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Neben Lianas Koje befand sich ein kleiner Bildschirm, der Live-Bilder von draußen übermittelte. So hatte man doch das Gefühl, nicht ganz von der Außenwelt abgeschnitten zu sein, obwohl man sich mehrere hundert Meter unter der Planetenoberfläche befand. Da es sonst keine Fenster gab, ergo auch keine Helligkeit des Tages den Raum erhellen konnte, hatte Liana nur ein schlechtes Zeitgefühl. In ihrer Magengegend grummelte es die ganze Nacht, sodass sie nur schlecht schlafen konnte. Der Bildschirm war eine spezielle Nagai-Technik, Liana war damit durch ihr vorheriges Leben in dem Dorf vertraut. Nagai waren ganz vernarrt in die Technik und ihre Funktionsweise. Sie waren Vorreiter auf dem Gebiet und erfanden immer wieder neue Techniken, die das Leben erleichterten.
Der Bildschirm war extra so gestaltet, dass das Bild keine Helligkeit aussendete. Wahrscheinlich deswegen, um den Schlafenden nicht beim Schlafen zu stören. Leider erleichterte er das Schlafen auch nicht. Liana hatte die Mehrheit der Nacht wach gelegen und sich Gedanken gemacht über alles, was bis jetzt passiert war und was noch passieren würde. Eine merkwürdige, nervöse Unruhe wohnte ihren Muskeln inne und verhinderte so, dass sie sich entspannen konnten.
Als plötzlich Gina neben ihrem Bett erschien und ihren baldigen Aufbruch ankündigte, zuckte Liana nervös zusammen. Sie hatte sie überhaupt nicht gehört! Aber nichtsdestotrotz sprang sie sogleich auf und bereitete alles vor.
Als die Sonne aufging, verließen sie das Zimmer. Sorgfältig schloss Gina die Tür hinter ihnen. Sie gingen zu einer unbesetzten Theke, die Liana gestern scheinbar übersehen hatte, und legten die Karte auf das gemaserte Holz. Dann betraten sie einen der Fahrstühle. Es war genau der, der bis an die Oberfläche fuhr. Liana war etwas überrascht, dass Gina sich das gemerkt hatte, oder war das irgendwie markiert?, aber eigentlich sollte sie so etwas schon längst nicht mehr wundern. Die Auffassungsgabe von den Hexern war beeindruckend, musste Liana zugeben. Sie wunderte sich, ob sie je auch so beeindruckende Fähigkeiten entwickeln würde.
Sie fuhren bis zur Oberfläche, was Liana verblüffte. Sie dachte, sie würde am Flughafen in ein Schiff steigen? Aber Liana hatte es erst gemerkt, als sie schon das Tageslicht durch die Luke sehen konnten. Die Sonne blendete Liana und sie erhob eine Hand gegen die Sonne und kniff ihre Augen zusammen. Gina blieb unberührt, fest wie eine Statue stehen. Machte ihr das wirklich nichts aus, oder tat sie nur so unbeeindruckt?
Als die Mechanik einrastete, marschierte Gina sofort mit festem Schritt in Richtung Westen. Liana blieb nichts anderes übrig, als ihr hinterher zu eilen. Sie hatte zwar so viele Fragen, aber als sie die blauhäutige Hexe endlich eingeholt hatte, war sie zu sehr außer Atem, um ihre Fragen stellen zu können. Also schwieg sie.
Sie waren ohne Pause bis nach Sonnenhoch gelaufen und langsam meldeten sich Lianas Füße. Gina hatte immer noch einen beeindruckend starken und präzisen Schritt drauf. Seit sie heute früh losgelaufen waren, hatte sie nicht einmal den Kurs korrigiert oder war gar langsamer geworden. Zumindest hatte Liana nichts bemerkt. In diesem Moment blieb Gina urplötzlich abrupt an einer Hügelkuppe stehen. Je näher Liana kam, desto genauer konnte sie die Gesichtszüge von Gina ausmachen. Ihr Gesicht war eine Mischung aus Entsetzen und Schock. Liana hatte nie gedacht, dass sie dieser Emotionen überhaupt fähig war. Liana trat soweit nach vorne, dass sie mit Gina auf einer Höhe war.
