༎⁝ Die Gilde der Mutigen
Ezequiel glotzte den Fisch an und der Fisch glotzte Ezequiel an. Unter dem schräg auf das Wasser fallenden Abendlicht changierten seine Schuppen in so vielen verschiedenen Farbabstufungen von Blau wie das Meer. Die Hinterflosse schlug flink hin und her, seine stur nach oben gerichteten Augen hoben sich kaum von der dunklen Gesichtsfärbung ab. Es ärgerte Ezequiel, dass er die Art nicht bestimmen konnte. Normalerweise wusste er bis zur Abfahrt aus einem Gebiet haargenau, welche Tiere sich unter seinem Boot tummelten. Dieses Mal waren hauptsächlich Falterfische seine Zeitgenossen, sowohl die mit einem roten Kopf als auch unterschiedliche gelbe mit schwarzen oder weißen Akzenten. Der ein oder andere Papageifisch trudelte auch manchmal bei den Korallen ein, und unter einem Felsvorsprung hatten ein paar Anemonenfische es sich in ihrer namensgebenden Pflanze häuslich eingerichtet. Jedes Mal, wenn Ezequiel versehentlich gegen einen ihrer wabbeligen Tentakel stieß, wünschte er sich, auch gegen das Gift immun zu sein.
Den Fisch, mit dem sich Ezequiel in einem unerwarteten Starrwettbewerb wiederfand, hatte er bisher selten gesehen. Erst recht nicht an seinem Riff-Ausschnitt. Dass er den Namen nicht kannte, störte ihn umso mehr, weil das Tier ein Prachtexemplar war. Wie die kleinen Wellen, die von einem ins Wasser geworfenen Gegenstand ausgingen, bestand seine Musterung aus immer größer werdenden Kreisen. Ihre Blautöne waren so hell wie das Wasser einer Lagune bis hin zu der Dunkelheit eines tiefen Grabens. Es war hypnotisch, wie sie beim Bemühen des Fisches, auf einer Stelle zu bleiben, über den schmalen Leib flimmerten.
Schwere Schritte stampften herein. Schritte, die einen vorwarnten, dass mit den zugehörigen Personen nicht zu spaßen war.
Der Fisch tauchte mit raschen Flossenschlägen davon, bis Ezequiel ihn durch den rechteckigen Ausschnitt in seinem Boden nicht mehr sehen konnte. Er schluckte einen irrationalen Anflug von Ärger hinunter und wandte sich den Leibwächtern zu.
»Möchtet Ihr zu Eurer Probe aufbrechen?«, fragte einer der bewaffneten Männer, die Ezequiel seit dem Attentat nicht von der Seite wichen.
Er blickte in die Ferne, wo die blaue Weite an eine grüne angrenzte. Die Sonne berührte mit ihrem untersten Punkt gerade so die Baumkronen. »Ja, es ist Zeit.«
Der Mann nickte und stand dann mit seinen drei Kollegen schweigend im Zimmer.
Ezequiel räusperte sich. »Nach Ihnen.« Sein Herz klopfte lauter und verdammte die Ruhe, die er eben empfunden hatte, bereits zu einer Erinnerung. Zwei Tage hatte er sich auf diesen Moment eingestellt. Und jetzt war er so unangenehm wie befürchtet.
Die Leibwächter zogen ihre Lederrüstungen und protzigen Hauben aus und schlüpften nacheinander ins Wasser. Noch im Kopfsprung wurden sie zu geschmeidigen Delfinen. Sie ordneten sich zu einem Schutzring an, dessen Mitte für Ezequiel bestimmt war.
Er nestelte an seiner Kleidung herum, bis er nur noch die Kette in der Hand hielt. Außerhalb von Theaterauftritten zierte sie immer Ezequiels Hals. Mit geschlossenen Augen ließ er seine Finger über die spitzen Zähnen wandern. Es waren mittlerweile achtzehn und jedes Mal, wenn er in seiner Tiergestalt einen verlor, fügte Ezequiel ihn der Kette hinzu. Sie halfen ihm auch, sich sein Ziel zu verbildlichen.
