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Sie verzog keine Miene. Stattdessen nickte sie auf den Stuhl vor sich. "Du bist hergekommen, das freut mich. Setz' dich."
Liana leistete ihrer Geste Folge und der Diener schloss die Tür.
"Wir können Hilfe gebrauchen. Die Arbeit auf dem Feld ist hart. Vielleicht könntest du uns bis zum Winter unterstützen", kam Anabell gleich zur Sache. Liana musterte ihr Gesicht, das von tiefen Furchen gezeichnet war. Ihre Hände, ordentlich auf dem Tisch gefalten, trugen zahlreiche Narben und Schwielen.
Liana nickte. "Dann werde ich erstmal hier bleiben und mithelfen."
Anabell lachte erleichtert. "Das ist gut. Wir brauchen Leute, die mit anpacken."
Liana nickte und erhob sich von ihrem Stuhl. "Wo soll ich mit anpacken?"
Anabell lächelte und blieb sitzen. "Darion wird dich hinbringen." Sie drückte einen Knopf vor ihr auf dem Tisch, es brummte kurz und der Diener, der Liana zum Büro von Anabell geführt hatte, kam herein. "Bringe sie zur Scheune." Darion nickte, als er die entschlossenen Worte seiner Anführerin hörte.
"Kommen Sie mit", meinte er und winkte Liana zu sich. Zögernd schritt sie vor ihm durch die Tür. Er führte sie wieder aus dem Haus, worüber Liana ganz dankbar war. Sie hätte sich allein sicher verirrt. Er eilte über den Marktplatz und sie folgte ihm. Sie fragte sich, ob er das öfter tat, denn er wirkte sich seines Zieles sehr sicher. Sie fand es aber unpassend zu fragen.
Irgendwann öffneten sich die Häuser und gaben den Blick auf einige gigantische Gebäude frei. Auf eines davon hielt er zu. Bis zum Horizont war Wald, Liana konnte nur einige alte Obstplantagen ausmachen. Sie runzelte die Stirn. Anabell hatte doch gemeint, sie bräuchten Hilfe auf den Feldern? Müssten da per Definition nicht auch Felder da sein, auf denen gearbeitet wird?
Sie sprang ein paar Schritte nach vorn und war dann gleich auf mit Darion. "Wo sind denn die Felder? Ich sehe gar nichts", fing sie an und da lachte Darion herzlichst auf.
"Warten Sie nur ab, Sie werden staunen."
Es waren inzwischen sicher Monate vergangen, seit Liana in der Stadt wohnte und arbeitete. Die Felder waren überraschenderweise in riesigen Hallen oder unterirdisch angelegt, um die Feldarbeiter vor der intensiven Sonneneinstrahlung zu schützen.
Liana war gerade an dem Hauptgebäude angekommen, das wie eine Scheune anmutete. Ein Fahrstuhl fuhr direkt hinunter zu den Feldern. Liana war die einzige, bis auf Etage -2 noch weitere Feldarbeiter hinzukamen. Dieses unterirdische Gebäude diente nämlich nicht nur der Feldarbeit, auf den ersten Etagen befanden sich auch einige Schlafquartiere. Weiter unten wurde an weiteren Wohnetagen gebaut, um im Kriegsfall einen Rückzugsort zu haben. Liana fuhr bis auf Etage -13, auf der sie ausstieg. Sie half dabei, sich um die Feldfrüchte zu kümmern und im Herbst bei der Ernte zu helfen.
Es war kurz vor dem Ende ihrer Schicht, als einem Mann beim Transport eines Düngefass ein weiteres auf sein Bein fiel. Er schrie fürchterlich auf. Für einen kurzen Moment weiteten sich Lianas Augen, ihr Herzschlag beschleunigte sich und sie hatte das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie roch Rauch und verbrannte Asche, zumindest nahm sie das so wahr. Genauso hatte der Überfall ihres Dorfes angefangen. Ihr Gehirn drängte sie zur Flucht, erlaubte keinen rationalen Gedankengang mehr. Sie schüttelte sich schwach, in der Hoffnung, die Angst und ihre Halluzinationen abzuschütteln, doch es gelang ihr nicht. Ihre Kraft schwand und sie sackte kraftlos in sich zusammen.
