༎‧ Das Schauspiel über den Wellen

Ezequiel li'Dutior.

》✾《

»Stellen Sie sich vor, Ihre Knochen brechen.

So lange Sie denken können, lastet auf Ihnen stets dasselbe Gewicht. Sie konnten es immer tragen, Sie waren daran gewöhnt, Sie nahmen es gar nicht wahr. Aber nun verdoppelt es sich, verdreifacht es sich- rücksichtslos wird Ihnen mehr und mehr Gewicht angehangen, sodass Sie zum ersten Mal spüren, dass Ihre Kraft nicht endlos ist, dass sie sehr wohl eine Grenze hat. Zum ersten Mal spüren Sie, dass Ihre Stärke keine Selbstverständlichkeit ist, und schon gar keine unerschöpfliche Quelle. Plötzlich biegen die Knochen sich, schwächeln, brechen schließlich. Sie schreien nicht, denn Sie wissen nicht, wie man einen Schrei in der Kehle formt und ausstößt, Sie mussten es noch nie. Der Schmerz ist Ihnen gänzlich unbekannt. Nur ein dumpfes Keuchen entfährt Ihnen, ein Beben, das Ihren gesamten Körper erschüttert.«

Ezequiels Füßen machten patschende Geräusche, als er gemächlich über die Dielen schritt. Er mochte dieses leise Knistern von Muskeln und dem schweren Holz darunter, welches meistens vom Treiben der Stadt übertönt wurde. Aber jetzt herrschte kein Treiben. Seine Erzählerstimme entfaltete sich über dem riesigen Floß und wurde erst vom Kreischen der Vogelscharen und dem Meeresrauschen verdünnt. Heute war ein ruhiger Seegang. 

»Aufgrund dieser Unerfahrenheit weiß auch keiner der Umstehenden, was zu tun ist. Manche fühlen das Beben und ahnen Schlimmes. Andere überhören es, vielleicht willentlich, vielleicht mit Kalkül. Das Ausbleiben eines Schreis ist für sie die Bestätigung zum Weitermachen. Sie bürden Ihnen weitere Gewichte auf, erfreuen sich an den Vorteilen, die dadurch für sie entstehen.«

Er blieb in der Mitte des Podests stehen. Es war sozusagen ein Floß auf dem Floß, von welchem aus er sein Publikum überragte. Die Tribüne am anderen Ende überragte wiederum ihn, denn sie bot Sitzplätze für die Regenten und Clanherrscher.
»Stellen Sie sich nun vor, was eben beschrieben wurde, geschieht mit einem Land. Die Felder brennen, die Fischgründe sind leer und der Himmel eine graue, wütende Peitsche.«

Ezequiel ließ seine Worte durch die Sitzreihen fließen, bis er spürte, dass er jeden damit ergriffen hatte. Er ging zum Rand der Bühne. Ein Umhang raschelte um seine Taille, grob geschnitten und kratzig wie ein Fischernetz. Die Brandmarke eines Charakters, welcher über der Handlung stand und doch nicht die Macht besaß, sie zu ändern.
Ezequiels Kinn, an dem er sich extra für den Auftritt dunkle Stoppeln wachsen lassen hatte, deutete auf das leere Zentrum des Podests. »Und hier haben wir den, der gemeinhin dafür verantwortlich gemacht wird.«

Aus einem Loch im Bretterboden betastete etwas die Dielen, quoll hervor und entpuppte sich als der Tentakel eines Kraken. Noch mehr seiner Sorte wagten sich heraus, unzählige, Halt suchende Saugknöpfe. Ihnen folgte nicht der Leib eines Oktopus, sondern der eines jungen Mannes. Durch das Publikum ging ein Raunen, denn Grenz-Verwandlungen sah man nicht alle Tage. Kaum einer beherrschte sie, und kaum einer beherrschte sie so gut wie Kaspar.
Seine Tentakelarme zogen ihn nach vorn, schleiften den völlig erschöpften Körper nach sich, als hätte sich sein restlicher Lebenswille in sie geflohen. Die Haare klebten ihm an der hohen Stirn, seine Augen waren mit dunkler Schminke umrandet. Bei jedem Ruck, den er sich gab, schienen sie tiefer in ihre Höhlen zu sinken.