Ein gedrungener Körper. Ein grauer Rücken und ein weißer Bauch. Er stellte sich den sandigen Meeresboden vor, über den er streifen würde, und die Gerüche des Riffs, welche er als Tier zehnmal intensiver wahrnahm als in der Gestalt eines jungen Mannes. Er hatte nichts gegen seine Tiergestalt, aber dorthin zu kommen, war die Herausforderung. Dass sich bei seinen Begleitern Fragezeichen und Verlegenheit auftaten, war im Raum spürbar. Ezequiel blockte das ab. Seine Selbstzweifel hatten ihn lange genug nach unten gezogen. Es war an der Zeit, zu schwimmen, anstatt sich ertränken zu lassen.
Er kippte nach vorn ins Blau. Seinen nächsten Atemzug tat Ezequiel nicht durch die Lunge, sondern durch Kiemen. Instinktiv stieß er sich nach vorn, damit das Wasser hindurchströmen konnte, und dabei setzte sich auch sein Schutzring in Bewegung.
Das Korallenriff war in einen Kampf aus Licht und Schatten getaucht, der seine wunderschönen Farben nicht dämpfte, sondern vielmehr bekräftigte. Silhouetten der Stege und Boote tänzelten über das unebene Relief, das Sonnenlicht brach sich durch die Wasseroberfläche in einzelne Strahlen. Es wärmte Ezequiel den Rücken und ließ die Korallen leuchten. So nervig Anemonen und Putzerfische mit einer übersteigerten Arbeitsmoral sein mochten, er war selten, aber sehr gern im Riff. Nirgendwo sonst konnte man alle Farben mit einem Blick einfangen. An jedem Abhang und in jedem Spalt zwirbelten sich die Kalkgebilde zu wahllos durchmischten Formen. Manche sahen aus wie Fächer, andere wie Teller, wieder andere wie Torbogen und Lampenhalter.
Doch es wäre nur halb so umwerfend ohne Tiere. Die meisten Fische hier schienen Korallen zu sein, denen mal Flossen gewachsen waren: Knallbunt gefleckt und gerändert, sausten sie als Einzelgänger zwischen den Gewölben entlang oder beanspruchten als großer Schwarm einen Platz unter der Sonne. Ezequiel und seine Leibwächter schwammen durch einen Teppich aus Hunderten daumengroßer Fischchen, die wie rote Blüten im Wasser schwebten. Jedes Mal, wenn ein Raubfisch einen der kleinen Kollegen zu schnappen versuchte, wich der ganze Schwarm mit einem gewaltigen Ruck aus, als wären sie alle durch unsichtbare Fäden miteinander verknüpft.
Wilde Tiere und Hína, nebeneinander im Farb-Gewimmel wie Brüder und Schwestern- viele holten sich ihre abendliche Mahlzeit, bevor in der Nacht Jägern die Bühne überlassen werden würde, denen man nicht in die Quere kommen wollte. Diese strahlend helle Schatzkammer hatte auch eine andere Facette, in der Verstecke zu unentrinnbaren Fallen wurden und Mitbewohner, an deren Schnauze man vor Kurzem sorglos vorbeigeschwommen war, zum persönlichen Verhängnis. Ezequiel roch die blutige Panik eines Sardellen-Schwarms, der draußen von Fischern zusammengetrieben wurde. Er hatte einmal festgestellt, dass es auch diese Seite geben musste, damit das Leben gedeihen konnte und sich nicht gegenseitig erdrückte.
Heute wollte er aber einfach nur die Schönheit seiner temporären Heimat genießen.
Das Korallenriff war eine gewaltige Grenze zwischen dem Festland und der blauen Ödnis des offenen, stürmischen Ozeans. Es war ein Hafen für Haie, Schildkröten und die gewaltigen Mantarochen, genauso wie für den Merola-Clan. Auch sie waren nur Besucher, die die Prinzipien der Natur befolgen mussten. Ein paar Wochen hatten die Fischgründe dieses Riff-Abschnitts nun ausgedient. Die Muscheln waren so weit abgeerntet, dass es verschwenderisch wäre, länger zu bleiben. Der Clan würde ein weiteres Mal mit dem Wille des Meeres davonziehen und diesem Gebiet Erholung gönnen, sodass es sie irgendwann noch einmal ernähren konnte. Ein sich stetig wiederholender Rhythmus wie Ebbe und Flut und Tag und Nacht.
Kaspars Hausboot lag nahe der Seegras-Wiese, in die das Korallenriff überging. Seit vier Jahren hatten sie dort immer mal wieder eine Schreib- und Theaterprobe exklusiv mit dem Kern des Ensembles. Und seit vier Jahren war das die halbe Wahrheit.
