20
Liana hatte einen Trampelpfad in dem kargen Gewächs gefunden, das die Flanke des Berges bewuchs. Diesem folgte sie schon eine Zeit, und inzwischen war die Stadt nur noch ein kleiner Fleck neben riesigen Waldgebieten und hohen Bergen. Obwohl Liana wusste, dass die Dörfer der Nagai meist im Schatten hoher Berge errichtet worden waren, war Liana nicht bewusst gewesen, wie bergig die Oberfläche von Nagi war.
Liana hatte ihr Gesicht mit einem halbdurchsichtigen Tuch vor der Sonne geschützt. Obwohl sie nur fünf Minuten in der prallen Sonne gewandert war, sehnte sie sich schon wieder nach dem Schatten und sie richtete ihre Schritte bergab, in den dichten Wald am Fuße des Berges.
Nach nochmals fünf Minuten hatte sie endlich die Bäume und deren kühlen Schatten erreicht. Sie seufzte und nahm sich das Tuch vom Kopf.
Es war drückend heiß, sogar unter den Bäumen und aus dem Wald waberte ihr eine tropische Atmosphäre entgegen. Die Schweißperlen standen ihr auf der Stirn, während sie sich durchs Unterholz kämpfte. Sie ging abseits des Weges, weswegen ihr Weg sehr viel beschwerlicher war. Aus diesem Grund suchte sie nach einem Pfad, der ihr das Laufen erleichtern würde. Aber bis auf einen Trampelpfad konnte sie nichts entdecken, weswegen sie ihm folgte.
Erst, als sie den Wald verließ und sich erneut in einem Tal wiederfand, traf sie auf einen Weg, der unterhalb des Waldes verlaufen war. Sie folgte ihm, aber sie konnte keine Stadt sehen. Sie wunderte sich, aber ihr blieb nichts anderes übrig, als weiter zu gehen. Irgendwann fiel ihr eine einsame Straße auf, die aus dem Nichts kam und im Nichts zu enden schien. Augenscheinlich war dies eine Lande- und Startbahn für Air- und Space-Shuttles. Und das bedeutete, dass hier unter der Erde eine Stadt sein müsste.
Liana ging näher, um dies genauer zu untersuchen. An einem Ende des Rollfeldes befand sich mit gestrichelten Linien aufgemalt eine Art Kästchen. Es sah bei näherem Hinsehen so aus wie eine bewegliche Plattform, wie sie Liana von anderen Orten kannte. Aber etwas störte Liana an dem Bild, weshalb sie suchend um das Kästchen herumging. Sie achtete darauf, nicht auf die Plattform zu treten, obwohl sie bezweifelte, dass der Mechanismus bei ihrem Gewicht auslöste oder sie registrierte. Aber sie war vorsichtig, da sie wusste, wie fortgeschritten die Technik der Nagai war.
Sie machte neben der Landebahn einen kurz gemähten Rasenstreifen aus, der in der gleisenden Sonne mittlerweile braun verbrannt war. Sie schritt langsam näher.
Plötzlich raschelte es im nahen Gebüsch. Liana blickte erschrocken hoch und drehte sich einmal um die eigene Achse, mit den Augen die Quelle des Geräuschs suchend. Ein unachtsamer Schritt löste die Mechanik des Personenaufzuges aus und aus dem Boden vor ihr fuhr das Eingabedisplay. Nach einem skeptischen Blick auf die Apparatur trat sie näher. Sie las sich die vorgegebenen Auswahloptionen durch. Flugfeld, Flughafen, Mall, Wohneinheiten bezeichnet mit WE1 bis WE8, gefolgt von Untergeschoss U0 bis U-5. Liana zögerte und ihr Finger schwebte unentschlossen über den Wohneinheiten. Was war U-5 und was wurde so tief unter der Erde verborgen?
Aus dem Unterholz vor ihr kam auf einmal eine kleine Katze gerannt und strich ihr mit steil aufgestelltem Schwanz um die Beine.
Kurz entschlossen wählte sie die Mall aus und das Geländer zur Begrenzung fuhr aus dem Boden. Sie beugte sich zu der Katze hinunter und kraulte sie. Die kleine, graue Katze lehnte sich gegen ihre Hand. Ein zufriedenes Schnurren rumpelte in ihrer Kehle.
Als sie auf der Mall-Ebene angekommen waren, nahm Liana sie auf den Arm und stieg aus. Sie drehte sich um und sah gerade noch, wie sich die Fahrstuhltüren schlossen und der Fahrstuhl in der Wand verschwand.
