6 Ivy - 1
„Dad! Jetzt komm endlich." Mehrmals rief ich bereits nach ihm, doch er hatte sich in seinem Büro verkrochen und wollte scheinbar gar nicht mehr herauskommen.
„Ist Daddy krank?" Ruby stand neben mir und sah mich fragend an. „Ich habe auch schon geklopft, aber er hat nicht geantwortet. Vielleicht schläft er."
Dad vergötterte unseren kleinen Nachzügler, doch auch Ruby schaffte es nicht, dass er aus seinem Büro kam. Dabei sollten wir langsam auf den Weg zur Weihnachtsmesse machen.
Mom zwang uns nicht jeden Sonntag in die Kirche, aber Weihnachten war unser aller erscheinen dort Pflicht. Doch dieses Jahr war es anders.
Zoey würde die Feiertage zum ersten Mal nicht mit uns verbringen, sondern gemeinsam mit Tate zu seiner Familie reisen. Seitdem sie uns das vor zwei Tagen offenbart hatte, war Dad ein Zombie und die ganze Weihnachtsstimmung war dahin.
Warum konnte er sich nicht einmal zusammenreißen? Es musste ihm doch klar sein, dass wir alle irgendwann das Haus verlassen würden, um unser eigenes Leben zu leben.
„Kommt ihr?", rief Mom von unten und Ruby zuckte mit ihren Schultern. Dann griff sie nach meiner Hand und zog mich mit sich. Zumindest sie hatte verstanden, dass alles Betteln nichts bringen würde.
„Daddy ist krank", meinte Ruby und ließ sich widerstandslos von Mom ihren Mantel anziehen.
„Morgen ist er bestimmt wieder gesund." Der Blick, welchen Mom mir zuwarf, sprach Bände. Sie war sichtlich genervt von seinem Verhalten, ließ es ihm aber durchgehen. Zumindest für den Moment. Sobald wir von der Messe zurück wären, würde sie ihm die Hölle heißmachen.
Warum konnte Dad das alles nicht so locker sehen wie Mom?
„Es tut mir leid, dass ich euch alles kaputtmache." Zoey kam nun ebenfalls die Treppen nach unten und zog sich an. Sie würde morgen in das Flugzeug steigen und erst an Silvester zurückkommen, gemeinsam mit Tate.
Der Junge hatte Nerven aus Stahl. Ihm würde vermutlich die gesamte Ablehnung unseres Dads treffen und trotzdem kam er her. Ich bin gespannt wie Dad sich verhält, sollte Zoey eines Tages ausziehen.
„Es ist nicht deine Schuld, dass euer Vater sich wie ein I-D-I-O-T", buchstabierte sie, „verhält." Das machte sie immer, wenn sie nicht wollte, dass Ruby die Schimpfworte verstand, welche sie benutzte. „Und nun kommt. Wir wollen los." Mom hob Ruby in ihre Arme und Zoey und ich tauschten kurze Blicke aus.
„Wenn er morgen nicht gesund ist, kann er keine Plätzchen mit mir machen." Für Ruby schien in genau diesem Moment die Welt zusammenzubrechen, denn seitdem sie auf der Welt war, backte Dad mit ihr am Tag nach der Messe Plätzchen. „Mommy", weinte sie los und klammerte sich an sie.
„Es ist alles gut", tröstete Mom sie. „Morgen ist er ganz bestimmt wieder gesund und ihr werdet die besten Plätzchen der Welt backen."
Rubys weinen wurde immer lauter und sie hatte wohl auch nicht vor, sich so schnell wieder zu beruhigen. „Daddy", rief sie und strampelte wie verrückt. „Daddy!", schrie sie nun regelrecht und Mom ließ sie aus ihren Armen.
Kaum spürte Ruby festen Boden unter ihren Füßen, lief sie zurück und erklomm die Treppen nach oben. Sie gab ein letztes, verzweifeltes "Daddy" von sich und schon konnten wir hören, wie die Bürotür geöffnet wurde.
„Sie weiß halt, wie man ihn um den Finger wickelt", meinte Zoey und ging in Richtung des Wagens.
„Zum Glück. Ich hätte ja keine Ahnung, wie ich ihn auch seiner Starre befreien könnte." Mom nahm ihre Handtasche und schloss die Haustür, nachdem wir hinaustraten.
„Du hast noch einige Jahre Zeit, um dir darum Gedanken zu machen. Wenn du denkst, er flippt bei Zoey schon aus, dann warte bis die Letzte von uns das Haus verlässt."
„Bis Ruby das Haus verlässt, werden wir hoffentlich einige Enkelkinder haben. Die können seinen Schmerz dann lindern." Unglaublich, wie leicht Mom das alles zu nehmen schien.
„Zoey wird vermutlich die Erste sein", prophezeite ich.
„Und euer Vater wird den Gedanken daran hassen, bis er das erste Enkelkind in seinen Armen hält."
Wir stiegen in den Wagen und fuhren ohne Dad und Ruby zur Messe. Ich verstand schon, warum Zoey die Feiertage bei Tate verbringen wollte. Dort gab es vermutlich Unmengen von Schnee, während es bei uns bereits den gesamten Tag regnete.
„Meinst du, wir könnten Dad irgendwann dazu bringen, Weihnachten an einem Ort zu verbringen, an dem Schnee liegt?"
„In einigen Jahren bestimmt."
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