Dieses Mal konnte es nur zustande kommen, weil Ezequiel die Wachen hatte überzeugen können, sie während des Treffens allein zu lassen. Er und seine Freunde brauchten die freie Umgebung, um über das aktuelle Geschehen zu diskutieren. Bald würde die Gilde der Mutigen ihr nächstes Flugblatt veröffentlichen- die Umstände ließen gar nichts anderes zu. Er musste vorbereitet sein.
Alle Hína wichen brav zur Seite aus, damit die Leibwächter Ezequiel einen Weg durch das Riff bahnen konnten. Doch ein Stachelrochen flatterte geradewegs auf sie zu und rief mit einer nasalen, munteren Stimme: ›Ezequiel li'Dutior! Was machen Sie an diesem schönen Abend im Riff?‹
Die Delfine schürten sich sofort enger um Ezequiel und ließen warnendes Geschnatter auf den Rochen-Hen niederprasseln. Aber Ezequiel sagte: ›Es ist in Ordnung. Ihr dürft ihn zu mir heranlassen.‹ Er kannte diesen Mann und glaubte fest daran, dass das noch etwas wert war.
Der sandfarbene Rochen glitt neben ihnen her. ›Ich möchte Sie nicht lange aufhalten. Ich freue mich nur, Ihnen mal wieder zu begegnen. Sie waren sicherlich vorsichtig damit, raus zu gehen, nach... Sie wissen schon.‹
›Das werde ich auch noch eine Weile sein‹, antwortete Ezequiel wissend. ›Waren Sie an dem Tag dabei? Auf dem Floß?‹
›Ja‹, entgegnete er weniger munter. ›Nie hätte ich geglaubt, mal mit ansehen zu müssen, wie fast unsere Regenten ermordet werden. Ich kann mir kaum vorstellen, welche Angst Sie um ihren Vater gehabt haben müssen, gesegnet sei er.‹
Ezequiel presste seine ruppig aussehenden Zähne aufeinander. Das Blut und das Geschrei der niedergestochenen Verräter. Der Typ, welcher mit dem Dolch auf seinen Vater zugegangen war. Er auf Knien. Die Bilder turnten regelmäßig in Ezequiels Kopf herum, und dann hatten sie auch noch alte, hässliche Wunden aufgekratzt. In den letzten zwei Nächte hatte er schlecht geschlafen. ›Es scheint erst einmal keine weitere Gefahr für ihn zu bestehen. Dutior ist heute wieder nach Pytulk'tan abgereist‹, sagte er ausweichend.
›Trotzdem, wie könnte man sich jetzt sicher fühlen? Jeder schaut sich mit Argwohn an. Die Gemeindehüter sind nur auf Trapp, um Raufereien zu unterbinden und Wohnungen zu durchsuchen. Das hat Clanherrscher Blauwal gestern verordnet. Bei mir waren sie noch nicht, aber es soll mir recht sein, ich habe ja nichts zu verbergen.‹ Der Hen schnaubte. ›Ich bin nicht für solches Tohuwabohu gemacht. Keiner scheint sich einigen zu können, ob man alle Städte von Botschaftern einrammeln lässt oder ob man sich lieber einigelt! Es soll wieder Ruhe einkehren.‹
Es wird keine Ruhe einkehren, dachte Ezequiel. Argwohn und Raufereien, das war nur der Dampf, der aus einem Deckel hervorquoll, unter dem es schon lange brodelte.
›Morgen finden in vielen Clans Audienzen zum Geschehen statt, habe ich gehört. Sicher veranstalten die Clanherrscher auch hier eine‹, antwortete Ezequiel und versuchte, dem Mann Zuversicht zu spenden. Nicht jeder konnte oder wollte der unerbittlichen Realität ins Auge sehen. Das war in Ordnung. Er wusste, was einem das abverlangte. ›Man wird schon eine gute Lösung finden. Verlieren Sie nie die Hoffnung darin, und Ihr Talent für Muscheln bitte auch nicht. Ich muss mal wieder bei Ihnen essen gehen.‹
Der Mann lachte so unverfroren, dass sein flacher Körper durchgeschüttelt wurde. ›Es ist schön, dass Sie auch in dunklen Zeiten nicht Ihren geistreichen Witz einbüßen! Davon sollten wir uns alle ein Stück abschneiden. Sie werden ein toller Nachfolger Ihres Vaters werden.‹
›Oh, das möchte ich gar nicht.‹
Sein Lachen endete in Verwirrung. ›Ach so? Was soll es denn sein?‹
›Theater‹, antwortete Ezequiel gelassen. ›Da gehöre ich hin.‹
›Nun, wenn Ihr Herz Ihnen das sagt, wieso nicht?‹
Sie schwammen unter großen Booten von großen, bedeutenden Hína hindurch. Auf eines von ihnen warf die Seegras-Wiese mit dem verbleibenden Sonnenlicht einen grünen Schein.