Fast wäre Ezequiel ein Lächeln entwischt. Sein bester Freund war einfach unabdingbar für jedes gelungene Theaterstück.

Keuchend hievte er sich in eine halbwegs aufrechte Pose. »Ich muss verflucht sein«, presste Kaspar hervor. »Ein Dämon. Eine Ausgeburt der Abscheulichkeit. So urteilen sie über mich. So lassen sie mich leiden und hungern. Ich weiß nicht, wann sie mir das letzte Mal Nahrung in dieses-diesen Kerker gestellt haben, ein Fisch, eine Auster, ein kleiner Happen wenigstens. Haben sie endgültig beschlossen, mich in den Tod zu schicken? Mich nicht einmal mit einem gezielten Schnitt zu töten, sondern es dem qualvollen Lauf der Dinge zu überlassen? Kann keiner mir dieses Dahinsiechen ersparen?«

Er schaute einen seiner Tentakel an und kräuselte die schlotternden Lippen. »Hässlich finden sie mich. Furchterregend. Wertlos. Ich wünsche mir die Wellen zurück und den Sand, in dem ich aufgewacht bin. Für einen Moment durfte ich frei sein, danach sperrte man mich in eine scheußliche Einöde aus Kälte und Härte.« Kraftlos sanken Kaspars Schultern nach unten. »Trotzdem scheint jeder da draußen mich zu kennen. Ich kann fühlen, wie sie hinter den Mauern reden, sich gruseln. Ein einziges Mal erblickten sie mich, und ich erblickte ihre vor Schreck entstellten Gesichter. Dieses eine Mal fällte mein Todesurteil.«

Manche Mienen im Publikum wurden schuldbewusst- die, welche Kaspar mit einer Faszination für das Grässliche begafft hatten, wie man einen am Strand gefundenen Toten begaffte. Er konfrontierte sie mit ihrem eigenen Verhalten. Denn natürlich war Kaspar kurios: Aus den Schultern ringelten sich Kraken- statt Menschenarme und setzten sich wie Geschwüre nach unten hin fort. War Ezequiel aufmerksam, konnte er erhaschen, wie die Haut an seinem Hals immer wieder zu der eines Kraken wurde und sich auch immer wieder zurückzog. Seine Tierseele, die danach lechzte, die Kontrolle zu übernehmen, und die Kaspar meisterhaft in Schach hielt.

»Die Wachen bläuten mir ein, dass meinetwegen das Land in Ungnade verfallen sei«, sagte das achtarmige Mischwesen. »Aber ich bin gekommen, weil man mich rief. Es war der König selbst, der um ein Zeichen der Götter bat, weil er seinem Volk demonstrieren wollte, das Recht auf den Thron zu haben. Ich bin sicher kein Zuspruch der Götter. Aber ich habe die Plagen und die Dürre nicht zu verantworten, nein. Die haben sie ihm auf den Hals gehetzt.«
Er schüttelte den Kopf und machte sich auf den mühseligen Rückweg zum Unterschlupf. Als Kaspar beinahe in seinem Loch verschwunden war, sagte er: »Vielleicht ist es eine Prüfung der Götter. Eine Prüfung seines Herzens. Und davor können ihn auch seine dunklen Zauber nicht bewahren.«
Damit tauchte er ab.

