5.3 ♛ Kate
Ich seufze und lehne meine Wange gegen die eklige Blümchentapete, die sich an einigen Stellen bereits von der Wand gelöst hat.
Liam schaut kontrollierend in unsere Runde. Kaum zu glauben, dass ich ihn jetzt auch noch heiß finde. Wahrscheinlich, weil er mit seiner Waffe so bedrohlich wirkt. Ich wische den doofen hormonbasierten Gedanken beiseite, der in dieser Situation nur noch lächerlicher erscheint, und will gerade darüber nachdenken, wie beschissen das hier alles ist, und wie verdammt wir doch am Arsch sind, als Liam plötzlich ein Taschenmesser aus seinem Hosensack holt und uns mit einem verschwörerischen Ausdruck bedenkt.
»Hört mir gut zu«, beginnt er dann hastig und stürzt zuerst auf mich zu, um mich von meinem Kabelbinder zu befreien. »Ich weiß, wie ich euch da rausbringen kann.« Er robbt von mir zu Candice und schneidet auch ihren Kabel mit seinem Taschenmesser durch.
Perplex starre ich ihn an und sehe zu, wie er Josephine und Brandon nacheinander auch befreit. »Was?«, hauche ich ungläubig. »Du bist auf unserer Seite?«
»Das war ich schon immer. Nur weiß Mary davon nichts. Die anderen vertrauen mir nur, weil sie denken, dass ich dem Chester's Clan noch immer treu bin und ich mit Mary nur so getan habe, als würde ich euch helfen.«
»Also, das ist echt krass viel widersprüchlicher Inhalt«, seufze ich.
»Wie auch immer, wir dürfen keine Zeit verlieren«, faselt Liam angespannt. Er lässt seinen Blick durch die Runde schweifen und blickt jeden einzelnen von uns eindringlich in die Augen. »Am Ende des Flures gibt es ein Fenster, von dem aus eine Leiter nach unten führt. Das ist unsere einzige Fluchtmöglichkeit.«
»Aber das Gebiet ist doch noch immer von der Polizei abgesperrt«, widerspricht Josephine.
»Deshalb müssen wir unten wieder durch die Haustüre und von dort aus durch den geheimen Tunnel fliehen.«
»Ist der Tunnel am anderen Ende nicht bewacht?«, fragt Candice, die immer an alles denkt.
»Nein, Mary hat nur geblufft.« Liam grinst kurz in ihre Richtung.
»Und warum nehmen wir nicht einfach die Treppen runter?«, stelle ich nun die offensichtliche Frage in den Raum.
»Weil die Dielen viel zu laut knarzen und wir an dem Zimmer vorbei müssten, wo die anderen an einem Plan arbeiten. Außerdem sind die Treppendielen noch um einiges schlimmer. Die würden selbst ein schlafendes Dornröschen wecken.« Liam zwinkert mir mit einem schiefen grinsen zu.
»Sehr witzig«, kommentiere ich unbeeindruckt. Für einen kurzen Augenblick ist die Spannung des Moments aufgehoben und ich erinnere mich wieder an uns. An unsere Umgangsweise, die mir das Gefühl gibt, Kate Kingsman zu sein.
Natürlich ist dieser Moment im Bruchteil einer Sekunde wieder vorüber und wir überlegen angestrengt, wie der nächste Schritt aussehen soll.
»Wir müssen alle so leise wie nur möglich sein, der Boden ist an jeder Stelle laut und könnte uns verraten«, warnt uns Liam. »Und wir müssen etwas langsam sein, sonst erwecken wir Verdacht.«
»Ich habe Angst«, flüstert mir Josephine zu. »Ich habe so sehr Angst.«
In diesem Moment reißt mir endgültig der Geduldsfaden. »Verdammte Scheiße, jetzt reiß dich mal zusammen, Josephine!«, herrsche ich sie an. »Das ist ja kaum auszuhalten.«
»Kate«, weißt mich Candice in die Schranken, »sie ist sozusagen auf Entzug. Nimm etwas Rücksicht.«
»Halt endlich mal die Klappe, du Moralapostel«, zische ich, »Josephine hätte von Anfang an wissen müssen, dass es eine dumme Idee ist, sich diese Tabletten zu injizieren.«
Während Josephine mit verzweifelten Gesichtsausdruck einfach nur dasteht, kommt Candice auf mich zu. »Du denkst doch, dass hier alle Schuld tragen außer du. Was soll das eigentlich? Ich schätze eher, du bist hier diejenige, die hier alles ruiniert und zum Einstützen bringen wird.« Candice hat sich nun direkt vor mir aufgebaut. Da ich heute keine hohen Schuhe trage, wirkt sie größer als sonst.