Als sie sich wieder rühren konnte und der Kampfeslärm in ihrem Kopf abgeklungen war, bemerkte sie, wie still es in der Halle geworden war. Ihre Sinne kehrten zurück und ihr Kopf hörte auf, sich zu drehen. Langsam und vorsichtig erhob sie sich, immer noch etwas wackelig auf den Beinen. Sie ging zum Fahrstuhl und drückte die Taste, damit der Fahrstuhl zu ihr hinunter fuhr. Ihre Knie zitterten vom Stehen, als sie nach einer Weile den Fahrstuhl betrat. Mit einer Hand umklammerte sie die Griffstange, die sich in Hüftehöhe über die gesamte Fahrstuhlwand erstreckte. Nach einer Weile zitterte ihr ganzer Arm. Zu allem Überfluss hielt der Fahrstuhl noch mittendrin. Ein älterer Mann stieg zu. Er kam Liana seltsam bekannt vor, aber momentan hatte sie andere Probleme, als darüber nachzudenken. Er musterte sie immer wieder von der Seite, als sie nach oben fuhren. Als sich die Türen öffneten, atmete Liana erleichtert aus und ging mit langen Schritten voran. Doch schon beim ersten Schritt überkam sie die Schwäche erneut und sie wäre beinahe wieder in sich zusammengesunken, aber im letzten Moment hatte sie sie wieder gefunden und konnte sich gerade noch rechtzeitig vor einem weiteren Sturz retten.
Der Mann schritt geschwind an ihre Seite. "Ist bei Ihnen alles okay? Brauchen Sie Hilfe?"
Liana lächelte und richtete sich wieder auf. "Mir ist noch etwas schwindelig, aber ich denke, ich schaffe es in mein Haus."
Der Mann neigte den Kopf. "Begleiten Sie mich doch kurz mit in mein Haus, dann kann ich Ihnen einen leckeren Kräutertee machen, der wird Ihrem Körper helfen."
Er legte einen Arm um ihre Taille, um sie im Notfall stützen zu können. Und im Moment hatte sie ausnahmsweise nichts dagegen.
Sein Haus war wesentlich kleiner als jenes, das ihr zur Verfügung gestellt worden war. Aber die kleinen Räume wirkten durch die Kerzen und das heimelige Knacken des Kaminfeuers gleich gemütlicher. Liana setzte sich auf einen Stuhl ans Feuer, während er die Kräutermischung für sie aufgoss.
"Ich bin übrigens Greg", brummelte er, während er schlurfenden Schrittes über das Parkett humpelte.
Liana bedankte sich, als er ihr die dampfende Tasse in die Hand drückte und probierte sogleich vorsichtig. Fluchend zuckte sie zurück. Durch die Hitze hatte sie rein gar nichts geschmeckt und zudem hatte sie sich die Zunge verbrannt. Damit würde sie eine Weile nichts mehr schmecken. "Mein Name ist Liana." Im selben Moment stutzte sie. Machte sie einen Fehler, wenn sie ihm ihren richtigen Namen verriet?
Er lächelte. "Keine Sorge, ich bin vertrauenswürdig." Liana runzelte die Stirn. "Sag', was ist passiert?", wollte Greg wissen. "Wenn du es mir sagen willst", fügte er schnell hinzu.
Liana überlegte kurz. Eigentlich gab es keinen Grund, die Wahrheit zu verheimlichen, oder? Oder? "Ach, nur ein Schwächeanfall", winkte sie ab und lachte. "Hab' ich manchmal nach einem langen und schweren Arbeitstag." Sie musterte ihn intensiv.
Doch er lächelte nur. Wenn es Liana nicht besser gewusst hätte, würde sie ihm unterstellen, dass er mehr wusste, als er sagte. Liana spannte sich an.
"Achso, ich hatte schon gedacht, dass Sie eine ernste Krankheit haben", lachte er und stand auf. Er ging zum Kamin und goss sich selbst einen Tee auf. "Wissen Sie, ich habe Seuchen, Viren und Krankheiten überlebt. Und wofür? Dass mich nun das Alter dahinrafft."
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