»Dieses Wesen steckt tief im Pech«, schaltete Ezequiel sich ein. »Ein König, der die Götter um Segen dafür bat, die Krone gestohlen zu haben- doch sie schickten ihm keinen Segen. Nun muss es als Zeugnis ihres Zorns und als Gespött des Volkes in der Finsternis schmoren. Man könnte denken, sein Schicksal sei besiegelt, und das des von Dürre und Flut gebeutelten Landes gleich mit. Aber wenn die Not am größten ist, sind die Leute auch zu großen Taten in der Lage.«
Ein Mädchen rannte auf die Bühne. Das Gewand einer Gelehrten flatterte ihr um die Waden, ihre Augengläser passten gut zur Rolle. In Ezequiels Kindheit hatte er ähnliche Helferlein täglich gesehen: Kindern oder Besuchern, die bloß in menschlicher Gestalt tauchen konnten, wurden Gläser gegeben, welche an den Rändern mit Kautschuk verdichtet waren. So schützten sie ihre Augen vor dem Salzwasser. Aber die auf der Bühne hatten keine Verdichtungen aus Kautschuk. Sie waren umfasst von einem feinen Gestell und balancierten Sehschwächen aus. Früher hatte nur ein Clanherrscher der Merola so etwas getragen, sie hatten das Einschmelzen von Sand ja auch in die Welt gesetzt. Inzwischen entdeckte man diese gläsernen Wundermittel auch bei normalen Bürgern so häufig wie ihre Vorläufer für Unterwasser-Abenteuer.

»Hab' ich eine Angst vor diesem Bericht«, sagte das Mädchen, welche außerhalb ihrer Rolle als Rayen bekannt war. Sie lief auf und ab. »Bisher konnte ich meine Beobachtungen irgendwie beschönigen, egal, woran unser Land stirbt. Ich kramte die penibelsten Regeln aus, wie man schlechte Omen noch deuten kann. Ich predigte dem König jeden Hoffnungsschimmer wie eine Mutter eine Gute-Nacht-Geschichte. Heute rächen sich diese Lächerlichkeiten an mir. Heute müsste ich für einen Hoffnungsschimmer lügen. Der Todes-, der Flut- und der Unglücksstern sind in einem Dreieck. Die Sterne für Fruchtbarkeit und für eine milde Trockenzeit sind nicht im Entferntesten da, wo wir sie berechnet hatten. Wie soll ich dem König das schonend beibringen? Von denen, die ihm schlechte Kunde gebracht haben, hört man nie wieder was.« Die Astronomin atmete zittrig aus und nagte an ihren Fingernägeln. »Sei's drum, er ist der König! Ich bin dazu verpflichtet, ihm die Wahrheit zu sagen.«

Unter dem Boden wurden Kurbeln gedreht. Aus einem anderen Loch schob sich ein Stuhl mit einem unter Schmuck begrabenen König. Leibeigene fächelten ihm mit Palmwedeln Luft zu, während er Trauben und Bananen verschlang. Vor der Bühne wurde gekichert. Natürlich war diese Darstellung übertrieben, denn von der Tribüne aus schauten drei richtige Regenten zu. In der Mitte saß die circa Dreißigjährige, welche die Götter vor einigen Jahren als ihre Vertreterin auf Erden ausgewählt hatten.

Elodie Ahau-Tikal war der Inbegriff eines Schönheitsideals, und das trug sie ungeniert zur Schau: Als Ehrung ihrer Erhabenheit war die Vorsitzende der Regentschaftswache nackt. Wobei man das erst auf den zweiten Blick feststellen mochte, denn von ihrer Stirn bis zu ihren Füßen tauchten Tätowierungen sie in Schwarz, Gelb, Türkis und Rot. Hätte Elodie diese auch in ihrer Tiergestalt als Orcaweibchen, wären von dem ganzen Weiß nur noch Ausschnitte zu erkennen. Ein Stirnband aus Jade glänzte bis hinunter zu ihrer Nasenwurzel, von der sich goldene Ketten abspreizten. Mitsamt weiteren Juwelen waren sie in Elodies Ohren verankert. Auf ihre entblößte Brust hatte man Schnitzereien gebettet, die in kämpferische Schulterplatten übergingen. Toupierte Haare trugen einen Kopfschmuck, der Ungeübten wahrscheinlich bei einer falschen Bewegung das Genick brechen würde. Die imposante Haube mündete in eine Form, welche an die Schwanzflosse eines Orcas erinnerte.

Jenes Wassertier war in ihrem linken Schlüsselbein eingraviert. Zu besonderen Anlässen streifte die Vorsitzende der Regentschaftswache in dieser Gestalt durch das Meer und den Culcheth, flankiert von ihrer Leibgarde, welche dann zu einem Ring aus wendigen Haien wurde. Jetzt standen sie stockgerade mit Speeren und Lederpanzern vor der gebürtigen Merola, welche sie Treue bis in den Tod geschworen hatten.

