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Aber zu Lianas Überraschung ging es nicht nur darum, ihre Macht zu trainieren, nein, es ging auch um allgemeine Fitness. Und so gab es jede Menge Material, Seile zum Seilspringen, Sprintübungen und Kletterpartien. Natürlich wurden die Lektionen irgendwann auch kombiniert. Da hier keine Lianen wuchsen, waren stattdessen Seile zwischen die Bäume gespannt worden. Daran schwang Liana durch die Bäume und fing die Frisbees, die ihr Lehrmeister ihr zuwarf. Liana musste einen Parcours bewältigen, immer schneller, bis sie ihn in Schlaf absolvieren konnte. Irgendwann bekam sie einen Compound-Bogen und schoss auf Ziele, erst feste und dann bewegliche. Die kleine Hütte führte in eine große, unterirdische Trainingshalle, in der ihre Reaktionen auf die Probe gestellt wurden. Erst bekam Liana Karbon-Pfeile zum Trainieren, dann, als sie den Dreh raushatte, durfte sie mit Karbon-Pfeilen mit Laserspitze schießen. Sie kämpfte mit Messern, Schwertern und Dolchen. Aber mit keinem konnte sie so elegant und so zielsicher umgehen wie mit dem Bogen. Sie steigerte ihre Kraft, ihre Ausdauer und ihre Muskelmasse. Sie lernte, die Macht zu ihrem Vorteil zu nutzen und einzusetzen.
Eines Tages hatte Liana genug gelernt, alles, was die Hexen ihr lehren konnten, und sie beschloss, das Dorf zu verlassen. Liana teilte dies zuerst Gina mit, die sie am frühen Morgen auf dem Dorfplatz traf. Sie war nicht überrascht.
"Ich hoffe", fing sie an, "dass du jemanden findest, der dich noch mehr unterrichtet."
Liana nickte. "Ich will mein Dorf wieder aufsuchen."
Gina nickte. "Sei vorsichtig."
"Ich bin eine Jedi", hielt Liana stolz dagegen und reckte ihren Kopf in die Höhe.
Gina neigte ihrerseits das Haupt. "Eine Jedi ohne Waffe."
"Ihr habt mich gelehrt, mit Waffen umzugehen. Aber ich habe keine Waffe anvertraut bekommen", sprudelte es aus Liana in einem etwas vorwurfsvollen Ton heraus.
"Ein Jedi ist in erster Linie ein Beschützer", belehrte sie Gina. "Eine Waffe sollte man nicht unbedacht benutzen."
Liana dachte nach. "Aber mit Waffe würde ich mich sicherer fühlen."
Gina zeichnete mit ihren Händen einen Kreis in die Luft und lächelte, gnädig und weise. "Die Macht gibt dir Sicherheit, keine Waffe wird das jemals bewirken können."
Liana runzelte die Stirn.
"Ich sehe, du bist skeptisch, aber du musst vertrauen", sprach sie eindringlich weiter auf Liana ein.
Liana bekam keine Waffe anvertraut, sie musste hoffen, dass der kleine Dolch ausreichte. Gina führte sie in ein rundes Haus, das aus einem einzigen, großen Raum bestand. In der Mitte war eine kreisrunde, plattgetretene Fläche. Außenherum waren Bildschirme angeordnet, mit allen möglichen Bildern. Zwischendrin befanden sich säulenartige Holzstämme, in die Symbole, Zeichen und Figuren geschnitzt waren. In diesem Raum war Liana noch nie gewesen. Sie nahm an, dass der Raum eine rituelle Bedeutung hatte.
An einer Wand befanden sich schwarze Vorhänge, die verschoben werden konnten. In dem Moment kamen mehrere Personen hervor. Sie erkannte nur Pierré unter ihnen. Wortlos kam er auf Gina und Liana zu und nahm Lianas Hand. Er schien verstanden zu haben, noch ehe jemand etwas gesagt hatte.
"Ich wünsche dir Glück auf deiner Reise", meinte er bloß und verneigte sich.
Liana bedankte sich ihrerseits mit einem Knicks. "Ich habe zu danken." Sie spielte auf die Krankenpflege an, die Gastfreundschaft und den lehrreichen Unterricht, den sie erhalten hatte.
Pierré nickte und zog sich zurück. Erst jetzt sah Liana Czeki im Rand stehen, nur mit einem Umhang bekleidet, den er sich scheinbar eilig übergeworfen hatte. Darunter war er oberkörperfrei. Er war durchtrainiert, anscheinend mussten Hexen dasselbe Trainingsprogramm durchlaufen wie sie. Er hatte sich die Haare abgeschnitten und Tattoos und Piercings im Gesicht, auf den Armen und der Brust und er musterte sie mit einem seltsamen Blick. Nach einer kleinen Ewigkeit, in der er nachdenklich zu der kleinen Gruppe gestarrt hatte, setzte er sich abrupt in Bewegung.
"Ich spüre, du bist bereit", meinte er bloß und neigte seinen Kopf. Warum schien hier jeder sofort über alles Bescheid zu wissen, ohne zu reden? Konnten sie Gedanken lesen?
"Ja", antwortete Liana nur und neigte ihrerseits das Haupt.
Czeki nickte. "Ich hoffe, du findest, was du suchst."
Liana bedankte sich mit einem kleinen Nicken und wich zurück. Außenstehende waren hier nicht erwünscht. Und obwohl niemand den Abschied ausgesprochen hatte, so spürte Liana, dass er längst vollzogen worden war. Sie verließ die Halle und das Dorf mit nichts als ihrem Dolch und einem Rucksack mit einer leeren Trinkflasche und ein bisschen Nahrung, denn sie besaß nichts anderes. Immer wieder schaute sie zurück, sah das Dorf in der Ferne verschwinden und eins werden mit dem Wald. In den letzten Wochen hatte sie Zuflucht bei dem seltsamen Völkchen gefunden, und sie hatte das Kämpfen gelernt. Sie war dankbar für alles. Doch nun, da die Zeit um war, war Liana froh. Sie konnte nicht zuordnen, ob es Freunde oder Feinde gewesen waren. Dass Liana nun wieder allein und auf sich gestellt war, fühlte sich nun nicht mehr ganz so beängstigend an wie zuvor. Sie besann sich wieder auf das Grundlegende. Wasser. Sie musste einen Bachlauf finden, möglichst vor Sonnenuntergang.
Sie schlug sich durchs Unterholz, krauchte durchs Dickicht und kletterte Felsen hinauf, bis es dunkel wurde, aber so sehr sie sich auch bemühte, sie fand den Weg, den sie zu Anfang genommen hatte, nicht mehr. Schlussendlich kam sie zu einem Bach, der scheinbar aber kleiner war und weniger Wasser führte als der Bach vom Beginn ihres Abenteuers. Aber sie gab sich zufrieden damit und entzündete ein Feuer, dass dank ihrer Fähigkeiten, ihre Macht zu kontrollieren, deutlich schneller ging.
Schnell knisterte das Feuer und Liana lehnte sich zurück ins weiche Moos. Sie kuschelte sich in ihre Jacke, die sie von Gina bekommen hatte, und träumte vor sich hin.
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