5.4 ♌︎ Candice

»Jo, was ist passiert?«, rufe ich und stürze auf die Terrasse, wo Kate und Brandon ihr mit aufgerissen Augen entgegen starren.

Als die drei mich erblicken, sehe ich in ihren Augen, dass es nichts Gutes zu berichten gibt.

»Me...mein Urgroßvater war ein Mörder«, flüstert Kate tonlos und starrt ins Leere.

»Was?«, entfährt es mir ungläubig.

»Er hat Will Caporale umgebracht.«

Jo erklärt mir schnell, wie sie das herausgefunden hat und ich staune dabei nicht schlecht. Sie ist wirklich ein kluges Köpfchen.

»Aber woher willst du wissen, dass ihr Urgroßvater nicht Will Caporale ist? Der Ermordete?«, vergewissere ich mich, weil ich nicht ganz verstanden habe, wie sie darauf kommt.

»Weil Eckstein auf Wills Seite ist, sonst würde es doch keinen Sinn ergeben.«

»Dann bin es also ich«, stellt Kate ernüchtert klar und starrt dabei gedankenverloren auf den Plattenboden der Terrasse. »Ja, ich bin der Grund, warum all das hier geschehen ist. Ich bin schuld.«

»Ach was, Kate«, rede ich ihr zu. »Warum sollte es deine Schuld sein? Du kannst nichts für deinen Großvater. Außerdem...außerdem gehörte meine Mutter dem Chester's Clan an. Ich würde also nicht sagen, dass du die einzige bist, die in diesen Fall verwickelt ist.«

»Und was machen wir jetzt?«, fragt Kate ratlos.

Ich sehe Kate tief in die Augen. »Wir brauchen einen Plan, um den Chester's Clan ein für alle Mal auszulöschen. Ohne ihn ist Eckstein aufgeschmissen.«

»Mist«, entfährt es Jo plötzlich. »Ich habe vergessen, meinen Eltern Bescheid zu geben, dass ich nicht zum Schlafen nach Hause komme. Die werden einen Polizeisuchtrupp losschicken, wenn ich mich nicht gleich melde. Wenn sie es nicht ohnehin schon getan haben.« Sie tastet panisch die Taschen ihrer Hose und Jacke ab. Als sie nicht fündig wird, blickt sie uns ratlos entgegen.

»Du hast es bestimmt im Zimmer gelassen«, versuche ich sie zu beruhigen.

Daraufhin rennt Jo wie von der Tarantel gestochen in die Hütte zurück. Als sie zwei Minuten später wiederkommt, hat sie einen verzweifelten Ausdruck im Gesicht. »Ich hab's nicht gefunden«, murmelt sie tonlos.

»Was ist denn hier los?«, fragt Liam, der in diesem Moment durch die gläserne Glasfront schreitet. Er blickt ratlos in die Runde.

»Jo hat ihr Handy irgendwo liegen lassen«, spreche ich für sie.

»Na und, das ist doch nicht so wild«, meint er. »Wir haben im Moment Schlimmeres durchzustehen.«

»Und wenn es mir im Moshannon Manor aus der Tasche gefallen ist?«, zischt sie. »Sie könnten uns über Freunde orten.«

»Aber das geht nur, wenn Kate und Candice die Berechtigung dafür erteilt haben.«

»Das haben sie!«, schreit sie verzweifelt.

»Dann müssen sie deinen Code kennen«, meint er ruhig. »Glaub mir, ich war im Chester's Clan der einzige, der was von Technik verstanden hat. Ohne mich können die das nicht knacken.«

»Was sollen wir jetzt nur tun?« Jo fasst sich mit hochrotem Kopf an die Stirn und fährt sich mit den Handflächen über die Haare.

»Erst einmal stellen Kate und Candice umgehend die Standortteilung aus und dann habe ich eine kleine Überraschung für euch.« Er grinst vielversprechend.

Wenig später befinden wir uns am überdimensionalen iMac von Kates Eltern, der in einem kleinen Arbeitszimmer mit Blick über Chester Hill steht. Kaum zu glauben, dass man sich sowas in sein Ferienhaus stellt.

»Was machst du da?«, fragt Kate mit gerunzelter Stirn, während Liam irgendwelche Zahlen und Codes in die Tastatur hämmert.

Ich weiß es ja auch nicht, aber aufgrund des Bildschirms, der bloß schwarz mit lauter weißen und neonfarbenen Buchstaben geschmückt ist, vermute ich mal, dass er was hackt.