Elodie Ahau-Tikal hatte die Beine überkreuzt und ihre Arme auf die Lehnen rechts und links von sich gelegt. Der Ausdruck auf ihrem prachtvoll geschminkten Gesicht war formell, jedoch nicht versteinert wie der der meisten Regenten. Paradebeispiele dafür waren die Männer links und rechts von ihr. Sie saßen wie Statuen auf niedrigeren, trotzdem sehr edlen Stühlen: Einer von ihnen war der Abgeordnete für Botschaften, Ichtace, in Tiergestalt ein Tropikvogel. Mit seinem filigranen Gesicht wirkte er vielleicht zimperlicher, als er war. Er hatte den körperlich härtesten Posten der Regentschaftswache inne. Es war eine Seltenheit, dass Ichtace sich für sage und schreibe einen halben Tag irgendwo einfand, statt mit seinem Schwarm die wichtigsten Nachrichten, Verträge und Amtsblätter in Origo zu verteilen. Als Tropikvogel war er ein perlweißer Akrobat der Lüfte, an dessen knallroten Schnabel sich schwarze Linien schmiegten. Ein astreiner Lidstrich empfand diese Zeichnung seiner Tiergestalt nach. Ezequiel hatte es schon als Kind geliebt, wenn Ichtaces mit Pergamentrollen bepackte Armee angeflogen war und sein langer, gegabelter Schweif ihnen wie eine Fahne den Weg wies. Ach was, Ezequiel liebte es immer noch.

Den anderen Stuhl beanspruchte ein dürrer Mann mit charakteristischem Gehstock. Als Sáasil Ahau-Tikal vor beinahe fünf Jahren gestorben war, hatte er sich um dessen Amt beworben. Ein geradezu aussichtsloser Kandidat gegen all die Aufsteiger aus Häusern, die sich mit sonst was für Götter-Abstammungen gebrüstet hatten. Dennoch hatten jegliche Zeichen auf ihn gezeigt. Beim finalen Test, das Absinken in den Cenote des Regenten-Tempels, hatten sich ihm als einziger Kandidat die Tore zur Unterwelt geöffnet. Es war klare Sache gewesen: Ezequiels Vater würde der Nachfolger des Abgeordneten für Wissenschaft und Rohstoffe werden. Und das Leben seines Sohnes hatte eine weitere Kehrtwende bekommen.

Ezequiel lenkte seine Gedanken wieder auf die Szene, in welcher Rayen dem König von den schlechten Omen berichtete. Sie hatte es kurz und bündig gemacht. Sie war eine rationale Person und Ezequiel wusste von sich selbst, dass rationale Personen auf diese Weise versuchten, die Kontrolle zu behalten. Man sprach aus, was es auszusprechen galt und ging, bevor einen die Reaktion überrollte. Jetzt konnte die Astronomin nicht gehen und das überforderte sie.

»Die Sterne sind keine konkreten Vorhersagen für die Zukunft, es sind Warnungen«, erklärte sie gestresst. Sie musste knien und hätte durch ihre wilden Gestikulationen fast das Gleichgewicht verloren. »Es ist nie zu spät, sich an ihnen zu orientieren! Wenn Ihr...«
»Schweig!«, donnerte der König. Seine Backen waren so aufgeblasen, als hätte er sich die gesamten Bananen und Trauben mit einem Mal reingezwängt. »Eine mickrige Sternenguckerin hat mir nicht zu befehlen, was ich zu tun habe!«
»Selbstverständlich, verzeiht mir, ich wollte nicht...«

»Ich sagte, schweig!«, brüllte der König noch lauter. Auf dem Floß kicherte keiner mehr. »Du hast offensichtlich vergessen, wo dein Platz ist. Ich habe dieses Podest mit Schweiß und Blut erklommen, ich habe die vorherigen Taugenichtse aus dem Tempel gejagt. Sie waren seiner nicht würdig. Ich bin es, denn ich habe das Einzige, das man dafür wirklich braucht: Macht. Und was hast du bisher erreicht? Was führt dich zu dem Irrtum, dass du irgendetwas anderes wärst als eine Winzigkeit unter meinem Licht?«
Gedemütigt blickte das Mädchen zu dem König auf, welcher sich in seinem Thron fläzte. »Für diesen Frevel könnte ich dich verbannen. Ich könnte dafür sorgen, dass du bis ans Ende deiner Tage schuftest oder mit deinem Schädel mein Esszimmer dekorieren.«

