།⁝ Der Sinkflug

Verenice sollte inzwischen daran gewöhnt sein, unsanft geweckt zu werden. Dieses Mal lag sie auch unsanft, was es nicht besser machte.
Desorientiert blinzelte sie gegen die Holzdielen. Sie betrachtete die gesamte Inneneinrichtung ihrer Hütte von unten: Ihre Pritsche schien von hier aus schmaler zu sein, als sie war, und an der Unterseite des Esstischs fielen Verenice Flecken auf, deren Herkunft sie nicht erklären konnte. Wenn sie als Geißelspinne Augen hätte, würde die Welt wahrscheinlich so aussehen.

Füße stampften schwer über das Holz ihrer Terasse, es war mehr als ein Paar, und es wurde gesprochen. Das hatte sie also geweckt.
Ihr Körper strafte Verenice mit außerordentlichen Schmerzen, als sie sich hochstemmte. Eine Hand rutschte fast unter ihr weg. Sie hatte sich auf einem der zerrissenen Papiere aufgestützt. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Eimer zermatschter Früchte, und der vergangene Abend wurde darin untergerührt. Sogleich rollte eine Welle der Scham über Verenice hinweg. Sie lag in einem See aus durchgestrichenen, zerrupften und verschwendeten Blättern. Eins hatte sie mit ihrem Kohlenstift gespalten. Es sah aus wie ein Baum, in dem ein Blitz eingeschlagen war. Den entzwei geteilten Kohlenstift entdeckte Verenice unter dem Regal mit den Kochutensilien.

Mit einem Fluch auf den Lippen raufte sie ihre zerzausten Haare. Erst jetzt wurde ihr bewusst, welche Unmengen Papier sie verbuttert hatte. Obwohl darin eine Lüge steckte- ihr war es schon gestern bewusst gewesen, bloß nicht wichtig. Vor ihrem inneren Auge ließ Verenice Revue passieren, wie aufgebracht sie nach dem Streit mit ihren Eltern gewesen war, wie sie das mit einem Gedicht zu lindern versucht hatte, doch ihr Kopf wollte keine Reime formen und sie war aus der Haut gefahren und-
Ein Klopfen erschütterte die dünne Haustür. Blasse Umrisse waren dahinter zu erkennen. »Sofort öffnen! Falls jemand da drinnen ist, sofort öffnen!«

Plötzlich fiel es Verenice leicht, auf die Beine zu kommen. Wenn man mit Pixan zusammen war, lernte man schnell, wie jemand klang, mit dem man es sich verscherzt hatte. Und wie Wachen klangen, die einen Befehl ausführten, sollte man sowieso wissen.
»Einen Moment!«, erwiderte Verenice. Während sie panisch den Schutthaufen an Papieren zusammenschaufelte, kam sie bei bestem Willen nicht darauf, wen sie verärgert haben könnte.

War sie in letzter Zeit versehentlich gegen etwas gestoßen und hatte es kaputt gemacht, wie vor Jahren eine Skulptur vom Wert eines Säckchens Gold, deren Auslage blöderweise von gleicher Farbe wie der Boden war? Solchen eitlen Herren traute sie es zu, deswegen die Wachen zu rufen. Allerdings fiel ihr nicht ein, wann sie etwas dergleichen verbrochen haben sollte. Hatte Pixan mal wieder zu laut hinter dem Rücken von jemandem hergezogen? Würde Verenice diese Frau nicht so sehr lieben, könnte sie sich immer noch über die Sprints echauffieren, die sie deswegen hatten hinlegen müssen.
Aber in den vergangenen Wochen hatte sie noch etwas durch Pixans Weitsicht gelernt: Dass es bei Gefahr einen Unterschied machte, ob man vor ihr weglaufen konnte oder nicht. Der Zorn, den ein Skulpturen-Händler gegen Verenice hegte, konnte noch so groß sein, wenn sie wusste, dass sie ihn nach wenigen Sprüngen über die Felsen abgehängt hatten. Womit sie jetzt leben mussten, war eine andere Sorte von Gefahr.

Die Latrocina taten, was sie immer getan hatten. Sie nahmen die Dinge in die Hand, weil harte Arbeit ein gutes Leben ermöglichte. Verenice sah es in den ausgelaugten Gesichtern auf dem Marktplatz und auf Pixans Decke. Wohlgemerkt redete Verenice sich anfangs ein, dass es eine Täuschung war, dass Pixan immer weniger Kinder als Kunden hatte. Doch es ließ sich nicht leugnen. Gleichzeitig erledigten mehr kleine Kinder, die noch zu jung für die Minenarbeit waren, häufiger für ihre Eltern die Geschäfte und senkten den Altersdurchschnitt in der Dorfmitte stark. Es war, als hätte der Erdboden den Großteil ihres Clans verschluckt, und eigentlich traf das auch zu. Die Feiern in der Wohngemeinde waren leiser, die Kinder aus den Schächten wirkten auf einmal viel reifer als Verenice in ihrem Alter. Unnahbarer. Sie sprachen in ihren Gruppen über andere Dinge und ließen keinen leichten Plausch mehr zu, sodass Verenice sich wie eine Fremde unter ihren eigenen Leuten vorkam. Trotzdem wollte sie nicht mit denen tauschen, die man für die Arbeit eingezogen hatte. Von Woche zu Woche wurden ihre Augen trüber, als wären sie nur noch auf die dämmrigen Fackeln eingestellt und würden vom Sonnenlicht geblendet werden.

