།᎓ Das Licht im Dunkeln

Verenice wurde geweckt, weil ihr der Fruchtsaft einer Ananas ins Gesicht tropfte.
Fast hätte sie Pixan, deren Schnabel die süß riechende Scheibe über ihr ausquetschte, mit ungraziösen Geräuschen einen Schlag versetzt. Sie flatterte in eine Wandnische, in der Verenice ihre Kleidung aufbewahrte. Währenddessen versuchte diese schlaftrunken und vergebens, das klebrige Zeug aus ihrem Gesicht zu wischen. Durch den halb zugezogenen Vorhang strömte Tageslicht in den stickigen Wohnraum, in dem sie anscheinend die einzig Verbliebene war- bis auf den skrupellosen Regenbogentukan-Hen.
Ananas am Morgen vertreibt Kummer und Sorgen‹, keckerte Pixan.

»Nicht, wenn man damit aus dem Schlaf gerissen wird«, grummelte Verenice. »Es ist Ruhetag!«
›Papperlappap. Wir haben bald Zenit‹, belehrte Pixan ihre Freundin und hüpfte drängelnd über ihr Bein.
»Also ist es heiß genug, dass man auch weiterschlafen kann«, murrte sie und drehte sich auf die Seite, wodurch Pixan auf eine Stange unweit von Verenice' Pritsche flog, an der Chilischoten zum Trocknen aufgehängt waren.
›Oder in den Dschungel.‹ Sie reckte ihre Brust vor, welche so leuchtend gelb war wie die fiese Ananas.
Verenice stöhnte.

Zumindest war ihr Tyrannen-Tukan so nett, von einem Regal Koka-Blätter zu holen. In Verenice' Wohnung kannte Pixan sich so gut aus wie in ihrer eigenen. Nicht, dass die großartig anders eingerichtet wäre. Beides waren auf Stützpfeilern errichtete Hütten am Rande ihrer Maniok- und Kartoffelfelder, die nur ein schmaler Grasstreifen vom Grundstück der anderen Familie abgrenzte. Im Wohnraum lagen ein kleiner Altar, die Küche und Pritschen zum Schlafen, in separaten Kammern die Vorräte und Gerätschaften für ihre Felder. Verenice' Eltern hatten gesagt, dass sie die Hacken und Sensen heute Morgen beim Schmied schleifen lassen würden.

›Ich habe einen richtig seltsamen Guaven-Baum entdeckt, den muss ich dir zeigen. Der sieht aus wie dein Bein, als du damals von dieser Klippe gesprungen bist‹, flötete Pixan.
Verenice verschluckte sich fast an einem der Blätter. »Du übertreibst!«
›Überzeug dich selbst.‹ Sie flog zurück zur Wandnische, raufte wahllos ein Kleid in ihren Krallen zusammen und hopste auf die Pritsche.
»Ich freue mich riesig drauf«, nuschelte Verenice und hoffte, dass die Koka-Blätter bald Wirkung zeigten. Sie verwandelte sich und ertastete das glatte Gefieder ihres persönlichen Lufttransports.
›Bei Origos Willen‹, krächzte Pixan. ›Wenn deine Eltern dich mitgenommen hätten, wärst du wahrscheinlich selbst im Laufen eingepennt.‹
Aber Verenice' Eltern hatten sie nicht mitgenommen- dann wüsste sie, dass im Geräteschuppen keine der Sensen und Hacken fehlte.

»Das war so witzig«, schwadronierte Pixan auf dem Rückweg zur Höhle. »Hast du schon mal einen Regenschirm gesehen? Das tragen die in Pytulk'tan über ihrem Kopf, wenn es regnet, wie ein kleines Dach. Boah, wenn man hier mit solchem Kladderadatsch ankommt, würde man mit faulem Obst beworfen werden! Was wollte ich sagen? Ah ja, so ähnlich sahen seine Federn aus, als er die aufgespannt hat. Ich musste mir die ganze Zeit das Lachen verkneifen, sonst hätte ich ihn noch verscheucht.«
»Keine Ahnung, ob das Lachen eines Tukans tanzende Vögel verscheucht«, erwiderte Verenice und duckte sich unter einem umgeknickten Baum hindurch, von denen es auf dem steilen Abhang zu ihrer Höhle eine Menge gab. Wie sich herausgestellt hatte, war der Guaven-Baum nicht nur voller reifer Früchte und tatsächlich krumm- wenngleich Pixan maßlos übertrieben hatte, was Verenice' Bein betraf. Sein wirres Geäst war auch die Zuschauertribüne einer Vogeldame geworden, und die Erde darunter zu einem Balzplatz für ein schwarzes Männchen. Verenice hatte sich in einen Menschen zurückverwandelt, um einen schrägen Tanz zu bestaunen. Das Männchen hatte damit Erfolg bei Frau Vogel gehabt.