›Wir sind da. Danke für unser nettes Gespräch. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Abend‹, verabschiedete sich Ezequiel von seinem Begleiter.
›Ich Ihnen auch. Und wenn Sie mal wieder Lust auf Muscheln mit Erdnusssoße haben, spendiere ich Ihnen eine extra-große Portion!‹ Mit diesem Versprechen rauschte der Stachelrochen-Hen davon.
Ezequiel gefiel seine lebhafte Art. Er war auch längst gewöhnt an die Verwunderung, wenn er sagte, dass er nicht in die Fußstapfen seines Vaters treten wollte. Immerhin war er Ezequiel li'Dutior. Der kleine Dutior. Bis aus dem Sohn eines Regenten ein eigenständiger Hen werden durfte, hatte es eine Weile gebraucht. Es war kein Problem für ihn, dass er hin und wieder gefragt wurde, warum er nicht auch Kartograph werden und ein Amt der Regentschaftswache anpeilen wollte. Ezequiel konnte Neugierige von denjenigen unterscheiden, für die er nichts als ein Abbild seines Vaters war, an dessen Erfolg er herankommen müsse. Er erfüllte nur seine eigenen Erwartungen, und die setzten sich in erster Linie aus zwei Dinge zusammen:
Niemals seine Leidenschaft aufzugeben.
Und niemals ein Erzähler zu sein, der über der Handlung zu stand, ohne die Macht zu haben, sie zu ändern.
›Kommen Sie bitte unverzüglich heraus, sobald der Mond leuchtet. Sonst treten wir ein‹, wiederholte einer der Gardisten das, was sie bereits ausgemacht hatten. Dann patrouillierten die vier Delfine unter dem Boot.
Als aus Flossen Hände und Beine geworden waren, zog Ezequiel sich auf den Steg, der zum Eingang führte. Ein Arzt hatte ihm zwar attestiert, dass seine Fußzehen nicht gebrochen waren, aber er humpelte immer noch ein bisschen.
»Wir sind heute zu zweit.« Kaspar blickte von seinem Schreibtisch auf, auf welchen hohe Fenster einen Lichtstrahl bündelten. In Kaspars Wohnung währte der Tag lang, denn die Wände waren aus hellem, entrindetem Holz, welches die Sonne bis zur letzten Glut speicherte.
»Fühlen die anderen sich beobachtet?«, fragte Ezequiel und klaubte sich einen Umhang von dem Stapel, den jeder Hen neben der Tür liegen hatte.
»Es sind ungünstige Zeiten für geheime Treffen«, sagte Kaspar. »Rayen ist bestimmt nicht die Einzige, die uns im Verdacht hat.«
Ezequiel nickte. »Haben sich die Gemeindehüter schon bei dir umgeguckt?«
»Morgen früh.« Kaspar fuchtelte mit den Händen herum, was Ezequiel an die Palmwedel aus dem Theaterstück erinnerte. »Du kennst doch unsere vertrauten Gesichter. Sie haben ihren Dienst so eingefädelt, dass sie mein Haus übernehmen und dabei... hier und da etwas übersehen. Komm.«
Sie gingen in den hinteren Bereich des Bootes, wo Kaspar einen Altar mit kleinen, vergoldeten Götter-Figuren hatte. Eine Trennwand schirmte ihn ab, hinter der es manchmal eng wurde, wenn alle Mitglieder der Gilde anwesend waren. Zu zweit konnten sie sich nebeneinander auf den Hockern und Bänken ausbreiten, ohne den anderen zu bedrängen. Nicht, dass Ezequiel sich von Kaspar schnell bedrängt fühlen würde.