Unglaublich, wie schnell er dabei vorgeht. Das ist ziemlich beeindruckend. Bis zu diesem Zeitpunkt ist mir nie klar gewesen, wie schlau er eigentlich ist. Nicht auf diese Art wie Jo. Jo brütet tagelang über Büchern und prügelt sich den Stoff in ihr Hirn, bis es zu platzen droht. Liam hingegen scheint all das hier förmlich in die Wiege gelegt worden zu sein.

Liam hat Kate noch immer nicht geantwortet, sondern Fragt Jo nach ihrer Telefonnummer und ihrer Apple-ID.

»Und das hier ist der komplette Zugriff auf Jos Telefon«, verkündet er nach ein paar weiteren Minuten und wendet sich auf dem schwarzen Drehstuhl zu uns.

»Krass«, staunt Kate. »Das ist doch unglaublich.«

»Ich bin eben der Beste der Besten«, kommentiert Liam zwinkernd.

Kate lacht leise und etwas spöttisch in sich hinein.

»Und was machen wir jetzt?«, fragt Jo ohne auf Liams selbstverherrlichende Äußerung einzugehen.

»Erst lasse ich es...«, seine Finger tanzen in Schallgeschwindigkeit über die Tastatur, »...orten«, beendet er den Satz und drückt auf Enter.

Lauter Zahlenkombinationen erscheinen auf dem Bildschirm.

Während Kate, Jo und ich höchstens an Buchstabensuppe denken können, nickt Liam wissend. »Wie wir es vermutet haben, es liegt im Moshannon Manor.«

»Oh Mann, sie können meine gesamten Nachrichten lesen und...«, faselt Jo unruhig und beginnt an ihren Nägeln zu kauen, doch Liam fällt ihr ins Wort.

»Das ist gut, Josephine!«, widerspricht er ihr. »Das ist unser Jackpot. Wir hätten es absichtlich machen sollen, aber in der Aufregung habe ich es wohl nicht mit einbezogen.«

»Was?!« Jo ist sichtlich verwirrt.

Auch Kate und ich sind gespannt, was für ein Ass im Ärmel von Liam schlummert und mustern ihn erwartungsvoll.

Liam sind unsere fragenden Blicke nicht entgangen und so grinst er wissend, lehnt sich zurück und spannt uns für einen kleinen Moment auf die Folter. Eine Sekunde später gibt er wieder eine unverständliche Kombination aus Buchstaben und Zahlen in den Rechner ein und haut mit vollem Einsatz auf die Enter-Taste.

Was ich im nächsten Moment höre, ist ein Geräusch wie am anderen Ende der Leitung. Nur dass es aus dem Computer kommt und wir niemanden angerufen haben.

»...haben aber nichts gegen sie in der Hand«, ertönt eine Stimme, die mir verdächtig bekannt vorkommt.

»Wir wollten sie doch endgültig ausschalten, bevor wir uns weiter ausbreiten können. Denn mal ehrlich, sie sind uns im Weg.«

»Das ist Mary«, flüstere ich Kate und Jo mit entgeistertem Blick zu.

Die beiden nicken überrascht und zustimmend.

Angestrengt lauschen wir der Konversation zwischen den beiden Personen.

»Aber sie ist noch immer meine Tochter, ich kann ihr das nicht antun.«

»Du bist hier der Oberhaupt«, sagt Mary schließlich, »dann werden wir wohl oder übel eine Lösung finden müssen, die Josephine verschont, aber das wird schwierig und könnte den gesamten Plan gefährden.«

Während Kate und ich ratlos Blickkontakt aufnehmen, erstarrt Josephine augenblicklich zur Salzsäule.

»Jo, was ist?«, frage ich sie besorgt.

»D...das ist doch nicht möglich«, flüstert sie mit leeren Augen.

»Jo, jetzt sag schon!«, fordere ich sie dazu auf, mit der Sprache rauszurücken.

»Habt ihr sie gehört?«, fragt Jo tonlos.

Kate, Brandon, Liam und ich nicken.

»Da...das war m...meine Mutter«, entweicht es ihr stockend.

Angestrengt warte ich, bis ich die Stimme wieder vernehme und tatsächlich, es ist die Stimme von Jos Mutter. Ich habe sie nur zu lange nicht gehört, um sie durch die verzerrende Telefonübertragung gleich zu erkennen.

»Ich...ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll...« Jo sinkt auf die Knie und vergräbt das Gesicht in ihren Händen.

»Ich schaff sie aus dem Raum«, erkläre ich den anderen und packe Jo an den Schultern, um sie aus dem Arbeitszimmer zu lotsen.