Verenice träumte manchmal davon, wie es da unten sein musste. Sie hatte sich noch nicht getraut, nachzuschauen, was aus ihrem Refugium geworden war. Seit der Abbau in den Höhlen begonnen hatten, glitten die Tage nicht mehr dahin. Sie waren ein beständiger Sinkflug. Hin und wieder, wenn Verenice' Eltern früher nach Hause kamen, sie gemeinsam Maniokbrot mit Fischsuppe aßen und nicht darüber redeten, konnte sie es vergessen. Es war nicht so, als hätte Verenice keine Fragen gestellt. Sie hatte mehr über die Situation ihrer Eltern geklagt als ihre Eltern selbst. Aber sie wichen ihren Fragen stets aus, weshalb Verenice es mittlerweile bleiben ließ. Vielleicht wollten sie Verenice' Gefühle schonen. Oder sie wollten es, zumindest kurz, bevor sie wieder bis spät in die Nacht weg waren, selbst vergessen.
Wenn ein Vogel im Sinkflug die Augen schloss, konnte er sicher auch ausblenden, dass er auf den Boden zusteuerte. Und trotzdem würde er dort zerschellen, wenn er zu verletzt war, um den Kurs zu ändern.

Verenice rappelte sich auf und nahm einen Stapel Papierfetzen mit sich, aber das war circa so erfolgreich, wie glitschige Fische mit bloßen Händen zu transportieren. Die Hälfte glitt durch ihre Arme zurück auf den Boden. Sie pfefferte den Teil, den sie retten konnte, in die Nische über ihrer Schlafstätte und stürzte sich auf die Knie, um den Rest zusammenzukratzen. Einzelne Wörter, die ihr Geschmader nicht hatte überdecken können, sprangen Verenice ins Auge und gaben ihr das Gefühl, dass sie besser als kleiner Pilz an einem Baumstamm aufgehoben wäre. Sie hatte ihren Eltern Unrecht damit getan, dass sie ihnen nicht einmal Tschüss gesagt hatte, als die beiden am späten Abend zur Arbeit gegangen waren. Dass Verenice sauer auf sie gewesen war, war nur ein Deckmantel der Angst, die sie um ihre Eltern hatte.

Gestern war ihre Mutter mit einem geschienten Bein zum Essen aufgekreuzt. Sie sagte, das sei wegen herausgebrochener Steine, es würde schnell heilen, sie müsse sich keine Auszeit nehmen. Aber das war lediglich eine Ausflucht, denn wie auf dem Grundstück müsste Vater dann das stemmen, was Mutter nicht leisten konnte. Und die Erkenntnis, dass Verenice' Vater Grenzen hatte, war ihr unheimlich. Das seidige Haar, welches seine Tochter geerbt hatte, wirkte so fahl wie ihre Lehmwände. Er bewegte sich schleppend, die Füße und Hände zerschunden. Dass er beim Zubereiten des Abendessens mithalf und im Haus herumwerkelte wie zuvor nach einem vollen Tag Feldarbeit, konnte das zwar nichts anhaben. Aber es war nicht das Gleiche. Verenice hatte sie gestern Abend nicht aus dieser Tür gehen lassen wollen, und dafür war sie »undankbar« und »verwöhnt« genannt worden.

Wut durchblutete ihre Wangen. Natürlich war sie dankbar dafür, dass sie nicht in den Stollen schuften musste und sich gut versorgen konnte. Natürlich war sie dankbar dafür, dass ihr Clan sich wie Dreck behandeln ließ.
Ihr Gedankengang endete prompt durch einen Knall. Ihre Haustür war nicht die dickste, aber Verenice hatte nicht vorgehabt, dass sie mal in Einzelteilen in ihrer Hütte liegen würde.

Mit offenem Mund sah Verenice zu, wie Wachen über die hölzerne Leiche stiegen. Aus dem Schatten des Türrahmens trat ein Mann in ihre Mitte, der als Einziger keine Lanze und Lederrüstung dabei hatte. Seine breiten Schultern und der markante Kiefer ließen Verenice sofort auf Raubtier schließen, auch wenn sie die Gravur von hier aus nicht erkannte. »Pytulk'taner« stand ihm ebenfalls auf der Stirn geschrieben. Ein lederner Schulterüberwurf bedeckte lediglich Stellen seines Oberkörpers, dem Verenice es zutraute, einen Karren Süßkartoffeln hinter sich herzuziehen, für den sie die Hilfe ihrer Eltern brauchte. Gleichzeitig machte seine Kleidung geltend, dass er mit Feldarbeit nicht viel am Hut haben dürfte. Ein Gürtel fixierte seine maßgeschneiderte Dreiviertel-Hose, unter dem einfallenden Licht der Morgensonne glänzten die Metallbeschläge von zwei Stiefeln.

Sein Blick traf Verenice mit einer offenen, fast kindlichen Neugier. Dennoch war er so unergründlich für sie wie ein Tor zur Unterwelt. Der stämmige Mann begrüßte sie nicht, er erklärte nichts, er gab keinen Befehl. Die Wachen schienen ihre Aufgabe zu wissen und verstreuten sich in der Wohnung.

Aus allen Ecken ertönten dumpfe und klappernde Geräusche. »Verzeihung?«, japste Verenice, als einer der Gardisten ihre Küchenzeile auseinandernahm. Er öffnete die Schränke und riss jeglichen Inhalt heraus. Rücksichtslos polterten Holzteller, Kellen und Tassen auf den Boden vor ihr. Mehl sickerte zwischen die Dielen, Obst, Kakaobohnen und Erdnüsse kullerten hindurch. Verenice konnte nur noch aufkeuchen, als die Wache eine Keramik-Schüssel, welche sie von ihren Großeltern geerbt hatte, zerschellen ließ. Sie starrte die Scherben an wie ein dreiköpfiges Lama. Pritschen wurden hochgeklappt, Möbel verrückt. Mit einem zischenden Schauer ergossen sich selbst die Papierfetzen, die sie in eine Nische gewamst hatte, über Verenice.