Der sagte resolut: »Ich habe bereits einen Entwurf geschrieben. Die Preisfrage ist nun, ob wir das Attentat mit einbeziehen.«
Darüber hatte Ezequiel sich auch schon den Kopf zermartert. »Ich hätte einen Appell vorgeschlagen, dass man trotz der schweren Lage niemandem in die Arme rennen soll, der einfache Lösungen verspricht. Jeder weiß, was damit gemeint ist, ohne dass wir den Neuen Hütern die Schuld geben«, antwortete er ebenfalls in verminderter Lautstärke. »Es ist ja auch so. Egal, ob die Neuen Hüter dahinter stecken oder nicht, sie werden die Aufregung zu ihren Gunsten nutzen. Wenn sie gut in etwas sind, dann darin, gleichzeitig den Retter und das Opfer zu spielen.«
So teilnahmslos, wie Ezequiel sich vor dem Stachelrochen-Hen gegeben hatte, war er natürlich nicht. Er hatte sich von seinen Botschaftern genau darüber informieren lassen, wie das Attentat sich bisher auf den Regierungstempel in Pytulk'tan auswirkte. Dass es in der zwiegespaltenen Hauptstadt Gewaltausbrüche geben würde, war unvermeidbar. Aber das war nicht alles. Mit einer verschreckten Bevölkerung hatte man weiten Handlungsspielraum. Man konnte sich zu einem Helden aufschwingen, bei dem sie Trost suchten. Und dann konnte man hinterrücks, mit fadenscheinigen Begründungen und geheucheltem Wohlwollen Gesetze durchschieben, die die Trostsuchenden billigen würden, solange man sie nicht allein ließ.
Mit dieser Strategie arbeiteten die Neuen Hüter, seit man das erste Mal ihren Namen gehört hatte: Ehemalige Gönner und Verbündete um Sáasil Ahau-Tikal, die sich nach dessen Tod seines Lebenswerks bemächtigt hatten, bis sich ein neuer Amtsinhaber fand. Auch danach hatten sie Sáasils Erbe nicht einfach an Dutior übergeben. Nein, es war ein Vor und Zurück voller durchdachter Entscheidungen, das ihnen immer mehr Einflussnahme sicherte. In fünf Jahren waren die Neuen Hüter zu einem allgegenwärtigen Symbol geworden, weitaus mächtiger als die kleine Gruppe, die sie ursprünglich waren. Sie hatten sich zu etwas Höherem gemacht. Ein Versprechen, dass Sáasils Errungenschaften nicht nur Skizzen auf Akademie-Papieren bleiben würden, sondern dass jeder sie für sich nutzen konnte. Die Neuen Hüter hatten bei den Bürgern Origos etwas geschafft, das Sáasil in seinem Forschungsdrang hinten angestellt hatte: Sie gaben ihrem Wunsch nach Teilhabe eine Perspektive.
»Falls die Attentäter mit den Neuen Hütern unter einer Decke stecken, wird das ohnehin nicht herauskommen, oder?«, erwiderte Kaspar und spitzelte zwischen den dünnen Leisten der Trennwand hindurch, immer auf der Hut.
Ezequiel ließ hörbar die Luft zwischen seinen Lippen entweichen, weil er darauf auch keine Antwort hatte, für die er die Hand ins Feuer legen würde. Sein Entsetzen, das er bei seinem letzten Besuch einer öffentlichen Abstimmung der Regentschaftswache empfunden hatte, fühlte sich in diesem Moment sehr frisch an. Um es vorwegzunehmen: Die Neuen Hüter hatten mal wieder Mist verzapft und waren mal wieder damit durchgekommen- als wäre es überhaupt kein großes Ding, dass die von der Regentschaftswache festgesetzte Obergrenze für den Pottwal-Fang, welcher den immensen Bedarf an Tranlampen in den Erzminen decken sollte, in drei Monaten in Folge überschritten worden war. Es hatte Ezequiel stark daran zweifeln lassen, ob die Abgeordnete für Gesetzesverbrechen noch unabhängige Urteile fällte, wenn sie Gesetzesverbrechern regelmäßig den Freifahrtschein gab. Rein zufällig und ohne eine rufschädigende Unterstellung implizieren zu wollen, waren die Angeklagten im Besitz einer Menge Kohle.
Vielleicht wollte Ezequiel doch eine rufschädigende Unterstellung implizieren.