Er ließ sich von einem der Leibeigenen eine Traube zwischen die Zähne stecken. »Aber heute habe ich Lust auf etwas Exquisites. Liebst du deine Arbeit so sehr, dass du für sie leiden würdest? Glaubst du so sehr an deine Weissagungen, dass du dich in die düsterte Ecke meines Reiches begeben würdest, um sie auszuüben?«
Aus dem Publikum drang vor Betroffenheit kein Mucks, doch aus Rayens Schock war Entschlossenheit geworden. Schicksalsergeben senkte sie den Kopf. »Ja, so sehr liebe ich meine Arbeit.«
Mit einem hämischen Grinsen verkündete der Despot: »Du wirst dich um das Ungeheuer kümmern.«
Seine Diener japsten, die Palmwedel rutschten ihnen aus den Händen. In den Proben hatte einer von ihnen dabei mal gelacht, und seitdem war es eine Stolperstelle. Zum Glück passierte jetzt nichts.

Die Astronomin hatte damit zu kämpfen, ihre neu gewonnenen Mut nicht sofort zu verlieren. »Das... Das Ungeheuer im Verlies?«, stammelte sie.
»Du hast schon verstanden. Du wirst jeden Tag seine Zelle säubern und es füttern.« Unter einem spontanen Einfall rieb er sich das Kinn. »Zudem sollst du den Wachen jeden Abend ein Stück Haut des Wesens darlegen. Damit wir uns sicher sein können, dass du nicht schummelst. Kannst du uns an einem Abend keine Haut von ihm zeigen, wirst du für den Rest deines Lebens meine Ohrringe polieren, fernab der Sterne.«
Rayens Mimik vermittelte glaubwürdig, dass sie nicht zum Widersprechen fähig gewesen wäre, selbst wenn sie gewollt hätte.
Der König knurrte die Diener an, sodass sie die Palmwedel aufhoben und wieder fächerten. »Ich hatte vor, dieses widerliche Biest aushungern zu lassen. Aber es wird weiterleben, um dir Qualen zu bescheren. Etwas anderes hat es ohnehin nie.«
»Ich... Ich danke Euch für Eure Gnade«, murmelte die Astronomin und hastete von der Bühne.

»Kann in so einem Land noch irgendetwas gerecht zugehen?«, seufzte Ezequiel, während die Kulisse im Boden verschwand. Er erlaubte seinen Gedanken, zwischen dieser und seiner nächsten Zeile abzudriften. Noch. Ein kleines Wörtchen, das die Frage aufwarf, ob es jemals gerecht zugegangen war. Er fand darauf keine abschließende Antwort. Fakt war, dass sich einiges verändert hatte: Welche Ziele die Hína hatten, wem sie nacheiferten, und ob sie denen mit anderen Meinungen mit Neugier oder auf Barrikaden begegneten. Sáasil Ahau-Tikals Todesmeldung hatte ein Pytulk'tan und Clans zurückgelassen, in denen beides auf der gleichen Straße geschah. Zumindest das änderte sich nicht, während die Welt drumherum sich wie auf einer Rennbahn selbst überholte.
Vor Ezequiel spulten sich die letzten fünf Jahre im Schnelldurchlauf ab. Ausgrabungen. Erfindungen. Fortschritt. Debatten über Debatten.