Bevor ich die Tür hinter mir schließe, bedeute ich Liam mit einer Geste, das Gespräch aufzuzeichnen. Jeder Gesprächsfetzen könnte nützlich sein.

»Jo, beruhige dich, es könnte doch sein, dass alles anders ist, als es scheint.« Ich fasse sie im Flur an den Schultern und fahre von dort aus mit meinen Handflächen bis zu ihren Oberarmen.

»Ich weiß es aber!«, widerspricht sie mir mit bitterem Ausdruck und sieht mir schmerzverzerrt in die Augen. »Das ist es ja. Jetzt, wo ich es gehört habe, ergibt auf einmal alles einen Sinn.«

Ich mustere sie fragend, damit sie fortfährt.

»Kannst du dich noch erinnern, als wir das erste Mal zum Moshannon Manor aufgebrochen sind?«, fragt sie mich.

Ich nicke.

»Da sind sie doch zu diesem«, sie malt unsichtbare Gänsefüßchen in die Luft, »Wellnesswochenende gefahren und ich konnte ohne Probleme mit euch mitkommen. Ich hab mir damals schon gedacht, sie wären endlich zur Vernunft gekommen... In Wahrheit haben meine Eltern im Moshannon Manor auf mich gewartet.« Sie schüttelt fieberhaft den Kopf. »Sie war so interessiert an dem Konflikt zwischen dir und Mrs. Campbell und ich hab mir nichts dabei gedacht. Sie hat sie wahrscheinlich deshalb umlegen lassen, oder...oder sie selbst...« Sie hält inne und bricht ab. »Und dann die Sache mit dem Auto. Ich wusste doch, dass wir uns das nicht leisten können, aber jetzt weiß ich, woher wir all dieses Geld haben.« Sie sieht zu mir auf. »Wie konnte ich das nur übersehen?«

Mit einem Mal wird mir bewusst, dass dies wirklich real ist. Es ist die Wahrheit. Wir haben Eckstein schon viele Jahre früher kennengelernt, es aber nur nie geahnt. Jedes Mal, an dem ich bei Josephine übernachtet habe, hat Eckstein im Zimmer nebenan geschlafen. Vielleicht hat Eckstein auch nicht geschlafen, vielleicht ist er ins Zimmer gekommen und hat mir beim ruhigen Ein- und Ausatmen zugesehen und dabei hämisch in sich hinein gegrinst. Eine ziemlich gruselige Vorstellung, die mir im selben Moment einen kalten Schauder über den Rücken jagt.

»Jo, ich weiß, dass das für dich jetzt alles etwas schwierig...«, will ich beginnen, doch sie würgt mich ab.

»Schon okay, Candice, ich glaube, ich sollte mich mal schlafen legen. Ich bin müde und muss das alles verarbeiten.«

»Jo, bist du dir sicher, dass...«, will ich wieder ansetzen doch sie fällt mir abermals ins Wort.

»Candice!«, mahnt sie mich eindringlich. »Ich muss jetzt wirklich mal allein sein.«

Weil ich nur das Beste für meine Freundin will, gebe ich an diesem Punkt nach. Ich muss Jo selbst entscheiden lassen, was gut für sie ist.

So begleite ich sie noch auf ihr Zimmer und vergewissere mich währenddessen so nebenbei, ob sie wirklich in der Lage ist, allein zurecht zu kommen.

Normalerweise bin ich mir bei diesen Sachen immer ganz sicher, aber diesmal kann ich wirklich nicht sagen, ob es wirklich eine gute Idee ist, sie allein im Zimmer zu lassen. So bin ich wohl oder übel gezwungen, ihr zu vertrauen.

●●●

»Wir sollten uns langsam hinlegen«, meine ich zu Brandon. »Ein gut funktionierendes Hirn braucht Schlaf.«

Brandon nickt seufzend.

Wir haben es uns im gemütlichen Kingsizebett mit Lammfell und Kuhteppich bequem gemacht.

Wenn ich mich im Zimmer umschaue, dann entdecke ich noch weitere Objekte aus Tierfell und sogar einen ausgestopften Elchkopf über unserem Bett.

»Mein Vater hat anscheinend wirklich einen Faible für echtes Tierfell«, kommentiert Brandon, als hätte er meine Gedanken gelesen.