Pixan redete unbeirrt weiter. »Diese Federhaube sollte es als Hut geben. Ich frage mich nur, ob der von den schnellen Bewegungen Kopfschmerzen kriegt.«
»Es gibt bloß eine Möglichkeit, das herauszufinden«, kündigte Verenice unheilvoll an. »Du stellst es nach. In der Dorfmitte, versteht sich.«
Pixan umfasste einen dünnen Stamm und drehte sich daran, sodass sie vor ihrer Freundin landete. »Brauche ich nicht. Ich habe dich doch schon für mich gewonnen.«
»Du bist eh zu unordentlich dafür. Der Vogel hat jedes Stöckchen von seiner Tanzfläche geräumt. Das wäre gegen deine Natur.« Verenice hackte im Vorbeigehen mit einem Finger in ihre Schulter. Man konnte nur noch Teile des verschmierten Gedichts lesen, die Kohle hatte sich auf Pixans Haut ausgebreitet wie eine Panzerung. Sie wollte es trotzdem behalten.

Augenrollend schoss sie mit einem Stück Guave auf den Geißelspinnen-Hen. Anders als Verenice hatte Pixan die grüne Schale entfernt, weil die ihr zu bitter war. »Was ich mich noch frage«, sie stopfte sich das zartrote Fruchtfleisch rein und sprach mit vollem Mund weiter, »tanzen die alle das Gleiche? Zeigen es ihre Eltern ihnen? Bekommen sie im Nest Tanzunterricht?«
Verenice rutschte den letzten Felsvorsprung des Steilpfades hinunter. »Wieso nicht? Wir haben ja auch die Klausur, und da... lernen wir...«

Erst strauchelten ihre Worte, dann ihr Schritt. Verenice' Geplapper hatte Geräusche überschattet, die jetzt durch die ineinander verzahnten Spalten und Kanten der Schlucht zu ihr hallten. Sie ergaben keinen Sinn. Wie das Knistern einer Flamme unter Wasser. Wie Schreie aus einem Grab. Das waren Dinge, die es nicht gab. Es gab keine Stimmen bei Pixans und Verenice' Höhle, außer ihre eigenen.

Verdutzt schaute sie zu Pixan. Aber die hatte ihre Guave weggeworfen und eilte bereits voraus. Wie der Tukan, der heute Morgen auf Verenice' Pritsche herumgehüpft war, tänzelte sie die felsige Böschung hinunter. Wegen der Sehschwäche setzte Verenice ihr nicht ganz so leichtfüßig, aber mit genauso viel Eifer nach. Was war da los? Denen, die sich bisher unter ihre Felder verirrt hatten, hatten sie schon vor Ewigkeiten verklickert, dass das ihre Höhle war. Konnten sie es mit einem blöden Streich zu tun haben?

Streiche standen oft im Zusammenhang mit gelangweilten Kindern. Als der kleine Bereich vor der Höhle jedoch sichtbar wurde, erspähte Verenice drei Erwachsene. Ihre Blicke waren auf Klemmbretter gesenkt, deren Papiere nur so überquollen, und sie trugen Westen und enge Hosen. Verenice staunte. Solche Kleidung war eine Seltenheit. Ihre Köpfe drehten sich, als jemand etwas rief- jemand aus der Höhle.

