seine Adern längst versiegt war.
Das machte sie nur noch panischer und sie zog Sara weiter an ihre Seite und mit sich, auch wenn ihre kleinen Beine Mühe hatten mit Lianas großen, langen mitzuhalten.
Sara wimmerte leise an ihrer Seite und Liana rief hektisch: "Schneller! Wir müssen den Wald..."
Eine erneute Bombe fiel fast unmittelbar neben ihnen und Saras Hand wurde aus Lianas gerissen. Diesmal aber ließ sie Kara nicht fallen, sondern umklammerte das Mädchen noch fester, sodass Kara auf sie fiel. Panisch stellte Liana fest, dass sie vom Feuer eingeschlossen waren. Sie befanden sich wohl in einem ehemaligen Haus, dessen eingebrochener Dachstuhl gänzlich aus trockenem Holz bestand, an dem sich die Flammen nun hungrig empor züngelten. Ein verzweifelter Angstschrei übertönte alle anderen Geräusche und Liana erstarrte. Sie identifizierte ihn als Saras Schrei und drehte sich in die Richtung, aus der er gekommen war. Saras Arm war aufgerissen, das Weiß des Knochens blitzte hindurch, scheinbar durch einen fallenden Ziegelstein verursacht. Die Wunde blutete stark, wahrscheinlich war eine große Armarterie verletzt worden. Sie rannte zu ihr und untersuchte die Wunde grob mit den Augen. Ehe Liana überhaupt wusste, was sie tat, riss sie ein Stück ihres Pullovers ab und band es eng um die Wunde, um die Blutung zu stoppen. Dann zog sie Sara auf die Beine, die vor Schmerzen schrie und nahm erneut Kara auf den Arm. Sie war noch immer nicht aufgewacht. Würde sie überhaupt aufwachen?
Ohne genau zu wissen, in welche Richtung sie liefen, rannten die Geschwister weiter. "Schneller!", spornte Liana keuchend und panisch ihre kleine Schwester an, die sie mehr oder weniger hinter sich herschleifte. Sie mussten den Wald erreichen. Da wären sie in Sicherheit, hoffte zumindest Liana. Sie sahen viele verzweifelte Nagai, die sich über leblose Körper beugten oder ihre Verletzungen betrachteten, bevor sie angsterfüllt die Augen aufrissen und jetzt erst zu verstehen schienen, was gerade passierte. Doch Liana schenkte ihnen keine Aufmerksamkeit. Sie musste hier weg! Sie musste ihre Geschwister in Sicherheit bringen!
Sie rannten und rannten und konnten eigentlich schon gar nicht mehr, doch das Adrenalin in ihrem Blut vollbrachte Wunder. Liana wusste, irgendwo ganz hinten in ihrem Kopf, dass sie durch fremde Wohnzimmer rannten und verbrannte und entstellte Leichen passierten. Doch daran wollte sie nicht denken und verdrängte es. Weg, weg, weg!, waren ihre einzigen Gedanken.
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