»Lorite hat schon alles Mögliche für die Neuen Hüter abgesegnet und ist sehr zäh. Wenn sie etwas durchbringen will, bringt sie es durch. Ob sie so weit gehen würde, kann ich nicht einschätzen. Korruption ist das eine, ein politischer Umsturz eine ganz andere Liga. Ich gestehe ihr noch ein gewisses Ehrgefühl zu.«
»Ehrgefühl?« Kaspar zog die Augenbrauen zusammen, was seine hohe Stirn noch präsenter machte. »Sie war die Erste, die sich diesen Gierschlunden verschrieben hat. Weil das Gesetz auf ihrer Seite ist, haben sie es überhaupt so weit geschafft. Es ergäbe alles Sinn. Vor allem, wenn es deinen Vater erwischt hätte, hätten die Neuen Hüter erst einmal freies Spielfeld gehabt. Genau wie in dem Jahr nach Sáasils Tod.«
Bei Dutior war das Machtverhältnis wegen der Neuen Hüter sonderbar, aber prinzipiell hatten die Regenten die oberste Deutungshoheit in ihrem Bereich. Nur Elodie konnte als Vorsitzende der Regentschaftswache überall hineinpfuschen, und das tat sie insbesondere bei Angelegenheiten zu den Neuen Hütern. Sie suchte Gespräche und Kompromisse, doch scheute nicht davor zurück, den Finger in die Wunde zu legen. Noch hielt Elodie die Balance zwischen den Neuen Hütern und alten Gepflogenheiten. Viele Hína orientierten sich daran, was Eskalationen in den Clans eindämmte. Die Konsequenz daraus, wenn die vordersten Fronten aufeinander prallten, zeigte der Bürgerkrieg in Pytulk'tan. Wäre die höchste Regentin ermordet worden, hätte das Origo in eine Krise gestürzt, wie man sie nur aus alten Erzählungen ihrer Ahnen kannte. Nach Ezequiels Empfinden hatten die Angreifer Elodie auch gemieden. Alles wies darauf hin, dass jemand mit einem Plan dahinter gesessen haben musste. Das Ziel war definitiv Dutior gewesen. Und es gab niemanden, der an seinem Ableben interessierter sein dürfte als die Neuen Hüter.
Doch darauf würden sie sich im nächsten Flugblatt nicht konzentrieren. Die Gilde der Mutigen bearbeitete keine Spekulationen, sondern Tatsachen. Bei Spekulationen waren Verzerrungen und voreilige Reaktionen der Leser nicht absehbar. Was ihre Leser hingegen aus Tatsachen machten, dafür konnte man die Gilde nicht belangen. Sie schalteten sich lediglich ein, wenn die Balance mal wieder zu kippen drohte. Denn neben dem Attentat so eine außerordentliche Bedrohung auf dem Vormarsch.
Der Prozess, den Origo durchlief, war wie ein Gewitter. Es hatte sich durch ein Grollen angekündigt, lange vor Ezequiels Geburt. Schriften und Forschungen, die niemand anderes lesen durfte als Leute mit dem Schlüssel zu verriegelten Truhen. Denker, Träumer und Pläneschmieder, die sich heimlich getroffen hatten. Der erste dicke Tropfen jedoch, der war vor zwanzig Jahren aus den Wolken gefallen: Kaspars Vater. Tjark der Reisende. Ein Albatross, größer als alle, die es in Origo gab. Er war der Beweis, dass es überhaupt Land in dem Ozean hinter Origo gab.
Zuvor hatten für verrückt erklärte Pergamente davon erzählt. Wenn man dem Norden folgte, so weit, bis das Wasser und die Luft so kalt sein sollten wie im Herzen einer Höhle, käme man in ein stürmisches, raues Land. Die Bäume, die Tiere, die Clans- angeblich alles anders als in Origo. Die These, dass man im Meer nach etlichen Monaten der Reise auf ein anderes Volk treffen konnte, war damals so wahnwitzig gewesen, wie wenn man gesagt hätte, über dem Himmel wäre eine andere Welt. Hirngespinste und Fantasie-Geschichten, welche sich auf selbsternannte Forscher zurückführen ließen, die irgendwann nicht mehr von ihren Abenteuern zurückgekehrt waren. Das hatte man gern als Strafe für ihre Überheblichkeit betrachtet, denn wie der Himmel war das Meer eine von Göttern bewohnte Sphäre. Was mit Göttern zu tun hatte, war gleichbedeutend mit »unumstößliche Wahrheit« gewesen.