»Hey!«, machte Pixan sich bemerkbar, als sie fast bei ihnen war. »Was ist-« Sie räusperte sich. »Verzeihung, aber was ist hier los?«
Während Verenice aufholte, gingen zwei der Westenträger in die Höhle. Der dritte, ein Mann, den sie auf etwas älter als ihren Vater schätzte, wandte sich Pixan mit einem schmallippigen Lächeln zu. »Origo segne euch!«, begrüßte er sie. »Ich muss euch bitten, unsere Arbeiten nicht zu unterbrechen. Kinder sind hier gerade unerwünscht.«
»Wir sind keine Kinder.« Pixan zeigte auf die Gravur in ihrem linken Schlüsselbein. Der Satz klang so giftig wie die Fangzähne einer Viper. »Was machen Sie hier? Sind Leute in dieser Höhle?«

Mit einem letzten Ausfallschritt über einen gespaltenen Felsen kam auch Verenice vor dem Mann zum Stehen. Er überragte sie um einen Kopf. Seine Weste hatte sechs untereinander gereihte Taschen, aus denen hier zwei Stifte, da eine kleine Sanduhr oder ein gefaltetes Papier lugten. Das schwere Kleidungsstück verdeckte seine Gravur, aber dem langen Gesicht konnte Verenice sofort ablesen, dass er ein Nagetier sein musste. Ein Pakarana vielleicht. Der volle Schnurrbart und sein eher schütteres Haupthaar verfestigten dieses Bild in ihrem Kopf.
Sein Lächeln wurde gleich noch weniger herzerwärmend. »In dieser Höhle sind keine Leute, sondern Inspektoren«, erwiderte er mit einem mahnenden Unterton an Pixan. »Wie verordnet.«

Verenice blickte an ihm vorbei in die Höhle. Ziemlich unscharf machte sie die beiden anderen Hína aus, mit denen der Mann sich unterhalten hatte. Einer hatte einen Stab in der Hand, der bis zur gewölbten Decke reichte- eine Messlatte? Er sagte dem anderen etwas an, was dieser auf seinem Klemmbrett notierte.
Ein dicker Kloß verstopfte Verenice' Hals. Mehrere Fackeln erleuchteten die Höhle, viel mehr, als Pixan und sie entzündeten, wenn sie es sich darin gemütlich machten. Verenice kannte ihre vertrauten Wände nur im Halbdunkeln. Sie wusste in und auswendig, welche Mulden und Zacken das Licht begrenzten, wenn es aus der Fackelhalterung ihrer Stamm-Ecke strömte. All ihre Wandbemalungen in hellem Flammengelb vorzufinden, fühlte sich an, als hätte man Verenice' Seele nackt ausgezogen und an einen Pranger gestellt.

Weil es so ungewohnt war, übersah Verenice anfangs auch die Fackeln, deren Schein tiefer hinein reichte, als eine von ihren Fackeln es bisher getan hatte. Schatten strichen die Handvoll Gänge entlang, die sich vom Bauch der Höhle abspreizten. Selbst in warmem Licht wirkten sie alles andere als einladend- besser gesagt, genauso unwirtlich und beklemmend, wie Verenice sie sich vorgestellt hatte. Wenn ihre unklare Sicht sie nicht täuschte, ging es in einem der Tunnel nach wenigen Schritten steil nach unten. Wohlgemerkt wären die Einzigen, die in diesen klaustrophobischen Schächten Schritte machen könnten, Kinder.

»Ich... Ich verstehe das nicht«, sagte Verenice und riss sich von dem gruseligen Anblick los.
»Was gibt es daran nicht zu verstehen?« Den leisen Spott in seiner Stimme konnte Verenice ganz und gar nicht leiden. »Der gebenedeite Sáasil Ahau-Tikal hat euch doch vor Kurzem über den neusten Stand informiert.«
»Sie suchen hier nach Steinen?« Pixan sprach angespannt, als würde sie ein schweres Gewicht halten. Verenice wusste aus eigener Erfahrung, dass hinter dieser spitzen Nase gerade eine Armee aus Willensstärke für die Schlacht zusammengetrommelt wurde.
»Coltan«, korrigierte sie der Mann und zupfte an seinem Schnurrbart. »Es ist ein Tantal-Erz. In mehreren Höhlensystemen der Lianenschluchten, vor allem im Territorium eures Clans, konnte es bereits ausfindig gemacht werden. Wir haben Grund zur Annahme, dass sich hier große Vorkommen befinden.«

»Wie lange wird es brauchen, bis ihr es rausgeholt habt?«
Er guckte Pixan an, als hätte sie ihm gerade erklärt, wie man im Handstand Suppe löffelte. Mit dem Anflug eines Lachens stieß er die Luft aus seinen Lungen. »Ich darf ja wohl bitten! Denkst du, dass wir wie bei einer Kokospalme einmal schütteln, dann fällt uns alles vor die Füße und wir kommen in der nächsten Saison wieder? Junge Frau, diese Höhle ist so gut wie-«