Zurück in der Gegenwart sagte er: »Wenigstens hat die Astronomin eine sanfte Strafe bekommen, was weder der König noch sie weiß. Sie kennt lediglich den fürchterlichen Ruf der Kreatur, welche in ihrem Kerker dahinscheidet. Noch ist ihr nicht klar, dass sie Opfer derselben Machenschaften sind. Doch eine solch ungewöhnliche Begegnung kann zu einem großen Schicksal werden.«
Tran-Lampen. Schreibmaschinen. Augengläser. Medizinische Geräte und Erkenntnisse. Schneckenpumpen, Wasserräder, Ketten-Kupplungen für Karren, die in Pytulk'tan nicht mehr über bucklige Pflasterstraßen zottelten, sondern über glatten Asphalt. Wälder schrumpften, Minen weiteten sich aus. Je seltener, desto wertvoller. Die Begegnung mit Sáasil Ahau-Tikal hatte Origo in eine neue Ära geleitet, die seine Nachfolger emsig vorantrieben. Ein Gewächs, das noch keiner zuvor gesehen hatte, schoss in wahnsinnigem Tempo in die Höhe. Man stritt immer und immer wieder darüber, ob es sich zu etwas Schönem oder Hässlichem entwickelte. Doch egal, zu welchem der Lager man gehörte, in die Origo sich gespalten hatte, man konnte den Blick nicht abwenden.

Kaspar hatte sich erneut aus seinem Loch gehievt und jammerte erneut vor sich hin, bis hinter einer Trennwand Rayen hervorkam. Das Gewand war mit einem simplen Hosenrock und Büstenhalter ausgetauscht worden. Sie war blass wie eine tote Koralle und musste ihre Beine zwingen, sich zu bewegen. In den Händen hatte sie einen Korb mit Fisch und einen Wasserkrug, hinter dem sie sich klein machte, als wäre er ein Schutzschild.
Kaspar rutschte von ihr weg. Einige Tentakel umwickelten ihn panisch, einige drohten der Astronomin.
Sie erstarrte. »Ich will dir nicht weh tun«, sagte sie und spähte zwischen den Henkeln ihres Korbes hervor. »Kannst du... Kannst du reden?«

Das Monster blieb still. In Ezequiels Vorstellung sprach es nie mit den Wachen.

Rayen räusperte sich. »Ich soll mich um dich kümmern. Dein Zuhause sauber halten und dich mit Essen und Trinken verpflegen. Darf ich es hierhin stellen?«
Kaspar legte mit unergründlichem Blick den Kopf schräg, doch Rayen ging ihrer Pflicht nach. Zögernd senkten sich der Korb und der Krug herab. Wo sich in der Realität Bretter aneinander klammerten, sah Ezequiel rissigen, kalten Stein, der einen vor Einsamkeit in den Wahnsinn treiben konnte.

Rayen zückte einen Lappen und schrubbte los. Zur Beruhigung plapperte sie vor sich hin- von ihrer Arbeit und ihrer Familie, aber ihr Monolog widmete sich schnell dem Biest, welches da hockte wie eine Skulptur. »Ich muss daran denken, wie die Wachen am Strand auf dich eingeprügelt haben, bis sie dich bewusstlos abschleppen konnten. Klar, du hast einen beängstigenden Eindruck gegeben, aber... das muss furchtbar gewesen sein.«
Es neigte wieder den Kopf. Nie hatte jemand sich nach seinen Empfindungen erkundigt.
»Hast du eigentlich einen Namen?«, hakte sie weiter nach, ohne eine Antwort zu erwarten.
»Viele«, sagte Kaspar. »Nur keine netten.«

Rayen wäre beinahe der Lappen entglitten. »Du hast ja eine normale Stimme.«
»Warum musst du bei mir arbeiten?«, fragte er geradeheraus. Nicht argwöhnisch, schlichtweg interessiert. »Ich war davon ausgegangen, dass sie mich verrecken lassen, und freiwillig hat es dich wohl nicht in meinen Kerker verschlagen. Wofür büßt du?«
Rayen klärte ihn darüber auf, was sich seit seinem Erscheinen geändert hatte. Sie weihte ihn darin ein, dass die schlechten Omen den König erzürnt hatten, und dass sie deswegen zum Sündenbock geworden war. Dass jeder zum Sündenbock wurde, der den König erzürnte.
»Das ist wirklich frustrierend«, sagte Kaspar beklommen.
»Ach, was. Es ist nichts im Vergleich zu dem, was du aussitzen musst.«
»Dem neuen König scheint kein Leben Achtung wert zu sein.«