»Verzeihung? Suchen Sie nach irgendetwas? Verzeihung!«, meldete sie sich noch einmal. Im Sekundentakt schwankte ihr Inneres zwischen Wut, Fassungs- und Hilflosigkeit. Was im Namen des Schöpfers passierte da? Warum drehten die Wachen ihr komplettes Haus auf den Kopf? Keiner von ihnen reagierte. Auch der breitschultrige Mann behandelte sie wie Luft, indem er sich in der Wohnung umguckte, als überlegte er sich, darin einzuziehen. Interessiert musterte er die Balken, die die Decke stützten, ungeachtet dessen, dass darunter nichts an seinem Fleck gelassen wurde. Glatte Haare schmiegten sich an seinen Nacken wie ein Fluss aus Dunkelheit.

Da wusste Verenice, wo sie diese muskulöse Gestalt mit der tintenschwarzen Mähne schon einmal gesehen hatte- zwar nur von hinten, aber weil sie auf dem Dach nah dran gewesen war, fühlte sie sich sicher in ihrer Annahme. Das war doch einer von Sáasils erwachsenen Begleitern gewesen, bei seiner Konferenz in der Höhle! Sáasil hatte seinen Namen relativ am Anfang erwähnt... irgendwas mit M? War er ein Politiker oder Investor oder etwas in der Art? Fiebrig würfelte Verenice sich Anhaltspunkte zusammen, während ihr Zuhause mehr und mehr aussah, als hätten sich darin tollwütige Affen im Kreis gejagt.

Der Mann aus Sáasils Reihen strich über den Tresen der Küche und zerrieb den imaginären oder echten Staub zwischen seinen Fingern. Dass Verenice' Flehen ihm egal war, konnte man nicht deutlicher artikulieren. Sie hätte schreien mögen. Aber alles verhallte in dem Chaos, das in ihrem Schädel herrschte. Mit wem hatte sie sich bitte angelegt, dass ihr Haus ohne die leiseste Ankündigung von einer Horde Wachen umgekrempelt werden musste? Was wollte derjenige? Und was würde geschehen, wenn sie es gefunden hatten? Panik trat Verenice' maßloser Überforderung bei. Doch die scharf geschnittenen Spitzen der Lanzen beugten vor, dass sie sich gegen das Unrecht wehrte.

»Kein Objekt gefunden«, sagte einer der Gardisten, als sie wieder den breitschultrigen Mann umringten. Überwältigt kniete Verenice in dem Saustall, den man aus der Hütte der Bilajems gemacht hatte. Das beschmierte Papier knirschte unter ihren Füßen, als sie einatmete, um nicht die Fassung zu verlieren. Sie stellte sich vor, wie Pixan auf ihrer Decke saß, mit dem ersten Kunden des Tages plauderte und alles, was ihn belastete, mit perfekten Pinselstrichen übermalte. Ein Teil von Verenice hoffte, dass ihre Gedanken Pixan erreichten und sie jeden Moment durch die Tür flattern würde. Oder da durch, wo die Tür bis vor Kurzem gewesen war.

»Es gibt noch mehrere Schuppen«, informierte eine Wache den Mann, welcher, unschwer zu erkennen, einen Rang über ihnen stand. Mindestens. Er studierte soeben einen Topf mit Kupfer-Einsätzen, der ihm vor die Stiefel gerollt war. Er studierte ihn so eingehend, dass er die Wachen wortlos abnickte. Von ihm kamen keine Anstalten, sich zu bewegen. Ein stummer Dialog aus Blicken folgte. Eine Wache erkundigte sich, ob er- Blick zu Verenice- allein mit ihr drinnen bleiben wollte. Sein Blick, den Verenice als »Mach dich nicht lächerlich« interpretierte, ließ die Wachen abziehen.

Als die Lanzenträger nach draußen gegangen waren, um auch ihre Gerätekammern zu ruinieren, behielt Verenice Nicht-sehr-gesprächig genau im Auge. Seine zur Schau getragene Arroganz ließ bei ihr die höchsten Warntöne singen. Gestern hatte sie Wutanfälle erlitten, weil die Latrocina so viel über sich ergehen ließen in den letzten Wochen- sie würde sich nicht darin einreihen.
»Was wird das hier?«, bellte Verenice und richtete sich auf.
Der Mann erkundete mit den Fingern noch einmal das Kupfer, bevor er den Topf vorsichtig auf die Küchentresen abstellte. Sie wich nicht zurück, obwohl sie ihm mit Müh und Not bis zum Schlüsselbein reichte.

Darauf machte sie bei seinem Näherkommen eine Entdeckung, die Verenice schaudern ließ. Wie vermutet, lugte unter dem Schulter-Überwurf die Gravur eines Raubtiers hervor, jedoch nicht irgendeins. Auf seiner Haut streckte ein Jaguar die Pfoten nach oben. Eins der Tiere, die Origo den ersten zwölf Menschen gegeben hatte. Zwölf Hína, zwölf Sitze in der Regentschaftswache- die Zahl war so heilig wie das Symbol der Sichel, mit welcher die Götter das Land geformt hatten. Verenice ließ sich die Ehrfurcht, die sie ungewollt vor dem Mann bekam, nicht anmerken.