Erneut rief jemand aus dem Inneren der Höhle- aus ihrer Höhle- und dieses Mal verstand es Verenice. Es war eine Tierstimme. ,›Meldung zu Bericht! Meldung zu Bericht!'‹ Ein Fledermaus-Hen flappte aus den Tunneln heraus, hinter ihm zwei weitere, die anderer Art waren.
»Bericht bitte«, brummte der Hen mit dem Nagetier-Gesicht.
Die Fledermäuse hängten sich kopfüber an den Eingang und wickelten sich ihre ledrigen Flügel um. ,›Oberer Inspektor! Da drin sind Schätze, so weit das Echo reicht!‹', sagte einer. Seine langen Ohren wackelten aufgeregt. ›,Die Götter der Höhle segnen uns, als hätte ganz Origo ihnen heute geopfert! Wir konnten fünf Trakte auf sechs Ebenen feststellen, alle ziemlich eng für eine Menschengestalt. Neben Tantal-Erz sind auch Kobalt und Nickel reichlich vorhanden, und wir haben eine Kammer lokalisiert, wo...'‹
Die Sätze zogen an Verenice vorbei wie ein Heukarren, denn sie wollte sie nicht wahrhaben.

Pixan fand vor ihr die Sprache wieder. Schweiß glänzte um ihre Nasenwurzel. »Was wollten Sie vorhin sagen?«
Ein fragendes Brummen ersparte dem oberen Inspektor ein Wie bitte?
»Vor dem Bericht«, sagte Pixan ungeduldig. »Diese Höhle ist so gut wie? Sie sind nicht fertig gewesen mit Reden.«
Er kniff die Brauen zusammen und brummte erneut. Und die weicher werdende Miene spiegelte wie ein kristallklarer See seine Gewissheit darüber, dass es den Mädchen übel aufstoßen würde. »Verkauft. Die Höhle ist so gut wie verkauft.«

Verenice' Magen sackte ein Stockwerk nach unten. Ihr Blick schnellte zu Pixan, um sich zu versichern, dass sie keine Geister hörte. Doch das Tukan-Mädchen tat nicht das Gleiche. Ihre Augen, dunkel wie bearbeitetes Leder und geweitet vor Entsetzen, fixierten sich auf den Mann.
»Unsinn!«, rief Verenice und trat näher an ihn heran. »Diese Höhle kann man nicht verkaufen. Sie gehört zu uns, zu den Feldern unserer Familien!«
Er runzelte die Stirn. »Dann seid ihr also die Töchter der Grundstückbesitzer?«
»Ja, das sind wir«, fauchte Verenice. Sie hatte keine Kontrolle mehr über das, was sie sagte. Die Wut trieb es aus ihr heraus. »Und die Höhle ist auf unseren Grundstücken! Sie gehört uns!«
»Hm«, machte der Inspektor. »Ich habe heute Morgen die Genehmigungen beider Familien erhalten, um den Vertrag abzuschließen.«

Dieses Mal blieb Verenice das Widerwort im Hals stecken. Das konnte er nicht gesagt haben. Das konnte nicht wahr sein. Warum sollte es auch? Warum sollten ihre Eltern das tun? Ihre Höhle verkaufen? »Aber...«, war das Einzige, das es aus Verenice' Mund schaffte.
»Auf Empfehlung der Clanherrscher. Eure Bodenschätze machen die Latrocina zu einem interessanten Anbieter auf dem Markt«, erklärte der Westenträger. Verenice hätte sich einbilden können, etwas wie Mitleid in seinem Gesicht zu erkennen. Diese Art von Mitleid, welches man für ein armes Lamm empfand, das nach seiner Mutter schrie.
Die Latrocina müssen sich niemandem anbieten, hätte Verenice ihm am liebsten an den spärlich behaarten Kopf geworfen. Doch sie erinnerte sich an Ahau-Tikals Besuch, wie viele neugierige Kinder ihn dabei begleitet hatten- und wie viele juwelbeschmückte Gönner und Kaufleute.

Pixan hatte recht gehabt. Ihr Clan wollte mit der Welt aufholen, und sie würden dabei hinten anfallen.