Bis eines Tages, vor Erschöpfung mehr tot als lebendig, ein Albatross an der Küste landete. Er konnte sich ebenfalls in einen Menschen verwandeln, aber seine Haut war viel heller als die der Leute hier und er sprach auch keinen der Dialekte in Origo. Die Merola fanden ihn und entschieden sich, ihn aufzupeppeln. Da hatte Ezequiel noch im Bauch seiner Mutter gelegen, aber wie jedes Kind war er mit dieser Geschichte aufgewachsen. Denn als Tjark ihre Sprache beherrscht hatte, hatte er das stürmische, raue Land geschildert, in dem braune Bären und Hirsche mit schaufelartigem Geweih die dunkelgrünen Wälder und Wiesen durchstreiften. Bei ihnen waren ebenfalls Hína aus den Weiten des Meeres aufgetaucht, der Beschreibung nach aus Origo. Aber die Nordvölker hatten sie für böse Kreaturen gehalten und entweder fortgeschickt oder getötet. Sie glaubten, dass die Welt von einem riesigen Wasserfall begrenzt wurde, den man hinunter stürzte, wenn man sich zu weit auf dem Ozean hinaus traute. Doch Tjark hatte das Rätsel um die Ankömmlinge mit der dunkleren Haut und der fremden Sprache lösen wollen. Einzig mit dem Wind unter seinen Flügeln war er ins Unbekannte aufgebrochen, Wochen, Monate.
Er war bei den Merola geblieben, hatte sich verliebt und Kaspar bekommen, dessen Name und heller Teint die Herkunft seines Vaters in Ehre hielten. Durch Tjark hatte man begonnen, zu hinterfragen.
Nun wurden in der Regentschaftswache konkrete Vorhaben ausdiskutiert, zu dem fernen Land zu reisen, auf Geheiß der Neuen Hüter. Doch das würde nichts Gutes für die Nordvölker bringen.
»Dann werde ich morgen eine Kopie des Flugblatts zu unserer verlängerten Hand schicken« sagte Kaspar mit einem gewieften Lächeln. »Bei einer Kiste Kokosnüsse habe ich zufällig einen doppelten Boden entdeckt.«
»Es fühlt sich gut an, dass wir jetzt einen Mayaminn im Team haben. In der ganzen Misere würde es mir nicht mehr reichen, dass wir nur hier und da einen Merola bewegen, glaube ich.« Ezequiel rubbelte mit den Fingern die Nässe aus seinen kurz geschorenen Haaren. »Die angestammten Ja-Sager der Neuen Hüter können wir vielleicht nicht mehr überzeugen, aber die meisten Hína sind sich noch uneinig. Ich muss verhindern, dass das in Gleichgültigkeit umschlägt. Jubel bringt einen natürlich weiter, doch Gleichgültigkeit... damit haben sie leichtes Spiel. Es braucht nicht nur böse Menschen. Es braucht vor allem die, die das Böse zulassen.«
Kaspar beugte sich ein bisschen vor. Seine Nähe ließ Ezequiel ruhig und startbereit werden, wie eine stumme Erinnerung daran, warum sie sich zur Gilde der Mutigen zusammengeschlossen hatten. »Dafür sind wir da, Ezequiel. Wir werden uns so in die Gedächtnisse aller Clans einbrennen, dass sie bei dem Unrecht nicht blauäugig zugucken können.«
»Wie dieser Fisch vorhin.«
»Was für ein Fisch?«
»Na ja, mich hat so ein...« Ezequiel wischte die Sache mit einer Handbewegung beiseite. »Wo wir schon bei den Mayaminn wären: Ich schätze, ich bin da auf eine spannende Information gestoßen.«
»Wie denn das?«, fragte Kaspar, aber ohne wirkliche Verwunderung.
Sein bester Freund zwinkerte. »Du kennst doch unsere vertrauten Gesichter.«
Kaspar sah ihn erwartungsvoll an. Ezequiel schraubte seine Lautstärke noch ein Stück herunter.
»Es scheint, als würden die Clanherrscher sich dort auf etwas Größeres einstellen. Ein Kopf der Neuen Hüter soll schon seit Längerem mit ihnen zugange sein. Offenbar will der Mayaminn-Clan zum Vorreiter für eine Kooperation mit den Neuen Hütern werden. Und wegen der Bluttat arbeiten sie mit ihrem pytulk'tanischen Kumpel jetzt wohl Not-Beschlüsse aus.«
»Hast du einen Namen für mich?«
»Den habe ich«, antwortete Ezequiel. »Malvus Chittozul.«
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