»,Auch mein Vater war ein Schwachkopf.« Er hielt vor ihr an. Seine Stimme klang wie Feuer, das einen Stein zum Glühen brachte. »Er hörte nicht zu, wenn er es hätte tun sollen. Verwechselte Mut mit Dummheit.«
»Was soll das heißen?«, fragte Verenice trotzig.
Als sein Blick zum ersten Mal bei ihr stehen blieb, war er noch irritierender als das Umherschweifen in ihrem Haus. Seine Iris hatte das Bernsteingelb, mit dem Chantico sich gern die Lippen färbte. Er schien durch Verenice hindurchzuschauen wie durch diese Augengläser, von denen sie nie eins haben würde. »Warum denn so skeptisch? Ich bin euch nicht schlecht gesinnt, im Gegenteil. Das Durchqueren eurer Felder hat mir höchsten Respekt vor der Familie Bilajem eingeflößt«, sagte er schmeichelnd.
Verenice wäre fast an die Decke gegangen. Er spielte mit ihr wie eine Katze mit ihrer Beute und glaubte auch noch, sie würde es nicht raffen.

»Du weißt das sicherlich längst, aber ich möchte dir erzählen, was ich heute gelernt habe«, schwatzte er unverwandt weiter. Die grazilen Bewegungen des Panther-Mannes sorgten wahrscheinlich dafür, dass ihm die Verehrer nur so zu Füßen lagen. Kleidung und Haare schmiegten sich wie in einem Guss um den sportlichen Körper. Selbst das muffige Holz ächzte nicht unter ihm, wenngleich er doppelt so schwer wie Verenice sein musste. Alles passte sich ihm an.
»Bis heute wusste ich nicht, dass Maniokknollen roh giftig sind. Man muss sie erst schälen, trocknen, reiben, wässern und dann wieder trocknen, damit das Gift herausgezogen wird.« Er trommelte mit der einen Hand gegen sein Kinn. »Was ein anstrengendes Prozedere. Ihr erweist dem Clan mit eurer harten Arbeit einen unersetzlichen Dienst. Glücklicherweise kann das neue, effektivere Bewässerungssystem sie lohnenswerter machen.«

Verenice konnte der Veränderung in ihrer Mimik nicht rechtzeitig Einhalt gebieten. Scheiße, er hatte seine Krallen in einem wunden Punkt versenkt. Als Geschenk für ihr kooperatives Verhalten waren ihre Gräben mit Wasserrinnen ausgetauscht worden. Damit die Latrocina von ihren Rohstoffen profitieren konnten, wie Sáasil es so scheinheilig ausgedrückt hatte... Oder damit das Feld den Clan noch ernähren konnte, obwohl man es halbiert hatte. Wo lag der Unterschied?
Der Panther genoss es, sie zappeln zu lassen. Sein heuchlerisches Lächeln trieb ihre Fähigkeit zur Selbstbeherrschung schnell an ihre Grenzen. »Dein Vater hat heute auch etwas gelernt: Dass es im Handumdrehen auffliegt, die Erze mitgehen zu lassen, die man abbaut.«

Verenice' Fassade fiel nach diesem Satz endgültig, und es hatte ihn nicht mal Mühe gekostet. »Mein Vater hat... geklaut?« Jetzt verstand sie, warum die Wachen ihre Hütte ausgeräumt hatten. Aber sie verstand nicht, warum ihr Vater Erze gestohlen hatte.
Doch. Das Wort wäre ihr beinahe herausgerutscht. »Bitte, seht das meinem Vater nach. Er ist kein hinterhältiger Dieb.« Verenice klang standhaft. Bildete sie sich zumindest ein. »Er muss für meine Mutter gestohlen haben, damit sie sich eine Auszeit leisten kann. Sie wurde verletzt.«
Er brummte und faltete die Hände vor dem Waschbrettbauch. »Als Leiter der Förderungsanlage kann ich das nicht ungestraft lassen.«
»Aber es ist nicht so, wie es aussieht. Meine Eltern sind ehrliche Hína.«
»Gerechtigkeit ist unverzichtbar«, sagte er bedauernd. »Wir entwickeln uns nicht weiter, wenn wir unsere Fehler nicht korrigieren. Leiden bedeutet Erfolg und Erfolg bedeutet Leiden.«
Hinter ihnen rumpelte und klirrte es, was das Ableben der Gerätekammern bedeuten musste. Verenice' schmales Gesicht verkrampfte sich. »Meinem Vater tut es bestimmt leid. Bitte. Schickt mich in die Minen, wenn Ihr müsst, aber genehmigt meiner Mutter eine Pause. Ich habe ihre Verletzung selbst gesehen und...«

Der Panther-Mann ließ ihre Tirade an sich vorbei fliegen. Seine gelben Augen hatten etwas neues Spannendes anvisiert: Den Schnipsel-See um Verenice. Er beugte sich nach unten.
Sie spürte unsichtbare Fangzähne in ihrem Nacken, als er einen entzwei gerissenen Zettel aufhob, der noch halbwegs zu entziffern war. Wenig später hatte er auch das Gegenstück und setzte sie wieder zusammen. Es waren störrische Zeilen, die sich nicht reimen wollten.