Verenice verschränkte ihre Finger mit denen ihrer Freundin, ohne sie anzusehen. Sie hatte die Vorahnung, es nicht ertragen zu können. Pixans Hand war schlaff, als könnte sie sich nur noch mit Mühe aufrecht halten. Und sie schwieg- ihr gesprächiger, notorisch gut gelaunter Regenbogen-Tukan schwieg wie ein Grab.
»An wen wird es verkauft?«, fragte Verenice für sie beide. Plötzlich war der Nachgeschmack der Guave so sauer, dass sie sich ein Würgen abringen musste.

Aus einer seiner Westentaschen fummelte der Mann ein gläsernes Oval hervor. Er drückte es auf sein Klemmbrett und fuhr die Wörter mit dem Hilfsmittel nach, sodass sie unter dem Glas vergrößert wurden. Ein Lesestein!
»An die Familie Malachit aus dem Savannok-Clan«, antwortete er und drehte das Klemmbrett um. Auf das Bastpapier war ein schwarzer Ring gestempelt, von dem Verästelungen ausgingen. Er erinnerte Verenice an die Muster, die Pixan ihren Kunden auf die Haut zeichnete, aber sie konnte nichts damit anfangen.

»Die Arbeiten beginnen voraussichtlich in zwei Wochen«, las er weiter vor. »Zum Ernten der Tantal-Erze wird ein Stollen errichtet, der«- sein Finger zeichnete die Felskante hoch über ihnen nach- »mit Lagerstätten und Halden für Abfälle inbegriffen die Grundstücke der Unterzeichner des Vertrags in Anspruch nehmen darf.«
Verenice klamüserte den umständlichen Satz in ihrem Kopf aus. Sie hatte noch nicht vor einem Stollen gestanden, aber sie besaß Fantasie. Mit allem Drum und Dran brauchte so ein Teil sicherlich eine Menge Platz. »Unsere Eltern geben unsere Grundstücke her? Aber mit diesen Feldern versorgen wir den ganzen Clan! Man kann hier nirgendwo anders anbauen!« Ein Schluchzen stahl sich aus ihrer Kehle. »Woher kriegen wir dann Essen?«

›Ihr kauft euch Essen‹, näselte einer der Fledermaus-Hína, die mit den Füßen am Höhleneingang hingen. ›Es ist ja schön und gut, dass ihr euch selbst versorgt. Aber man muss auch mit der Zeit mitgehen.‹
›Oder handelt man hier noch mit Stöcken und Steinen?‹, frotzelte die Fledermaus neben ihm.
›Mit ein paar Verbindungen zur Welt kommt vielleicht mal frischer Wind rein.‹ Der erste Fledermaus-Hen wackelte mit den langen Ohren.
Schließlich stieg der Dritte mit ein. Ihm hörte man den Pytulk'taner-Akzent am deutlichsten an. ›Ein bisschen Kultur. Eure harten Pritschen mal gegen Hängematten eintauschen. Ist ja kein Wunder, dass ihr so grimmig seid.‹
»Werte Herrschaften, bitte erstattet unserer Botschaft Bericht«, unterbrach sie der Inspektor kühl. Mit einem dreistimmigen Nicken flappten die schadenfrohen Hína in Richtung Dorf.

Verenice' Körper bebte vor Scham, Zorn und hundert anderen Gefühlen, die sich gegenseitig anbrüllten. Auf einmal spürte sie ein Ziehen an ihrer verkrampften Hand. »Verstanden«, sagte Pixan klanglos. Sie wollte Verenice zu dem Pfad bewegen, über den sie gekommen waren, aber der Geißelspinnen-Hen blieb stehen.
»Pixan, nein«, flüsterte sie. Die Hilflosigkeit ließ Verenice' Magen Pirouetten drehen. Das war ihr Refugium. Ihr Tempel. Sie trafen sich dort fast jeden Tag, seit Jahren, und jeder dieser Tage war an den Wänden verewigt. Die glitzernden Spuren darin hatten Verenice nie etwas bedeutet. Bei den Göttern! Sie konnten sich doch nicht alles von einer fremden Savannok-Familie wegnehmen lassen, einfach so!