Rayen lachte freudlos. »Wem soll man das erzählen? Ich werde für das bestraft, wofür ich ausgebildet wurde, und der Einzige, der Mitleid mit mir hat, ist ein Unge-« Sie verstummte. »Oh. Tut mir leid.«
»Ich nehme es dir nicht übel.« Einer von Kaspars Tentakeln fuchtelte abwiegelnd in der Luft. »Einen Spiegel hat man mir in dieser luxuriösen Unterkunft nicht spendiert, aber ich weiß auch ohne, dass ich mich von euch unterscheide.«
Das kitzelte ein Schmunzeln aus Rayen heraus. »Humor hast du auch.« Ihre Mundwinkel verkrümmten sich sogleich. »Und ich? Ich bin so dumm, vor dem König Sachen zu sagen, die mich in maximale Schwierigkeiten bringen.«
»Oder du sprichst aus, was sich keiner traut«, erwiderte Kaspar.

Ein tiefes Gespräch entwickelte sich. Kaspar trank und kostete einen Fisch, den Rayen ihm hinhielt. Danach schlang er sich, halb verhungert, wie er war, die ganze Ladung rein. Sie lachten zusammen, klagten zusammen. So wie sie füreinander erweichten, erweichte auch das Publikum, sogar die Clanherrscher und Regenten.

Als Rayens Figur einfiel, dass es schon abends sein musste, wandte sie sich schweren Herzens zum Gehen. »Da wäre noch ein Problem«, erinnerte sie sich und verharrte. »Man verlangt von mir, dass ich pro Tag ein Stück deiner Haut bringe.«
Kaspar war nicht schockiert. »Sonst verbieten sie dir, die Sterne zu untersuchen, oder?«
Ein betrübtes Nicken.
»Und das ist es, wofür du jeden Morgen aufstehst.« Kaspar musterte einen seiner Tentakel. »Hast du eine Klinge?«
Beschämt holte Rayen ein Messer aus ihrem Hosenrock hervor und stotterte Entschuldigungen, doch Kaspar klaubte es ihr einfach aus der Hand. Er schnitzte sich einen modellierten Fetzen von der Oktopus-Haut, den sie über die echte geklebt hatten, und schenkte ihn dem Mädchen. »Bitte.«
Sie schirmte den Hautfetzen mit den Händen ab wie eine Perle. »Wie kann ich dir dafür danken?«
»Komm morgen wieder«, sagte er leise.
Rayens Iriden glitzerten wie eine Lagune im Mondlicht. »Das werde ich.«

Es wurden noch zwei Konversationen gezeigt. In der ersten berührten sie sich beim Abschied, in der zweiten umarmten sie sich. Kaspar wirkte gesünder, die abgeschminkten Augen glücklicher. Er lächelte Rayen nach und sie lächelte, als sie daraufhin den Nachthimmel beobachtete.
Der König hatte nichts zu lächeln. Die Schale neben seinem Thron war bis oben mit Haut gefüllt. »Auf dem Markt tuscheln sie von einer Monsterflüsterin, kannst du dir das vorstellen? Die Gerüchte gehen herum wie eine Krankheit. Bei jeder Audienz fragt man mich nach diesem nervigen Weib!«, murrte er zu einem Berater, der wie ein ausgeschimpftes Kind vor ihm stand. Die Diener gaben mit Palmenblätter ihr Menschenmögliches, die Wut des Königs davon zu wedeln.

»Lasst sie köpfen«, schlug der Berater vor.
»Vor ein paar Monaten hätte ich das noch tun können, aber die Situation hat sich verschärft. Der verdammte Fluch über meinem Land lässt nicht locker! Meine Untertanen werden dadurch... ja, aufmüpfiger. Ich denke, sie betrachten die Astronomin als Vorbotin einer Rebellion. Dem Monster mögen sie noch skeptisch gegenüber sein, doch sie kann sich vor Bewunderern kaum noch flüchten. Lasse ich sie hinrichten, stürmt mir dieses Bauernvolk noch den Tempel!«
»Dann lasst sie alle köpfen?«, erwiderte der Berater kleinlaut.