Eingelullt von Lügen
Von der Sonne deiner Gier
Als Gold getarnte Plagen

Verenice schluckte gegen den Batzen Sand in ihrem Hals an. Der Mundwinkel des Mannes zuckte beim Lesen nach oben. Dann waren seine flinken Finger bei einer Strähne, die von Verenice' unruhigem Schlaf noch an ihrem Hals klebte. Mit einer kalten Berührung strich er sie hinter ihr Ohr. Seine Hände waren groß und weich, die Nägel so sauber, als wären sie noch nie in Kontakt mit der Erde gekommen. Man konnte an ihnen ablesen, dass sein Alltag weit weg von Feldarbeit, Wasserholen und Kochen stattfand. Diese Hände mussten in dem riesigen Stollen, den er beaufsichtigte, noch keinen Stein angefasst haben. Doch sie zerrissen die Papierfetzen so leicht wie einen Spinnenfaden.
»Unwissenheit schützt nicht vor Konsequenzen. Vergiss das nicht noch einmal.« Das Papier trudelte auf ihre Fußzehen und er erhob sich. Sobald er mit einem geschmeidigen Schritt nach draußen verschwunden war, fiel Verenice auf, dass sie seinen Namen immer noch nicht wusste.

Verenice zählte bis Fünf, dann kletterte sie aus dem Fenster. Pixan war bereits auf ihrer Decke zugange, welche am Rand der Höhle lag. Seitlich wurde sie von den Lianen begrenzt, die die Dorfmitte vom Zorn des Himmels abschirmten, hinten von der protzigen Gesteinswand. Kletterpflanzen und eine Ameisenstraße schraffierten das Herzstück des Clans. Die Höhlen hatten die Latrocina seit Anbeginn der Zeit beschützt. Jetzt fraßen sie sie langsam und elend auf.
Pixan hatte nach dem Verkauf auf Verenice aufgepasst, als könnte ihre Freundin plötzlich von dannen springen und diese Malachit-Familie geiseln, bis sie ihre Höhle zurückgab. Sie hatten alle Kunstwerke daraus mitgenommen, die nicht auf den Wänden waren, und ihnen bei Pixan ein neues Zuhause geschenkt. Sie arbeiteten noch härter daran als vorher, als wäre es ein Wettlauf gegen die Zeit; entweder nachts bei Fackelschein, um ein Fragment der unbeschreiblichen Atmosphäre wiederherzustellen, oder im gleißenden Tageslicht, wenn die Erinnerungen daran zu bissig wurden. So oder so, Pixan wäre nicht damit einverstanden gewesen, dass Verenice den Hang hinuntermarschierte.

Das änderte sich prompt, als sie von ihrer heiteren Begegnung erzählte. »Verdammt nochmal, wenn du eine Göttin wärst, dann die des Pechs!«, giftete Pixan. Aber das sollte nur kaschieren, dass ihr vor Schreck der Pinsel in den Wassereimer gefallen war. Schwungvoll holte sie ihn heraus, ohne sich darum zu scheren, dass das von Farbe gebräunte Wasser auf ihre Decke schwappte. Obwohl gerade kein Kunde da war, zog Pixan Verenice nach draußen, denn die Dorfmitte und neugierige Ohren waren wie Deckel und Topf.
»Hat dieser räudige Kater dir gesagt, wie er deine Eltern bestraft?«, fragte sie in gesenkter Lautstärke.
Verenice schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, womit ich bei ihm rechnen kann. Dieses Lächeln war das heuchlerischste, was ich je gesehen hab.«

»Origo, steh uns bei!« Mit einem entmutigten Stöhnen ließ Pixan den Kopf gegen Verenice' Schulter plumpsen.
»Bitte, Pixan«, flehte die Geißelspinne und dachte kurz daran, wie sie in einem anderen Clan, in einer besseren Welt für immer so stehengeblieben wären. »Ich muss herausfinden, ob sie meinen Eltern etwas antun. Ich kann nicht-«
»Ich bin dabei.« Die Dichterin spürte einen tiefen Atemzug an ihrer Haut. »Es gibt nämlich eine Grenze. Die können uns demütigen, unsere Felder zu Schutthalden machen, juckt mich nicht. Aber ich werde nicht zulassen, dass sie deine Familie auseinanderreißen.«
»Wenn ich die Königin des Pechs bin, dann bist du meine einzige Glückssträhne.« Verenice seufzte in den Lianenvorhang und sah das erste ehrliche Lächeln, seit die Wachen ihre Haustür geviertelt hatten.

Das Tukan-Mädchen wischte entschuldigend einen Farbfleck weg, den sie an Verenice weitergegeben hatte. »Die Frau, die ich vorhin geschminkt habe, meinte, dass Sáasil Ahau-Tikal heute unsere Stollen besichtigt. Lass mal hoffen, dass du doch kein Pech bringst und wir uns nicht noch an ihm und seinen Huldigern vorbeischmuggeln müssen.«
Wie bei einem Gürteltier, das sich einrollte, legte sich durch diesen Namen ein knallharter Panzer um Verenice. Der Goldjunge der Regentschaftswache hatte ihnen das Blaue vom Himmel gelogen, ohne mit der Wimper zu zucken. Von allen Bezeichnungen, die Verenice über ihn vernommen hatte, trafen die beleidigenden am meisten zu. Und bei ihren Schöpfern, sie würde noch neue kreieren. »Das hoffe ich auch für ihn.«

»Ich liebe es, wenn du dir erlaubst, wütend zu sein«, zwitscherte Pixan und lief los.
Verenice schaute durch einen Spalt zwischen den wulstigen Lianen auf ihre Decke. Durch die grelle Musterung und der daraufliegenden Pinsel sah es auf absurde Weise so aus, als würde alles in sich zusammenfallen, wenn man einen Farbstreifen herauszog.
»Willst du es nicht wegräumen?«, fragte sie.
»Heute ist kaum Betrieb.« Pixan blickte nicht zurück. »Und bestenfalls sind wir gleich wieder da.«