»Verenice.« Pixan schaffte es kaum, sie anzublicken. Ihre Augen waren gerötet, ihr unsteter Atem sprach Bände.
Das letzte Mal hatte Pixan geweint, weil sie einen Eimer mit blauer Farbe, für den sie teuer bezahlt hatte, aus Versehen im Regen stehen ließ. Aber dieses Mal war es kein Regen. Die Liebe ihres Lebens sollte nie wegen etwas weinen müssen, das Verenice verhindern konnte. Keiner durfte Pixans strahlende Farben wegwaschen.
»Warum tut man uns das an?«, schrie Verenice. Ein Spucketropfen flog dem Inspektor auf die Stirn. »Warum will diese Familie unsere Höhle haben? Um noch reicher zu werden, als sie eh schon sind?«

Die Hína, welche in der Höhle etwas ausmaßen, stoppten ihre Arbeit. Der Griff des Inspektors verhärtete sich um sein Klemmbrett. Sein Ausdruck war so freundlich wie der, den Wolken vor einem Gewitter hatten. Durch die Stirn, welche ein kleines Tröpfchen krönte, zogen sich tiefe Furchen.
Der Sturm an Gefühlen, welcher Verenice zu ihrem Wutausbruch bewogen hatte, flachte rasch ab. Sie hatte einen Fehler begangen. Der Mann setzte sich in Bewegung. Sie hatte so was von einen Fehler begangen.

Selbst der leichte Wind schien still geworden zu sein. Im letzten Moment schob Pixan sich vor Verenice. Sie wollte Positionen tauschen, doch da hatte der Mann bereits die wenigen Meter zwischen ihnen überwunden. Er beugte sich herunter, bis er mit den jungen Frauen auf einer Höhe war. Verenice atmete nicht.
Doch es bewahrheitete sich nicht, womit sie gerechnet hatte.
»Um Leben zu retten.« Der Riese visierte sie an. »Die Familie Malachit hat Generationen von hoch angesehenen Hebammen hervorgebracht. Aus Tantal-Erzen werden mit neuen Verfahren Werkzeuge hergestellt, die Frauen bei Komplikationen den Tod ersparen könnten. Gerade, in Pytulk'tan, während wir uns über eine einzige Höhle streiten.« Er ließ seinen Blick zwischen Pixans und Verenice' Gravur pendeln. »Ihr seid jetzt Erwachsene. Denkt auch wie Erwachsene.«

Verenice zitterte. Sie wollte in Pixans Arme sinken und von nichts mehr etwas mitkriegen. Sie fühlte sich zu unerfahren für alles, was man ihr gerade erzählt hatte und was sie brav glauben sollte. Allein der Wunsch, Pixan gerade keine Last zu sein, versiegelte ihre Tränen.

Verenice drückte ihre Hand fester und wendete sich der Höhle zu. Die Senke im Fels, die sie sorgfältig ausgepolstert hatten, bis daraus eine gemütliche Sitzecke geworden war. Die Girlanden, die sie anlässlich ihrer Einweihungszeremonie gebastelt hatten. Die Gedichte, zu denen Pixan Bilder gezeichnet hatte, oder Bilder, zu denen Verenice Gedichte geschrieben hatte. Sie prägte sich alles genau ein. Gestern hatten sie von dort aus die Sterne gezählt, und jetzt sah Verenice ihre Höhle womöglich zum letzten Mal unversehrt.

Ihr Herz verknotete sich bei dieser Realisation, weil sie so unaussprechlich schlimm war. In den vielen Jahren hatten die Felsen einen Teil ihrer Seele aufgenommen. Sie erzählten eine Geschichte, die Verenice nicht eben in eine Kiste stopfen und wo anders auspacken konnte. Egal, wie laut es in ihrem Leben wurde, darin blieb es leise. Egal, ob die Kunden auf dem Marktplatz streng geometrische Körperbemalungen bevorzugten statt kunterbunte Spritzer auf Leinwänden, hier konnten sie sich ohne Grenzen austoben. Hier hatte Pixan Verenice gestanden, dass sie sie liebte. Und als Verenice überfordert mit ihren eigenen Gefühlen gewesen war und »Warum?« gefragt hatte, hatte Pixan hier geantwortet: »Weil meine Leinwände ohne dich leer wären.«

Ohne den oberen Inspektor noch einmal mit dem Arsch anzuschauen, verschwanden die beiden.

»Ich muss mit meinen Eltern sprechen«, sagte Verenice, als sie außer Hörweite waren. Sie trampelte den Steilpad schneller hoch als jemals zuvor. »Du am besten auch. Ich... Wir müssen sie überzeugen. Sie dürfen unsere Felder nicht verkaufen. Der gesamte Clan würde hungern.«
Sie zog sich einen Felsvorsprung hoch, schlug einen Ast beiseite, watete blindlings durch ein Feld aus Gestrüpp und Klettpflanzen. Erst als der zehnte Dorn in der Wade sie zum Stehenbleiben zwang, fiel Verenice die Ruhe in ihrem Rücken auf. Kein Knacken im Gebüsch. Keine Schritte.

