27

Die Dunkelheit brach schnell herein, nachdem die Sonne untergegangen war. Die Straßenlaternen sprangen an und Ares öffnete die Tür. "Dann mal los."

Liana folgte Ares, der sich scheinbar hier in dem kleinen Hostel besser auskannte als gedacht, zu einer Art Hinterausgang. Sie traten durch die Tür und standen in einem Hinterhof, eingerahmt von vielen Häuserrücken. Überall war nur Grau und Liana sehnte sich in dem Moment wieder nach dem Wald. Aber Ares kannte anscheinend den Weg, denn er lief eilig durch ein schmales Gässchen, das sie wieder auf die Straße führte. Ares beschleunigte seinen Schritt, und Liana blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Rechts von ihnen war die Straße von Häusern gesäumt, doch links versiegte das Licht und die Dunkelheit war übermächtig. Liana konnte nur annehmen, dass dort genauso Häuserruinen standen, die nicht wiederaufgebaut worden waren. Aber bald kamen sie wieder in belebtere Stadt, in der die Häuser und Geschäfte beide Straßenseiten füllten. Hier waren auch mehr abendliche Spaziergänger unterwegs. Ares hatte sein Tempo inzwischen drastisch gedrosselt und lief mit gemäßigten Schritten die Treppen zu einer kleinen Schneiderei hinauf. Als sie so unerwartet die Tür aufstießen und eintraten, hob ein auf einem Stuhl sitzender, alter Mann am Ende des Raumes seinen Kopf und faltete die Zeitung zusammen, die er gelesen hatte. Aber in seinen Augen war keine Spur der Überraschung zu finden, erkannte Liana, als er auf sie zukam, um sie zu begrüßen. Verdammte Hexer! Doch Liana lächelte nur, als der alte Mann sie mit den Worten "Seid gegrüßt" begrüßte. Als wäre es das normalste der Welt, dass sie sich so spät noch draußen herumtrieben. Ares nickte ebenfalls. "Ein schöner Abend, um spazieren zu gehen." Nanu? Verblüfft blickte Liana zu Ares, weil sie nicht glauben konnte, was sie gerade vernommen hatte. Aber der alte Mann lächelte nur. "Die Dunkelheit, sie hat doch auch etwas für sich."

Auf einmal kam ein Ruck in beide Männer und sie fielen sich um den Hals. Beide lachten erleichtert, als sie sich gegenseitig die Schulter klopften. "Dich habe ich ja lange nicht mehr gesehen, Lanny."