»Denkst du nicht, dass ich dasselbe von dir behaupten kann?«, murre ich abfällig, »Du tust immer nur so unschuldig, Candice, dabei bist du die Schlimmste von allen.«
»Nein, Kate, du denkst immer nur an dich, das ist das Problem. Du verursachst Chaos und Verwüstung, aber das ist dir alles egal, solange du dabei gut wegkommst.«
In diesem Moment landet eine saftige Ohrfeige auf Candice' Wange. Es war einfach so ein Reflex, den ich nicht steuern konnte.
»Aufhören!«, geht Brandon dazwischen. »Alle beide.« Er schiebt uns mit seinen überraschend starken Armen auseinander.
»Verdammte Scheiße, sie kommen«, faselt Liam in der nächsten Sekunde nervös. »Schnell, alle auf den Boden und Hände hinter den Rücken.«
Das laute Knarzen auf dem Gang wird von polternden Schritten begleitet.
Wie von der Tarantel gestochen schwirren wir im Raum umher und versuchen uns auf den genau selben Fleck hinzukauern wie vorhin.
Liam rennt noch schnell durch den Raum, um alle Kabelbinder einzustecken, ehe er sich in Position bringt.
Mit klopfendem Herzen lausche ich dem Poltern und starre vor mich hin, als ich auf dem alten Holzboden noch einen letzen Kabelbinder vor mir sehe. Mit einer Schnellen Bewegung kicke ich ihn mit dem Fuß in die linke Ecke des Raums.
Im nächsten Moment schwingt auch schon die Tür auf und die bewaffnete Runde späht misstrauisch in den Raum.
»Was war das denn gerade?«, brüllt Mary mit Militärstimme.
»Die Gefangenen hatten eine kleine Auseinandersetzung«, berichtet Liam ihr mit einem bösen Grinsen auf den Lippen, »und ich habe sie wieder zur Vernunft gebracht.« Er deutet selbstzufrieden mit dem Kinn auf den roten Fleck, der sich auf Candice' Wange abzeichnet. Liam ist wieder voll in seiner Rolle als Mitglied des Clans.
Inständig bitte ich darum, dass Mary der Kabelbinder in der linken Ecke nicht auffällt.
»Gute Arbeit, Liam«, erwidert Mary.
»Sehe ich genauso.« Liam grinst so zufrieden, dass ich es ihm beinahe abnehmen würde. Er wirkt so sicher in seiner Rolle, dass ich einen Moment daran zweifle, dass er auf unserer Seite ist.
»Wir arbeiten nun weiterhin an unserem Plan und kommen dann wieder, wenn wir fertig sind. Was übrigens sehr bald der Fall sein wird.« Mary schmunzelt hämisch und zwinkert Liam zu. Bevor sie geht, lässt sie den Blick noch einmal durch den Raum schweifen.
Mein Herz klopft mir bis zum Hals, weil ich nur an den Kabelbinder denken muss. Ich ermahne mich selbst, nicht in die linke Ecke des Raumes zu blicken. Das könnte uns verraten.
Geschockt stelle ich fest, dass Josephine genau das tut. Verdammt, sie wird uns noch alles ruinieren!
Doch Gott sei Dank lässt Mary ihren Blick im nächsten Moment wieder zu Liam gleiten. »Bis gleich«, wispert sie.
Die Tür schließt sich und wir hören wieder diese Mischung aus Knarzen und Poltern auf dem Gang.
Erleichtert atme ich aus. Ich habe schon gedacht, wir wären erledigt.
Kurz darauf hören wir das Zuschlagen der anderen Zimmertür im Gang.