Sie drehte sich um. Pixan verharrte am Zulauf des Steilpfads, ihre Augen auf den verwucherten Boden gerichtet. Ein Wimmern durchzuckte die Stille. Verenice' Zorn wollte sie mit dem Kopf voran durch die Tür ihrer Hütte stampfen lassen. Aber Pixan hatte immer Vorrang.
Sanft wollte Verenice ihr Kinn nach oben drücken, doch Pixan entwand sich ihren Fingern. Sie atmete ungleichmäßig und stierte das Wurzelwerk an, als hinge ihr Leben davon ab. Da kapierte Verenice, dass das nicht die Trauer um ihre Höhle war. Etwas anderes befleckte Pixans Seele. Etwas Dunkleres.

Verenice hatte keine Ahnung, was sie tun sollte. Dieses Mädchen war ein Sonnenschein. Sie war der Regenbogen nach jedem noch so heftigen Gewitter. Sie hatte in jeder Situation einen geistreichen Witz im Petto und sie hatte aus purem Trotz drei Monate nur Früchte in den knalligsten Farben gemalt, als ihre geliebte Großmutter zu den Göttern zurückgekehrt war. Aber gerade fürchtete Verenice, dass Pixan zerbrechen würde wie die Flügel einer Libelle, wenn sie sie anfasste.
»Wenn du- wenn du mit deinen Eltern redest, dann solltest du wissen...« Sie schluchzte. Es klang, als müsste Pixan einen Krieg gegen sich selbst führen, um diese Wörter aus ihrem Mund zu pressen. »Dann solltest du wissen, dass sie dir sagen werden, dass sie in den Minen arbeiten müssen.«

Verenice' Gedanken kamen zum Stillstand. Sie starrte Pixan an, obwohl es sich anfühlte, als würde Verenice durch sie hindurch starren, nämlich in eine Leere, in der nichts mehr Sinn ergab. »Was... wie? Was meinst du?«
»Meine Eltern haben mir gestern gesagt, dass sie am Morgen etwas aushandeln werden. Sie und deine Eltern.« Sie senkte den Kopf noch tiefer. »Die Clanherrscher haben es befohlen. Und wenn unser Eltern sich nicht dazu gemeldet hätten, im Stollen zu arbeiten, hätten wir gemusst.«
Langsam, als würde eine Schnecke das Kommando über ihre Gedanken leiten, sickerte das Gesagte zu Verenice durch. »Du wusstest davon?«
»So halb... Sie sagten, es ginge um die Höhle und unsere Grundstücke, aber...« Pixan ließ den Satz unvollständig.

Anscheinend rechnete sie damit, dass Verenice sie mit Beschuldigungen und Vorwürfen auspeitschen würde. Das tat sie nicht. Verenice war zu erschöpft. Sie war so dermaßen am Ende. »Hast du mich deswegen geweckt?«
Pixan nickte ergeben.
»Aber Pixan, bitte. Das geht nicht. Wir dürfen das nicht zulassen!«
»Sáasil Ahau-Tikal will es so.«
»Das kann er doch nicht wollen«, krächzte Verenice. »Mein Vater hat extra nachgefragt. Sáasil hat versprochen, dass alle zusammen darüber entscheiden. Dass er hier war, ist nicht mal einen Monat her! So schnell ändert doch keiner seine Meinung!«
»Doch. In Pytulk'tan ändern sich die Dinge schneller als bei uns.« Pixans Tonfall zitterte wie ein morscher Baum im Wind.