Zum ersten Mal war Verenice froh darüber, als Geißelspinne keine Augen zu haben. Festgekrallt an Pixans Rücken ließ sie sich über die Dünen transportieren, welche die Hälfte ihrer Grundstücke unter sich begruben. Man erkannte sie von der Terasse aus, weil sie hoch und breit wie Baumkronen waren. Aber anstatt von einem lebendigen Grün gesättigt zu werden, hatten sie im trockenen Zustand den bleichen Farbton, mit dem Pixan Totenmasken schminkte. Bei Regen wiederum zerflossen sie zu Brühe, weil niemand sich die Mühe machte, taugliche Dämme zu errichten. Das Gezeter derer, die die Pampe jedes Mal halbherzig zusammenkehrten, war nicht gerade subtil. Sie erkannte es sofort wieder. Pixans Flügelschläge wurden ruppiger, schließlich landete sie auf dem Boden, wie der Lufrdruck und das dumpfe Knistern Verenice mitteilten.
Umsichtig hüpfte Pixan voran, stoppte, hüpfte weiter, wie in einem einstudierten Rhythmus. Verenice vertraute sich ihr mit Leib und Seele an, das würde sie immer. Blind oder taub, zwischen Gräbern und Ruinen, im Sturm eines Feuers und am Ende der Welt.

›Sie ist leer‹, sagte Pixan und der Rhythmus erstarrte. Verenice' Beine suchten den Untergrund und das Modell von Pixan wurde mit dem der Höhle ausgetauscht. Die läuternde Kühle empfing Verenice, als wäre sie nie weg gewesen. Ihr Tastsinn bürgte für Pixans Aussage. Niemand außer die beiden war im Eingangsbereich. Vor Glücksgefühlen hätte sie beinahe Saltos geschlagen und sich von dem Gott, der Spinnen erschaffen hatte, einen entrüsteten Platzregen eingebrockt.
,Dann müssen wir tiefer rein', entgegnete Verenice und wuselte über die unebenen Wände, um die Pigmente von Kohle und Farbe zu spüren. Dem Götterhimmel sei Dank, hatte man ihre Kunstwerke nicht entfernt. Doch sie stieß auch an aufgehangene Papiere, angelehnte Leitern, Spitzhacken und Spaten.

›Ohne einen Segen zu erhalten?‹
Verenice sah den schief gelegten Tukan-Kopf vor ihrem inneren Auge. ›Wenn wir schon etwas Verbotenes tun, dann ohne Ausnahmen‹ war die schlagfertige Antwort dafür, dass sie dem abgehobenen Panther-Mann in einer Sache zustimmen konnte: Gerechtigkeit war unverzichtbar. Keiner hatte nach der Erlaubnis gefragt, sich ihre Familie zu Untertanen zu machen.
Darum würde Verenice nicht nach Erlaubnis darum fragen, Gerechtigkeit zu üben.

Sie wählten den Tunnel, vor dem kübelweise Erde mit ›unendlich vielem Funkelzeugs‹ geschichtet war, um Pixan zu zitieren. Mit jedem Tritt erbaute Verenice sich eine Karte, erweiterte sie, schraffierte sie aus. Sie spürte Wärmequellen, welche Pixan als Erdöl-Lampen bestätigte. Eine der spärlichen Informationen, zu denen Verenice' Eltern sich erbarmt hatten, war, dass sie ausschließlich das Licht dieser Metallgefäße hatten. Ihr beklommenes Zischeln scheuchte Pixan und Verenice tiefer in das Höhlensystem, in dem eine behelfsmäßige Straße ihr einziger Wegweiser und Garant war, dass sie wieder nach draußen finden würden. Vorsichtig krochen sie zwischen aufgeschüttetem Geröll und unter den Holzstegen voran. Doch es war niemand da, vor dem sie sich in Acht nehmen mussten- wenn man den schleimigen Wurm ausklammerte, der Pixan einen Schreck einjagte, aber sofort davonwabbelte, weil er sich vor ihr noch schlimmer erschreckte.

Erst eine Stimme, ausgehöhlt von den Steinwänden, gab einen Hinweis auf all die Hína, die Verenice erwartet hatte. Noch achtsamer als vorher pirschten sie sich unter dem Holzsteg an, natürlich nicht, ohne dass Pixan sich rekordverdächtig oft den Kopf anschlug. Die Tunnel warfen das Echo weniger hin und her, allmählich kerbten sich Wörter heraus. Verenice' innere Karte spielte verrückt bei dem Versuch, die Distanz auszuloten. Ein Luftzug fuhr über ihren lehmbraunen Körper und sie kapierte, was das hieß, noch bevor Pixan und sie in eine riesige Kammer tapsten.

›Oha‹, hauchte die Malerin. Ihre erstaunte Gebärde verlor sich in den restlichen Klängen, welche die Stille der Gänge ablösten: Vereinzelte Schritte, das Ächzen von massigen Holzbalken, und dann wieder die prominente Stimme, die eine wohl nicht unerhebliche Stimme von Leuten zum Schweigen brachte. Ihr Ursprung lag schräg über Verenice, aber der Monolog wurde von einer Decke zwischen ihnen gedämpft. Und als sie genauer lauschte, erkannte sie diese Stimme wieder, in der eine seltene Ruhe und eine ansteckende Begeisterung parallel existierten: Sáasil Ahau-Tikal. Der beste Lügner Origos war tatsächlich zu Besuch und ihre Eltern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit im Publikum.
Pech, dachte Verenice und schnappte mit den Mundwerkzeugen, ihre tierische Form eines bitteren Lächelns.