»Jetzt!«, flüstert uns Liam zu und auf sein Kommando stehen wir alle auf und bewegen uns mit langsamen, vorsichtigen Schritten zur Tür. Liam drückt die bronzene Klinke herunter und öffnet sie bedachtsam einen kleinen Spalt. Wie in einem Zeitraffer zieht er die Tür Zentimeter für Zentimeter immer etwas weiter auf.
Als das geschafft ist, treten wir nacheinander in Zeitlupentempo aus der Tür.
Ich bin gleich hinter Liam und kann bereits das Fenster am Ende des Flurs sehen. Es sind nur etwa zwei bis drei Meter, aber die Dielen im Gang knarzen noch lauter, als im Zimmer und wenn sie uns erwischen würden, dann hätten sie uns erledigt.
Nach etwa einer Minute ist Liam am Fenster angekommen und öffnet dieses wieder so langsam wie die Tür vorhin.
Er ist der Erste, der in die Nacht steigt und einen Fuß auf die Leiter setzt. Als ich am Fenster bin und hinunterblicke, erkenne ich, dass die Sprossen der Leiter direkt in die Hausfassade eingelassen sind und wahrscheinlich als Feuerleiter gedacht waren.
Ich will gerade einen Fuß in die kalte Dunkelheit setzen, als ich hinter mir im Gang, lautstark eine Tür aufschwingen höre. Wie erstarrt schnellen die Köpfe von uns allen nach hinten.
Den Flur runter steht ein bewaffneter junger Mann, der uns mit seinem Blick zu durchlöchern scheint.
»Nick?«, kommt es überrascht von mir und im nächsten Moment rutscht mir das Herz in die Hose. Er ist einer von ihnen, er wird uns verraten.
»Oh, Gott sei Dank, es ist nur Nick«, vernehme ich Liams Stimme durch das offene Fenster.
»Ist er etwa auch auf unserer Seite?«, flüstere ich zu Liam nach unten, der jetzt beinahe schon unten im Gras angekommen ist.
»Ja, und jetzt beeil dich!«, ermahnt er mich. »Die Leiter knarzt nicht.«
Nick verschwindet wieder im Zimmer und ich hebe meine Beine durch das Fenster.
Ich darf nur nicht auf den Boden blicken, sonst wird mir schwindelig. Die Sprossen sind kalt und der Lack ist bereits beinahe vollständig abgeblättert.
Nach Brandon ist Josephine die Letzte, die über die Leiter zu uns nach unten steigt.
Während wir um das Haus herumschleichen, stelle ich mir die Frage, ob wir Nick wirklich vertrauen können. Wenn ja, dann wäre das eine gute Sache. Ohne Liam wären wir aufgeschmissen gewesen und wer weiß, ob wir Nick vielleicht noch gebrauchen können. Jetzt, wo bald der ganze Chester's Clan weiß, dass Liam sie verraten hat.
Als wir an der Tür anbekommen sind, schlägt mein Herz noch lauter, als je zuvor. Die Angst, erwischt zu werden, ist so groß, dass ich ernsthaft überlege, mich einfach zu ergeben.
Im Inneren des Moshannon Manor angekommen, vernehmen wir die Stimmen der anderen aus dem oberen Stock. Wir müssen hoffen, dass niemand auf die Idee kommt, einmal in den unteren Stock zu gehen.
Liam ist als erster beim Eingang des Tunnels und hebt die viereckige Luke vorsichtig an.
Kaum sind alle die wackelige Leiter hinabgestiegen, beginnen wir zu laufen. Es ist eigentlich viel zu dunkel, weil nicht jeder seine Handytaschenlampe eingeschaltet hat, aber das ist mir in diesem Moment egal.
Ich laufe einfach nur, ohne darauf zu achten, ob sich mir ein Hindernis in den Weg stellen könnte. Ich vernehme nur meinen eigenen Atem, meine schnellen knirschenden Schritte und die der anderen.
Ich fühle förmlich wie mein Adrenalinspiegel steigt, als wir die Leiter am anderen Ende des Tunnels erreichen. So schnell ich nur kann, erklimme ich die eisernen Sprossen und als ich oben, an der frischen Luft, angekommen bin, fühle ich mich einfach nur frei.
»Und was nun?«, frage ich schulterzuckend an Liam gewandt, weil ich nicht weiß, was ich mit diesem plötzlichen Gefühl der Freiheit anfangen soll.