Liana war nur mehr verwirrt von dem, was sich vor ihren Augen abspielte.
"Lanny" wandte sich ihr zu. "Und wer ist diese junge Nagai?"
Ares Blick fiel auf Liana. "Ach, das ist nur... eine Freundin, Liana."
Lanny drehte sich beinah vorwurfsvoll zu Ares um. "Seit wann haben alte Freunde Geheimnisse voreinander, Ares?" Doch bevor Ares etwas erwidern konnte, drehte er sich zu Liana um. "Diese Freundin ist nicht nur eine junge Machtträgerin, offenbar hat sie bereits Bekanntschaft mit Zauberern gemacht."
Liana knickste leicht und senkte kurz den Blick, bevor sie wieder in seine überraschend intensiv grünen Augen blickte. "So ist es. Gehören Sie dazu?"
Er musste schmunzeln und schaute zur Seite, wo Ares stand. "Nun, ich weiß nicht, was mein Freund über mich erzählt hat..."
"Nichts", beendete Ares die Konversation schnell und warf Lanny einen nachdrücklichen Blick zu. "Und jetzt ist auch nicht die Zeit, dies zu erörtern. Wir brauchen deine Hilfe."
"Nur Geduld, mein übereifriger Freund, soviel Zeit muss sein. Immerhin willst du ja, dass sie dir eine Hilfe ist, und dafür muss sie es ja wissen." Ares seufzte, als hätte er Schmerzen.
Es? Was wissen?, hätte Liana am liebsten gefragt, doch sie blieb still und wartete stattdessen ab. Der alte Mann drehte sich einen Moment um. Er ging in einen Raum hinter die Theke und... verschwand. An seiner Stelle kam ein junger, sportlicher und hochgewachsener Mann mit mittellangem, blonden Haar heraus.
Liana war sichtlich verwirrt. "Wo ist Lanny", wollte sie wissen. "Arbeiten Sie auch hier?"
Der junge Mann grinste, als er auf sie zukam. "So ungefähr."
Hilfesuchend blickte Liana zu Ares, doch der starrte nur mit versteinerte Miene auf die Szenerie, die sich ihm darbot.
Aber der junge Mann kam noch einen Schritt auf Liana zu, und da wandte sie ihren Blick wieder nach vorne. "Sieh in meine Augen, Liana."
Sie war ein wenig verwirrt ob seines eindringlichen Tonfalls. Hatte er ihren Namen vorhin gehört?
Aber sie zwang ihre Augen, seine genauer zu betrachten und entdeckte die Augen des alten Mannes. "Aber... Wie..."
"Ich bin ein Gestaltwandler", meinte er schlicht und unterbrach den Blickkontakt, indem er einige Schritte zurücktrat. "Ich kann jede beliebige Form annehmen, die ich mir vorstelle. Manche Leute nennen uns auch Gestaltscheuchler, weil wir uns so super verstecken können, wenn Gefahr droht."
Liana nickte verunsichert und warf Ares einen Blick zu, der die Arme verschränkt hatte und die ganze Situation etwas missbilligend beobachtete. "Gibt es noch mehr... Ich meine, wie dich?" Liana wedelte dabei die Länge seines Körpers entlang.
Lanny lachte auf. "Ja, es gibt einige. Sie leben oft versteckt, sodass niemand von ihnen weiß."
Liana nickte wieder verstehend, obwohl sie es nicht ganz fassen konnte. "Gibt es einen Weg, sie zu erkennen?" Sie zögerte. "Damit würde ich mich sicherer fühlen."
"Du hast doch Ares, der dich beschützt", zwinkerte Lanny und stützte seinen Arm auf der Theke auf. Aber er beantwortete trotzdem ihre Frage. "Für normale Menschen ist es fast unmöglich. Aber Machtträger... Ich denke, mit der Zeit wirst du ein Gefühl dafür entwickeln. Die Macht zielt darauf ab, ihren Träger zu beschützen."
"Und Ares... Ist er, bist du auch ein... Machtträger?"
Ares reagierte abwehrend und sein Blick blieb düster. "Wenn es so wäre, wüsstest du es schon." Verunsichert starrte Liana ihn noch immer an. Er zögerte und seine Stimme verlor an Festigkeit, als er ein kaum hörbares "Nein" herauspresste.
"Aber... Wie..."
"Training und Kontakte", unterbrach Ares sie, bevor sie ihren Gedanken zu Ende formulieren konnte. Die Festigkeit in seiner Stimme war zurück, was Liana etwas verunsicherte.
Sie kam sich blöd vor, so viele Fragen zu stellen, doch schaute sie Lanny mit einem so tröstenden, warmen und geduldigen Blick an, dass sie ermutigt wurde. "Ist das deine eigentliche Form?"
Lanny schien kurz zu überlegen. Aber Ares kam ihm zuvor. "Das sagt er uns ja nicht."
Lanny lächelte geheimnisvoll. "Wenn ein Zauberer alle seine Geheimnisse preisgeben würde, so verlor er doch all seinen Zauber."
Einen Moment irritiert verweilte Lianas Blick auf Lanny, dann flog er wieder zu Ares, der sie herausfordernd anblickte.
"Meine ursprüngliche Form...", murmelte Lanny und wandte sich ab. Als er sich ihnen wieder zuwandte, stand Liana auf einmal zwei Ares' gegenüber. "Es ist schwierig, diese Frage zu beantworten. Meine Form ist nicht fest, und ich habe aufgehört zu altern, seindem ich, nunja, wandle. Ich kann jeder sein und bin dennoch... Niemand."
Skeptisch warf Liana einen Blick zu Ares. Aus seinen kryptischen Worten wurde sie nicht so recht schlau, aber sie nahm an, dass er nur sicher war, wenn man seine wahre Form nicht kannte.

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