»Wir müssen uns irgendetwas einfallen lassen. Irgendwas«, flehte Verenice. »Du bist bei gefährlichem Zeug immer dabei! Um genau zu sein, müsste diese Idee jetzt von dir stammen und ich müsste eigentlich-«
»Das ist unser Clan, Verenice Bilajem, ein Dorf! Hier gibt es nichts Gefährliches!«, fuhr Pixan jäh dazwischen. »Oh, beim Vater Origo. Woher willst du wissen, was das ist?« Sie schlang sich ihre Arme um die Brust, als wäre in ihrem Herzen ein Geheimnis verwahrt, das nicht nach draußen gelangen durfte. »Etwas richtig Gefährliches merkst du erst zu spät. Wie eine reiche Schnepfe in Pytulk'tan um ihren Pinsel zu erleichtern, weil sie denkt, nur weil der von oben bis unten funkelt, kann sie besser zeichnen als eine ›Feldratte.‹ Zitat Ende. Was soll ich noch sagen. Diese ganzen Leibwächter dort haben ihre Muckis nicht umsonst.«

»Oh.« Verenice stockte. »Oh nein. Das wusste ich nicht. Es tut mir leid.« Sie brachte keine ihrer Fragen über die Lippen. Vermutlich wären sie ohnehin unpassend gewesen. Es war an der Zeit, dass sie es sich eingestand: Pixan hatte schon mehr von Origo gesehen als sie- nicht von seinen Clans, aber von seinen Hína. Jemand hatte sie dabei verletzt und Verenice hatte sie nicht beschützen können. Was, wenn sie zum Beschützen überhaupt nicht in der Lage war, weder damals noch jetzt? Weil sie in der Hinsicht zu verschieden waren? Wenngleich Pixan und sie fast alles miteinander teilten, gab es Bürden, die nur sie selbst nachvollziehen konnten. Verenice sah zu wenig und Pixan sah zu viel. Vielleicht hatten die Götter diesen Weg für sie vorherbestimmt. Aber sie ergänzten sich. Sie durften voreinander Schwäche zeigen, und dadurch waren sie gemeinsam stark.

Pixan wischte sich über die Nase und wandte sich ab. »Ich hole unsere Sachen aus der Höhle.«
»Nein.« Verenice packte ihr Handgelenk. Sie wollte nicht, dass Pixan ihr betroffenes Schweigen missdeutete. »Das ist nicht deine Schuld. Nichts davon. Es ist meine. Ich hätte dir besser zuhören müssen, als Ahau-Tikal zu Besuch war. Ich habe es mir zu einfach gemacht.«
Endlich blickte Pixan ihr wieder in die Augen. »Also lagst du falsch?«
»Quasi.«
»Und ich lag im Recht?«
»Schockierend, ich weiß.«

Das Tukan-Mädchen kämpfte sich ein Lächeln auf, doch Verenice ertrug diesen Abklatsch nicht. Sie lockerte den Griff um Pixans Handgelenk und suchte in ihrem durchgeschmorten Schädel nach einer Rettung. »Konnte die Schnepfe mit dem funkelnden Pinsel denn wirklich sooo schlecht zeichnen?«
»Wenn ein Schimpanse sich auf der Leinwand gewälzt hätte, wäre es hübscher geworden.« Pixan schnalzte mit der Zunge. »Aber der Pinsel... gegen den hatte ich gar nichts.«
Da erkannte Verenice einen Deut in ihrer Mimik. »Konntest du sie austricksen?«
In Pixans Lächeln schlich sich eine Prise Lebendigkeit.
»Du hast den Pinsel noch!«
Das tapfere Lächeln wurde zu einem freimütigen Grinsen. »Hä, na klar. Gestern habe ich damit mein Bild von dem Lagerfeuer gemalt.«

Verenice grinste mit und strich Pixan eine dunkle Strähne hinters Ohr. Allmählich beruhigte sich ihr Magen und sie konnte wieder zusammenhängend denken. Sáasil Ahau-Tikal hatte mit leeren Versprechungen um sich geworfen, sogar ihre Clanherrscher zwangen ihr Volk, sich der neuen Bewegung aus Pytulk'tan anzubiedern. Aber die Latrocina würden nie so sein wie Pytulk'taner oder reiche Savannok-Familien. Dafür waren sie hart gesotten und ließen sich nicht im Stich. Auf den hohen Klippen des Dschungels waren sie Unwetter gewohnt- auch dieses würde vorbeigehen.
Verenice lehnte die Stirn an Pixans Schulter. Warmer Atem streichelte ihr über die Haare. Der Großteil des Gedichts war unleserlich, aber manche Spuren hatte sie so platzieren können, dass sie alle Widrigkeiten überdauerten: Eid. Träume. Nektar. Lichtstrahl. Schicksal. Solange sie einander hatten, würde alles erträglich sein.
Der mich nie verließ. Ja, solange sie einander hatten.

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