»Schweig, du Einfaltspinsel!«, wetterte der König. »Ich darf keine Märtyrerin schaffen. An ihr hängen sie, aber nicht an dem Ungeheuer. Diese Frau will sich einbilden, sie könnte dem Fluch der Götter trotzen? Ich trotze den Göttern persönlich.« Boshaftes Gelächter stob aus seiner Kehle. »Ihr Lakai wird seinen Tod dafür finden, Dürre und Verwüstung über uns gebracht zu haben. Ich lasse die Ausgeburt der Abscheulichkeit vom Tempel stürzen, und zwar vor versammelter Menge! Damit werde ich eine Rebellion zerbrechen, bevor sie überhaupt begonnen hat. Und das Weib gleich mit.«

»In einer Sache muss man dem Tyrann zustimmen: Gerüchte verbreiten sich so schnell wie eine Krankheit«, kommentierte Ezequiel, und zum ersten Mal rannte die Astronomin in Tränen aufgelöst zu Kaspar.
»Wieso weinst du? Was ist passiert?«, fragte er behutsam. Die Tentakel tätschelten sie und trockneten ihre Wangen.
»Der König will dich hinrichten lassen«, schluchzte sie. »Er glaubt, dass unsere Bindung zu einer Rebellion führen wird. Und das will er verhindern, indem...«
»Ist schon gut, ist schon gut«, wiederholte er und drückte die Frau an sich. »Wird er dir etwas antun?«
»Nein«, entgegnete sie atemlos.
»Lauf. Lauf irgendwohin, wo die Welt besser ist und wo du es nicht mit ansehen musst.«
»Wie kannst du das sagen? Ich lasse das nicht zu!«
»Ich wusste, dass es so enden würde. Das muss es.«

»Muss es nicht.« Sie wand sich aus den Krakenarmen heraus. »Du bist ein göttliches Wesen. Kannst du sie nicht um Hilfe bitten?«
»Wenn ich das könnte, hätte ich es längst getan.«
»Entschuldige«, schniefte sie. »Du hast es mir ja erklärt. Dass du eine Prüfung bist, ob sie den König akzeptieren sollen.«
»So ist es«, sagte Kaspar traurig.
»Und er versagt in ihrer Prüfung.« In Rayens Miene flammte unbändiger Zorn auf. »Wegen ihm haben wir keine Ernte. Keine Sonne. Keine Zukunft. Ich habe es satt, diesem Gewaltherrscher zu Füßen zu liegen. Ich habe es satt, dass er mir alles und jeden nehmen kann, sobald ich ihm nicht aus der Hand fresse.« Ihre ballte sich zur Faust. Sie zerquetschte darin die brave Astronomin, die sie einst gewesen war. »Die Götter helfen uns nicht? Dann helfen wir uns selbst.«

Eine Pause. Die Art von Pause zwischen zwei Hína, welche sich bedingungslos verstanden.
»Du möchtest ihn ermorden«, raunte Kaspar. »Bevor er mich ermordet.«
Rayen lehnte ihre Stirn an seine. »Wenn ich nicht für dich sterben kann, werde ich für dich töten.«

Die Zusammenführung der Handlungsstränge. Die Katastrophe oder die Lösung. Der Sprung ins rettende Wasser oder auf den tödlichen Felsen.
Das Schweigen auf dem Floß war unfassbar laut. Sie wollten den Ausgang haben, und Ezequiel wollte ihre Reaktion haben. Es durchsiebte ihn von oben bis unten mit Stolz. Er hatte noch nie ein Stück geschrieben, das so eingeschlagen war. Das die Leute so beeindruckt hatte.
Bei dem sie so abgelenkt waren.

In der hintersten Reihe, welche der Regenten- und Clanherrscher-Tribüne am nächsten war, sprang ein Mann auf. Ezequiel kannte ihn nicht, aber das grünliche Tuch an seiner Schulter verriet, dass er Geschäftsmann war.
»Für die Freiheit, die uns zusteht!«, brüllte er. Aus seinen mehrlagigen, verzierten Kleidern zückte er einen Dolch.

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