Ich lache zustimmend auf. »Ja, echt, ein Vegetarier würde hier drin durchdrehen.«

»Also ich find's hier eigentlich ganz gemütlich.« Dann runzelt er jedoch die Stirn und deutet auf den Elch über uns. »Wenn wir unseren Freund hier oben abmontieren könnten, dann währe mir allerdings wohler.«

Ich nicke lachend, weil ich mich frage, was ein toter Tierkopf in einem Schlafzimmer zu tun hat, und greife dann nach dem Lammfell zu unseren Füßen und werfe es über den Elchkopf.

»Jetzt besser?«, frage ich grinsend.

»Besser!«, entgegnet Brandon und schließt mich in seine Arme.

Dann entscheiden wir uns dazu, das Licht endgültig zu löschen und uns schlafen zu legen.

»Candice?«, flüstert Brandon nach ein paar Minuten in der Dunkelheit.

»Ja?«, entgegne ich und rolle mich so, dass mein Kopf zu ihm schaut.

Das Licht des Mondes und der Außenbeleuchtung der Hütte fällt sanft durch das Zimmerfenster und gibt Brandons Gesicht eine Form in der grauen Dunkelheit.

Ich kann seine Sommersprossen gerade nicht erkennen, aber seine warmen Augen glänzen und auf seinem Gesicht macht sich ein wohlwollendes Lächeln breit.

»Ich liebe dich, Candice Walker«, sagt er dann wie aus dem Nichts.

Eine Schockwelle fährt augenblicklich durch meinen Körper und lässt ein wohliges Kribbeln auf meiner ganzen Haut entstehen.

»Candice, du...du musst das nicht erwidern, wenn du nicht«, beginnt Brandon mit weicher Stimme, doch ich falle ihm in sein Wort.

»Schlaf mit mir«, flüstere ich.

»Was?«, haucht er, als hätte er sich verhört.

»Schlaf mit mir, Brandon.«

Als wir uns eine gute Stunde später mit klopfenden Herzen und verschwitzter Haut nackt in den Armen liegen, bin ich so unglaublich glücklich. Ich könnte die ganze Welt erobern. Für einen Augenblick vergesse ich Eckstein und alles, was damit zu tun hat und blicke Brandon in die Augen. »Eine Sache hätte ich dir beinahe vergessen zu sagen«, flüstere ich.

»Ach ja?«, keucht er noch immer atemlos und auf seinen Lippen zeichnet sich ein Lächeln.

»Ich liebe dich auch, Brandon Kingsman«, wispere ich.

●●●

»Verdammte Scheiße!«, brüllt Kate durchs ganze Haus und reißt mich somit aus meinem so dringend notwendigen Schlaf.

Schlaftrunken richte ich mich auf und werfe einen Blick auf den schlafenden Brandon, der neben mir liegt. Ein kleines Lächeln huscht über meine Lippen. Dann steige ich aus dem Bett und fühle sogleich das glatte Kuhfell auf meinen nackten Fußsohlen.

Das würde sich alles so gut anfühlen, wenn nicht eine penetrante Kate in aller Herrgottsfrühe durch das Haus schreien würde.

Ich öffne die Gästezimmertür. »Kate, was ist los«, rufe ich mit aller Kraft, die ich so gleich nach dem Aufstehen aufbringen kann.

»Josephine, sie ist verschwunden«, berichtet sie atemlos, als sie in ihrem Seidenpyjama vor mir zum Stehen kommt.

»Was?«, entfährt es mir ungläubig. »Jo verschwindet doch nicht so einfach.«

»Aber unser Auto ist auch weg«, zischt sie wimmernd und fährt sich mit ihren Handflächen durch die verstrubbelten Haare.

Ungläubig reiße ich die Augen auf. »Dein Ernst jetzt?!«

Kate nickt.

»Hast du irgendeine Ahnung, wo sie sein könnte?«, frage ich sie ratlos.

»Sie hat gestern Abend nachdem Brandon und du schon geschlafen habt noch so Witze darüber gemacht, dass sie das Moshannon Manor in die Luft jagen wird.« Kate lacht spöttisch. »Aber ich schätze mal, dass sie bloß eine Tour durch die Landschaft macht, um etwas den Kopf freizukriegen. Du kennst doch Josephine.« Sie zeigt mir einen Vogel.

»Verdammte Scheiße, Kate, das meint sie ernst, du dumme Kuh!«, rutscht es mir raus.

Kate schüttelt enttäuscht den Kopf und ich erwarte schon, dass sie mir einen Vortrag halten wird, doch sie starrt einfach in die Ferne und flüstert. »Du hast recht, ich bin wirklich 'ne dumme Kuh.«

Was wird Josephine wohl vorhaben? Hat Candice mit ihrer Vermutung recht? Bis gleich *-*

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