»Jetzt«, sagt Liam, »sind wir auf der Flucht.«
●●●
Wir fahren alle zusammen zu mir, weil mein Haus am besten gesichert ist. So schnell wird kein Mitglied des Clans versuchen, in das Anwesen unserer Familie, der Kingsman, vorzudringen. Kameras und andere Sicherheitsvorkehrungen wirken abschreckend.
Aber dann, als wir bei mir angekommen sind, kommt mir eine bessere Idee. Ich erkläre den anderen, dass sie vor dem Haus warten sollen und laufe dann schnurstracks hinein, um zum Arbeitszimmer meiner Mutter zu gelangen.
In der obersten Schublade ihres Schreibtisches bewahrt sie für gewöhnlich immer ihre ganzen Schlüssel auf.
Als ich sie in diesem Moment aufmache, eröffnet sich mir der Blick auf ein Meer von bunten Schlüsseln. Für was zum Geier braucht man so viele Schlüssel? Sie würden locker genügen, um alle Türen in gesamt Greyforks zu entriegeln.
Hecktisch beginne ich meine Hände in das Tief an Schlüsseln einzutauchen.
Ich muss mich beeilen, weil wir nicht viel Zeit haben, aber noch dazu habe ich Angst, dass mich meine Mutter erwischt.
Ich atme erleichtert aus, als ich den schwarzen Autoschlüssel gefunden habe. Es ist der für den Zweitwagen meiner Mutter, ein hoch gelegter olivgrüner Jeep, der ein unglaublich gutes Fahrgefühl hat. Jedoch suche ich noch einen zweiten Schlüssel, der viel schwieriger zu finden sein dürfte.
Meine Finger beginnen zu schwitzen und ich kann förmlich den Rauch sehen, der dabei aus meinen Ohren qualmt.
Ich könnte die gesamte Welt umarmen, als ich den silbernen Schlüssel mit rotem Griff endlich zwischen die Finger kriege.
Eilig laufe ich aus dem Zimmer und renne auf die Haustüre zu. Ich will sie gerade öffnen, als ich die nervenaufreibende Stimme meiner Mutter im Rücken vernehme.
»Nana, wohin so eilig?«
Verdammte Scheiße! Ich drehe mich langsam zu ihr um und blicke ihr so unverdächtig wie nur möglich entgegen. »Ich...ich mache nur noch einen kleinen Ausflug mit Brandon und meinen Freundinnen«, entgegne ich und es geht mir unglaublich auf den Zeiger, dass meine Stimme dabei etwas zittert.
»Soso«, meint meine Mutter mit verschränkten Armen vor der Brust. »Ich hoffe, du weißt, was du tust«, fügt sie noch mit einem geheimnisvollen Lächeln auf den Lippen hinzu und macht dann auf dem Absatz kehrt.
Perplex von der ungewöhnlichen Reaktion meiner Mutter halte ich kurz ratlos vor der Tür inne, ehe ich verwirrt den Kopf schüttle und in die Nacht hinaustrete.
Die anderen warten bereits vor dem Auto von Brandon, doch ich gehe zielstrebig an ihnen vorbei und schüttle den Kopf.
»Was hat sie denn jetzt wieder geritten?«, kommentiert Liam verwirrt und schüttelt den Kopf.
Schließlich bleibe ich neben dem hohen Jeep meiner Mutter stehen und blicke den anderen entgegen.
»Dieses Auto wird Eckstein nicht erkennen.« Stolz verschränke ich die Arme vor der Brust und sehe insbesondere Liam dabei an.
»Ich geb's ja zu, die Idee ist nicht so scheiße, wie ich gedacht habe.« Er hebt ergeben die Hände.
»Wohin fahren wir denn überhaupt?«, fragt Josephine von der Rückbank, als ich gerade den Motor gestartet habe und die lange Auffahrt bis zum Tor runterfahre.
»Ich bringe euch zum Sommerfrischehaus der Kingsman in den wunderschön romantischen Hügeln von Chester Hill«, verkünde ich theatralisch.
»Dir ist schon klar, dass unsere Eltern uns umbringen werden?«, meint Brandon neben mir und schüttelt den Kopf.