Sie wandte sich wieder um und überlegte, was ihr nächster Schritt war. Erstmal wollte sie sich umsehen, beschloss sie. Also folgte sie der langezogenen Passage und musterte dabei die verschiedenen Läden, die ihren Weg säumten.
In dieser Stadt gab es kaum leerstehende Geschäfte. Hier schien die Infrastruktur noch intakter zu sein als in der vorhergehenden Stadt, in der sie geweilt hatte. Die Passage zog sich ewig in die Länge. Überall waren Leute, Geräusche und blinkende Lichter. Liana fühlte sich auf einmal unglaublich überfordert und müde. Sie rannte fast zu der gekennzeichneten Stelle, die den Fahrstuhl preisgab (dem Himmel sei Dank, sonst hätte Liana ihn vermutlich nie gefunden), und fuhr eine Ebene hinunter, zu den Wohneinheiten.
Das kleine Kätzchen lief brav bei Fuß, was Liana sehr überraschte. Aber sie hatte keine Zeit, es zu hinterfragen, denn dieses neuartige Umfeld verlangte ihr alles ab.
Auf der Ebene WE1 war alles ruhig. Dies wirkte sich sofort beruhigend auf Lianas überreiztes Nervensystem aus. Ihre Anspannung ließ nach, als sie durch die Flure ging, in denen eine Wohneinheit neben der anderen war.
Nirgendwo war ein Lebenszeichen zu erkennen oder ein Symbol, dass eine Wohneinheit unbewohnt war.
Sie wollte schon umkehren und wieder in die Mall-Etage fahren, als ein älterer Mann die Tür öffnete. Liana fuhr herum und starrte ihn erschrocken an.
"Sie habe ich hier noch nicht gesehen. Wer sind Sie?", fragte er sie kritisch.
"Ich... Ich bi... Bin", stotterte Liana und ihre Stimme versagte. Über eine nachvollziehbare Geschichte darüber, wer sie war und wo sie herkam, hatte sie sich vergessen Gedanken zu machen. "Ich... Bin aus einer benachbarten Stadt... Und besuche eine Freundin..."
Der Mann hob den Zeigefinger. "Pass auf, herstreunende Gören können wir hier nicht gebrauchen."
Erschrocken riss Liana die Augen auf und wich einen Schritt zurück. Sie öffnete ihren Mund, um zu protestieren, schloss ihn dann aber wieder, weil sie nicht wusste, was sie erwidern sollte.
"Hörst du, wir können dich hier nicht gebrauchen. Verschwinde!" Er wedelte genervt mit der Hand, als verscheuche er ein Insekt.
Plötzlich überkam Liana das dringende Bedürfnis zu flüchten. Nur weg von diesem Mann, nur weg von diesem Ort. Sie stürzte herum und in den Fahrstuhl. Der Mann blieb verdattert zurück.
Der Fahrstuhl fuhr nur bis zum Flughafen. Den Ausgang würde sie dort suchen. Die kleine Katze schoss in letzter Minute zu Liana.
Auf der Etage des Flughafens war überraschend viel Betrieb. Entgegen ihrer Erwartung fanden sich auch hier einige Geschäfte und Bars.
Irritiert von den vielen Leuten schlich Liana die Gänge entlang und suchte den Fahrstuhl, der nach draußen führte.
Die kleine Katze folgte ihr zuverlässig wie ein Hund.
Lianas Füße folgten den Pfeilen auf dem Boden, während sie versuchte, all die Geräusche und Lichteffekte um sie herum auszublenden. Sie kam an einer Bar vorbei, an der mehrere Männer standen. Obwohl ihre Worte im Wirrwarr des Flughafentreibens untergingen, verstand sie genug, um zu bemerken, dass sie über sie sprachen.
Sie hörte Worte heraus wie "Zauberin" und "fehl am Platz". Sie ignorierte dies, aber beim nächsten Satz horchte sie auf. "Nach Munlali Mafir." Dies erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie hatte einmal eine Karte des Universums besessen, die sie nächtelang studiert hatte. Der Name Munlali Mafir kam ihr bekannt vor. War das nicht ein Planet in den Unbekannten Regionen des Universums? Dort hatte das Imperium weniger Einfluss, hatte sie gelesen, und dieser Planet war auch bewohnt. Egal, dies war ihre Gelegenheit, Nagi zu verlassen und andere Welten zu sehen! Und vielleicht würde sie so der Order 66 auf den Grund gehen können. Sie musste sich nur überlegen, wie sie dies anstellte.
Gerade wollte sie sich umdrehen und die Raumfahrer ansprechen, da zog sie jemand am Ärmel in eine etwas abgelegenere Ecke.
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