›Hier sind einige Felsformationen und Fässer im Weg, aber ich glaube... ja, da hinten befindet sich die Treppe mit Wachen.‹ Pixans Federkleid raschelte, während sie sich umguckte. ›Sonst sind keine Wachen auf unserer Ebene. Vielleicht hat der güldene Held der Regentschaftswache das nicht mehr nötig, gepriesen sei sein Name.‹
›Heraufzufliegen, wäre dennoch zu riskant. Wir warten.‹
›Ich bin doch unauffällig‹, schäkerte Pixan und die Spinne sah in ihrer Dunkelheit, wie der türkis, rot und orange gefärbte Schnabel geschüttelt wurde.

Der Länge nach drückte Verenice ihre Beine gegen das Sediment wie die Verehrerin eines Ballspielers, die alle Kräfte mobilisierte, um nach der Veranstaltung so nah wie möglich an ihr Idol heranzugelangen. Schleichend tröpelte in ihr Bewusstsein, dass sie Stockwerke unter der Erde waren, inmitten bewaffneter Hína, die ebenfalls mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht vor der Benutzung ihrer Waffe zurückschreckten.
Sáasil redete und redete und es trudelte an Verenice vorbei wie die Streifen ihrer widerspenstigen Verse. Allesamt Weltverbesserer-Gespinste, für die sich allein Pixan interessierte. Das hatte Verenice nie gekümmert. Aber ihre Gedanken waren andere als gewöhnlich, jetzt, wo sie in einer Höhle voller ausgebeuteter Latrocina herumkrebste und nichts dagegen tun konnte, außer nach dem Rechten zu sehen, um danach still und heimlich zu verschwinden. Ein Sinkflug.
Was ihn aushaltbar machte, waren die Federn eines Vogels, auf dessen Rücken Verenice sich sogar geborgen fühlte, wenn sie zu einem tollkühnen Einbruch flogen. Sie berührten die Spinne zart mit jedem der Atemzüge, welche vor Ungeduld rasselten.

›Ich verwandle mich kurz‹, kündigte sie an.
›Warum?'‹
›Perspektivwechsel'‹, antwortete Verenice.
Kritik blieb aus und sie gab den nötigen Impuls. Das elastische Bild, welches Verenice von der Höhle hatte, verrenkte sich wie ihr Körper. Während sich in diesen Gliedmaßen zurückzogen und andere ausprägten, wurde das Bild mit Farbe, Form und einem feucht-salzigen Geruch bestückt. Bäuchlings spähte sie unter dem Bretter-Steg hindurch. Die Kammer war so gewaltig, wie Verenice angenommen hatte. Diagonal über ihnen erstreckte sich ein vergleichbar gewaltiges Holzgerüst. In der Luft hielten es mehrere Balken, die so breit waren wie das Bein eines Elefanten. Sáasil lachte am Rande der Plattform auf. Verenice konnte nicht ergründen, ob sein Dutt wackelte oder ob ihre verschwommene Sicht sie austrickste. Sie war aber noch intakt genug für die Feststellung, dass tatsächlich nur zwei Wachen an der Treppe postiert waren und der Boden der Höhle leer, bis auf einen Schwarm an Fässern.

Ein Ellenbogen knuffte ihr in die Seite. »Ich hatte auch Lust auf einen kurzen Perspektivwechsel«, flüsterte Pixan und folgte Verenice' Blick. Doch von unten landete man damit lediglich bei Sáasils Hinterkopf.
»Unsere Eltern sind ganz bestimmt dort. Ich gehe nicht, ehe wir sichergestellt haben, dass diese Schwachmaten sie in Ruhe lassen«, sagte Pixan mit einer Forschheit, die die meisten nicht hinter ihrem kessen Lächeln erahnen würden. Und weil Verenice es nicht über sich brachte, zu sagen, dass sie das nicht sicherstellen konnten, sagte sie etwas anderes- in dem Wissen, dass Pixan es noch vehement ausdiskutieren würde.

»,Du solltest mehr Gemälde zeichnen, finde ich. Bei uns verkaufen sie sich nicht, aber in Pytulk'tan, keine Zweifel. Fang damit an, sobald wir hier raus sind.«
Pixan kniff die Augenbrauen zusammen. »Wie kommst du jetzt darauf?«
»Weil es das ist, wofür du geboren wurdest. Weil es in der Welt nicht untergehen darf.« Verenice strich ihr mit einem Daumen über die Wange, auf der Pixans künstlerisches Werk halb getrocknete Streifen hinterlassen hatte. »Ich habe die Leidenschaft für meine Gedichte, aber nicht die Person. Deine Zeichnungen- dieses Licht, das du bist- das wird alle erreichen. Selbst oben im Norden werden sie dich kennen. Deshalb musst du dafür kämpfen, dass sie gesehen werden, verstehst du mich?«
»Auch ohne den Quatsch über deine Gedichte«, spottete Pixan, lehnte sich vor und sorgte dafür, dass Verenice ihr nichts entgegensetzen konnte.

Ihr Körper schien sich zu erhitzen und rückte die Kälte des Höhlenbodens weit, weit in die Ferne. Verenice' Arme, die auch als Menschenfrau sehr zierlich waren, wurden weich wie Süßkartoffelpüree. Sie legte sie um Pixans Taille, wo die Spitzen einer schwarzen Haarpracht sich an nasse Haut schmiegten. Ihre Herzen fanden einen gemeinsamen Takt. Sie könnten aufhören zu schlagen, eines Tages. Verenice könnte erblinden, eines Tages. Die Vorstellung, dass sie die Farbe vergessen würde, in der Pixans dunkle Augen glitzerten, eines Tages, ließ sie jedes Detail dieses wunderschönen Gesichts aufsaugen.
Der beschissenste Ort für einen perfekten Kuss, dachte sie. Doch dann fiel Verenice ein, dass sie immer noch in der Höhle waren, und ihre Meinung änderte sich.