»Da werde ich lieber von meinen Eltern umgebracht als von Eckstein«, schieße ich zurück und ich weiß, dass der gesessen hat. Ich erkenne es daran, dass ich das letzte Wort habe.
Zufrieden schleicht sich ein Schmunzeln auf meine Lippen.
Unser Sommerfrischehaus ist eine moderne Holzhütte in der Größe eines Einfamilienhauses, das ganz oben auf einem der Hügel errichtet wurde. Von der Terrasse mit Pool aus hat man einen wunderbaren Blick über Chester Hill.
Die Bäume, die rundherum wachsen, haben am Tag eine beruhigende und beschützende Wirkung. In der Nacht jedoch wirken sie eher bedrohlich und furchteinflößend. Die moderne Beleuchtung rundherum bringt hier auch recht wenig. Der restliche Wald erscheint dadurch nur noch viel dunkler.
Doch dann sagt Brandon doch etwas. »Ich sage das nur ungern, aber du bist echt clever, Kate. Dafür hab ich dich schon immer bewundert.«
Und in diesem Moment kommt mir ein Gedanke. Eigentlich könnte ich bei meinen tyrannischen Eltern einen Bruder wie Brandon gut gebrauchen. Ich meine, einen Bruder, mit dem ich zusammenhalte.
●●●
Ich schaue durch die große Fensterfront vor der Terrasse mit wunderbarem Panoramablick über Chester Hill.
Brandon steht draußen an das gläserne Geländer gelehnt da und schaut über das Meer aus Lichtern.
Kurz überlege ich, zu ihm zu gehen, doch dann kommt mir plötzlich Mary in den Sinn.
Wenn ich so über sie nachdenke, hätten wir als Freundinnen nie so wirklich gut zusammengepasst. Wir sind beide etwas zu herrisch und wir wollen beide immer im Mittelpunkt stehen. Und in der goldenen Mitte ist eben nur Platz für einen.
Während ich so über unsere kurze Freundschaft reflektiere, vergesse ich dabei beinahe, dass sie zu Ecksteins Leuten gehört und womöglich eine Mörderin ist.
Das Leben ist schon verrückt. Es ist so unglaublich normal und alltäglich, genau bis zu dem Zeitpunkt, an dem schließlich etwas völlig Verrücktes passiert. Und in Sekundenschnelle ist es so, als wäre es nie anders gewesen.
Ich habe keine Ahnung, warum, aber im nächsten Moment höre ich auf, an Mary zu denken und schiebe die gläserne Terrassentür leise auf.
»Der Ausblick ist wunderschön, nicht wahr?« Ich trete von hinten an Brandon heran und lehne meinen Oberkörper neben ihm gegen das Geländer. Der leichte Wind streicht mir die vorderen Haare sanft aus dem Gesicht.
Die gesamten Lichter von Chester Hill erstrecken sich unter uns und funkeln mit dem Sternenhimmel um die Wette.
»Bestimmt werden wir von vielen beneidet«, stimmt mir Brandon zu.
Eine Pause entsteht, in der wir die Magie des Moments auf uns wirken lassen.
»Aber sie haben ja keine Ahnung, was es bedeutet, ein Kingsman zu sein«, sagt er dann kopfschüttelnd.
Ich lache verbittert auf und nicke zustimmend. »Nein, haben sie nicht.«
»Aber wir beide schon«, beteuert Brandon dann.
Zuerst glaube ich, dass er ganz in Gedanken versunken sein muss, weil es beinahe wie eine Wiederholung klingt, aber dann verstehe ich den Inhalt seiner Worte.
Es geht um uns beide. Seine Worte sind nichts anderes als ein Aufeinanderzugehen, nichts anderes als ein Friedensangebot.
Ich lächle und spüre, wie mir die Tränen in die Augen schießen. Verdammte Scheiße, ja, wir sind beide Kingsman und wir müssen zusammenhalten. Das Leben ist schon hart genug.
»Weißt du«, sage ich dann, »du bist gar nicht so übel.«
Brandon schenkt mir ein Lächeln. »Du dagegen bist allerdings sehr übel.« Seine Lippen formen sich zu einem verschmitzten Grinsen.
»Was?!«, hauche ich verständnislos.
»Calm down, das war doch nur ein Scherz«, lacht er.