Als sie einen Blick über das vor ihr liegende Tal schickte, wurde ihr bewusst, warum Gina so geschockt war. Vor ihr lag eine Stadt, und zwar buchstäblich. Sie lag in Schutt und Asche und die verkohlten Überreste schickten noch immer lange Rauchsäulen in den blauen Himmel. Liana stockte der Atem und ihr Herz kam ins Stolpern. Die Zeit schien aus dem Takt zu geraten. Dieses Bild hatte sie schonmal gesehen. Ein schmerzhaftes Pulsieren in ihrem Oberschenkel erinnerte sie an ihr damaliges Mantra. Aua. Weg, weg, weg!
Nach Beistand suchend drehte sie sich zu Gina um, doch an der Stelle, an der Gina noch ein paar Augenblicke zuvor gestanden hatte, sah Liana nur blühende Wildgräser, die sich im Wind wogen. Ein paar Vögel flogen über den sehr blauen Himmel, der so grell war, dass er Liana blendete. Sie tat einen Schritt nach vorne, und noch einen, und noch einen, und ehe sie es sich versah, war sie nur noch hundert Meter von der zerbombten Stadt entfernt. Sie schluckte und befahl ihren Muskeln, einen weiteren Schritt vorwärts zu gehen, als sie auf einmal eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Sie drehte sich um und blickte in das Gesicht von Gina, das viel zu nah war. "Geh nicht dort hinein", mahnte sie.
Lianas Brauen zogen sich zusammen. "Ich muss den Überlebenden helfen!"
Doch Gina schüttelte nur traurig den Kopf und Lianas Schultern sackten hinunter. "Und jetzt?"
Gina atmete tief ein. "Tut mir leid", flüsterte sie, bevor eine sachte Brise ihr Bild wegwischte, als wäre es nie da gewesen. Liana blickte sich suchend um, verwirrt, hoffend, sie würde so einen Hinweis finden, wie sie weitermachen sollte. Was sollte sie jetzt machen? Wohin sollte sie gehen? Als sie jedoch einen Schritt vorwärts gehen wollte, verschwand auf einmal der Boden, und sie fiel in eine tiefe Schwärze.
Liana kam auf einer Parkbank wieder zu sich. Sie musste ein paar Mal blinzeln, ehe das Bild vor ihren Augen scharf wurde. Gina saß neben ihr, blickte regungslos geradeaus. Liana erkannte die lila-schimmernden Spitzen der Hochhäuser einer nahen Stadt, wie sie im Sonnenlicht glitzerten. Als sie sich umsah, erkannte sie, wie viel geschäftiger diese Stadt im Vergleich zu den vorhergehenden war. Anscheinend war hier die Infrastruktur noch weitestgehend in Takt. Obwohl so viele Leute unterwegs waren, interessierte es niemanden, dass sie sich als Fremde in dieser Stadt aufhielten. Liana setzte sich aufrechter hin und betrachtete Ginas Seitenprofil. Ihr Gesicht war langgezogen, fiel ihr erst jetzt auf, und schien flachgedrückt. Sie hatte eine hohe Stirn und hohe Wangenknochen. Ihre Augenbrauen waren dünn und flohen schräg nach oben weg. Ihr Nasenrücken erhob sich kaum von den restlichen Gesichtsknochen, was in einer kleine Stupsnase resultierte. Ihre Lippen waren nur dünn und hatten kaum Profil in ihrem Schatten.
Liana war so gefangen in dieser Momentaufnahme, dass es wie ein Schock auf sie wirkte, als sich ebendiese Lippen auf einmal zu bewegen anfingen. "Gut, dass du wach bist. Bald startet ein Schiff in Richtung Taris City."
Liana brauchte einen Moment, um diese Worte zu verdauen. "Dann sollten wir gehen."
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