Ein Knarzen. Rasch trennten sie sich und durchforsteten die Höhle nach der Geräuschquelle. Verenice' Instinkt herrschte sie an, sich in ein handgroßes Paratier zu verwandeln, das man unmöglich entdecken konnte. Aber sie wollte in Erfahrung bringen, was so geknarzt hatte. Denn etwas daran war komisch.

Eine Gruppe Menschengestalten war unter dem Koloss aufgetaucht. Die Dunkelheit verheimlichte ihre genaue Anzahl. Das Knarzen wiederholte sich und steigerte sich zu einem Ratschen, welches eindeutig den Holzbalken zuzuordnen war. Sáasil warf einen Blick über die Schulter, doch es musste für ihn nur so laut sein wie eine Moskito, und er ließ sich nicht stören. Verenice drehte sich zu Pixan, die ratlos in die Finsternis starrte. Was zur Unterwelt ging da vor sich? Ihr Gedächtnis spulte den Weg an die Oberfläche herunter und das Kribbeln in verneige' Bauch fühlte sich jetzt unangenehm an, als würden darin Kiesel zermalmt werden. Die Wachen an der Treppe rührten sich nicht. Die Personen unter dem Bau schienen unsichtbar zu sein, Schatten zwischen den mannshohen Reißzähnen der Felsen- bis eine Flamme aufleuchtete.

Verenice hörte einen Schrei durch die Kuppel gellen, als das Feuer den grässlichen Riss offenbarte, welcher in einer der Stützen klaffte. Es war ihr eigener Schrei.

Eine Fackel wurde auf den Stein fallen gelassen und verzweigte sich; kreuz und quer wie die Farbspuren im Höhleneingang. Verenice robbte unter ihrem niedrigen Dach hervor, kümmerte sich nicht darum, dass scharfe Kanten in sie drangen. Sie zog Pixan mit sich, welche ebenfalls kein Wort herausbrachte. Zwischen dem einen Herzschlag und dem nächsten war es, als würde die Zeit für sie stoppen. Aber die Zeit war ein Betrüger, der nach seinen Regeln spielte. Und als Verenice auf den Beinen war, rannte eine Flammenspur auf das Fass zu, welches zwei Meter vor ihnen stand.

Die Explosion schleuderte sie nach hinten. Anstatt Pixans Arm bohrte sich eine Messerspitze durch ihre Hand, ihre Brust, ihren kompletten Leib. Milde Luft wurde vertilgt von einem See aus Flammen und Qualm. Das Feuer versengte Verenice' Haare, brannte Pixans Berührungen von ihrer Haut. Für eine undefinierbare Ewigkeit sank sie hinab in ein Land, in dem der Wahnsinn keinen Fuß fassen konnte. Kein Rauch keuchte darin, keine helle Panik spaltete das Schweigen der Menge über ihnen.
Derselbe Schmerz, der sie hinein gestoßen hatte, holte sie wieder zurück. Ihre Augen. Es war, als würden sie in Verenice' Schädel kochen. Sie warf sich umher wie ein Fisch an der Angel, wollte sie aufreißen, es ging nicht. Es ging schlichtweg nicht.

»Pixan?«, brüllte sie, übertrumpft vom Lärm fauchender Flammen, stöhnendem Holz und Dutzender Hína. Trotzdem schrie sie, denn es gab nichts anderes für Verenice, nichts in der Gegenwart oder in der Zukunft. Nicht ohne sie.
»Pixan! Pixan!« Verenice' Hände versuchten, überall zu sein: Die Funken zu ersticken, welche ihre Haut bis auf die Knochen ableckten, und den Untergrund nach Pixan abzutasten, im Tasten war sie doch tut, sie musste gut darin sein. »Pixan!«, kreischte sie aus voller Kehle, in die unermüdlich Rauch quoll. Wo Pixan war, wusste sie nicht, sie wusste nicht, wo sie selbst war, sie fand nicht einmal den Steg. Sie konnte ihre Augen nicht öffnen.

Notdürftig schirmte Verenice ihre Ohren von dem mörderischen Lärm ab, unter dem die Balken des Holzgerüsts durchbrachen. Ein Vogel im Sinkflug, auf Kollisionskurs, zu verletzt, um ihn zu ändern. Er krachte auf den Boden. Holzstücke bohrten sich in ihren Rücken und ihr stob eine Wand aus Feuer entgegen, von der Verenice die Luft abgedreht wurde. Sie hätte nicht geglaubt, dass man unter solchen Umständen noch Schmerzen verspürte. Aber sie konnte sich nicht dagegen wehren.

Verenice' Instinkte schleiften sie hinter sich her, durch den Tunnel, in welchem jeder Todesschrei dreifach erschallte. Als sie realisierte, dass darunter ihre Eltern sein mussten, war nicht mehr der Lärm das Dramatische, sondern die Stille. Die Stille, weil keiner ihr antwortete.
Irgendwann bekam sie wieder Luft, doch es war ihr egal. Sie lief, weiter und weiter, weg von der Gefahr. Das hatte Pixan ihr beigebracht.

Verenice würde nie vergessen, wie sicher sie sich gefühlt hatte- und wie alles davon eine Lüge gewesen war.

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