Ich versetze ihm einen Stoß in die Rippen. Aber ich kann mir ein Grinsen einfach nicht verkneifen.
»Ich wünsche mir wirklich, dass du es schaffst, kleiner großer Bruder. Ich wünsch es dir von ganzem Herzen«, sage ich dann in die Nacht hinaus. Und zum ersten Mal habe ich sowas wie Vertrauen in meinen Bruder. Er wird das schon machen. »Und mit einer so brillanten Frau an deiner Seite, stehen die Chancen gut, dass du eines Tages die ganze Welt eroberst«, füge ich dann noch hinzu und sehe ihm lächelnd entgegen.
In diesem Augenblick meine ich sowas wie Tränen in seinen Augen aufblitzen zu sehen, aber ich könnte es mir natürlich auch nur einbilden. »Ja, Candice ist wirklich die brillanteste Frau, die ich je kennengelernt habe.« Er sieht verträumt und glücklich in die Ferne.
»Ich meine doch mich, du Idiot«, entgegne ich.
Brandons Blick huscht verwirrt zu mir und nimmt einen entschuldigenden Ausdruck an.
»Ha-ha«, lache ich auf, »du solltest mal deinen Gesichtsausdruck sehen. Natürlich meine ich Candice.«
Und in diesem Augenblick weiß ich, dass dies das Ende einer Eiszeit ist. Nein, stopp, eigentlich weiß ich es gar nicht. Ich hab es nur so im Gefühl. Aber das ist völlig ausreichend. Das war es schon immer.
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»Kate!«, vernehme ich plötzlich die aufgeregte Stimme von Josephine aus dem Haus. »Kate, Kate, ich weiß es jetzt!«
Überrascht drehe ich mich zusammen mit Brandon zu ihr um. Josephine kommt auf uns zugelaufen und atmet unkontrolliert.
»Josephine, was weißt du?«, hacke ich erwartungsvoll nach.
»Ich habe herausgefunden, wer Will Caporale umgebracht hat«, erklärt sie und mit geschocktem Ausdruck.
Ich sehe sie an, um zu prüfen, ob sie noch ganz dicht ist. Vielleicht sind dies Entzugserscheinungen ihrer Pillen. »Josephine, das wissen wir doch bereits. Es war sein Bruder«, erkläre ich ihr ruhig, um sie wieder etwas runterzubringen.
»Jaja, das wissen wir, ich weiß«, winkt sie ab. »Aber ich habe mal so etwas vor mich hingeträumt und an diese schöne Holzdecke hier gestarrt«, sie deutet nach drinnen an die Decke, »und dann ist mir die Erleuchtung gekommen.«
»Was zum Henker, war deine Erleuchtung?«, hake ich unruhig nach, weil es mich etwas nervös macht, dass sie nicht zuerst Candice davon erzählt hat.
»Dein Familienname ist Kingsman, Kate. Und ihr habt in Greyforks weit und breit keine anderen Verwandten, hab ich recht?«
»Ja, hast du...«, stimme ich ihr zu, obwohl mir dabei alles andere als geheuer ist.
»Und ich hab mich so gefragt, was Caporale eigentlich bedeutet.«
»Was, warum? Nachnamen verraten inzwischen nichts mehr über eine Familie«, entgegne ich und bin stolz, dass ich einmal etwas besser weiß, als Josephine.
»Nein, aber in diesem Fall war es der Goldtreffer.«
»Josephine, komm auf den Punkt!«, herrsche ich sie plötzlich an, weil ich das nicht mehr aushalte.
»Ich hab also das Wort Caporale ins Englische übersetzt und dabei kam über einige Umwege das Wort Kingsman heraus.«
»Was soll das bedeuten, Josephine?«, frage ich sie nun ängstlich, weil ich so ein unglaublich komisches Gefühl dabei in der Magengegend habe.
»Dass du eine Caporale bist, Kate«, teilt sie mir mit Gesten betont mit. »Dein Urgroßvater war ein Mörder.«
Das war mal ein langes Kapitel. Ich hoffe, das freut euch, denn die nächsten Kapitel werden auch etwas länger sein. In ein Kapitel mit normaler Länge hätte der Inhalt einfach nicht gepasst 🙈. Wir sehen uns gleich im nächsten Kapitel *-*
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