4.6 ☾ Josephine
»Jo, ich hab Will Caporales Grab gefunden«, ertönt die Stimme von Candice aufgeregt, als ich den Anruf entgegennehme.
»Was?«, entfährt es mir ungläubig. Tausend Gedanken rasen in diesem Moment unkontrolliert durch meinen Kopf. »Wir müssen dorthin, Candice!«
»Wir sollten auf den nächsten Tag warten, Jo. Leg dich etwas schlafen, morgen ist Schule.«
»Candice, hat man dir ein Beruhigungsmittel injiziert, oder warum bist du so ein Weichei geworden?«, zische ich in den Hörer, während mein Herz unkontrolliert zu pochen beginnt.
Eine kurze Pause, die durch ein Rauschen begleitet wird, entsteht am anderen Ende der Leitung. Als ich gerade auflegen will, ertönt die Stimme von Candice doch noch. »Gut, ich bin ohnehin bei Kate, wir sind in zehn Minuten bei dir.« Dann legt sie auf.
●●●
Nach einer viertel Stunde klingelt es tatsächlich an der Haustür.
Ich sehe hinaus in die Nacht und vor mir, auf der Veranda, schaue ich von Candice zu Kate und von Kate zu — Brandon!
»Was hat er hier zu suchen?«, hake ich etwas mürrisch nach und deute auf Kates jüngeren Bruder, der zur selben Zeit Candice' Lover verkörpert.
»Er weiß das mit Eckstein«, erklärt mir Candice, als wäre es das Normalste auf der Welt.
»Was?!«, entfährt es mir ungläubig. »Du hast es ihm erzählt? Bist du verrückt geworden?«
»Siehst du, Josephine ist auch auf meiner Seite«, seufzt Kate und blickt mit rollenden Augen zu Candice.
»Hey, Leute, ich bin auch noch hier«, regt sich Brandon auf. »Außerdem könnt ihr mir vertrauen. Ich werde das bestimmt keinem sagen.«
»Genau«, stimmt ihm Candice zu, »außerdem können wir einen Kerl echt gut gebrauchen.«
»Ich dachte ja, dass wir dich dafür haben«, kommentiert Kate grinsend und nickt Candice zu.
»Ha-ha, Kate, wirklich witzig«, entgegnet diese.
Dann treten die drei plötzlich über meine Türschwelle.
Verwirrt sehe ich ihnen entgegen. »Wollten wir nicht gleich zum Grab fahren?«
»Jo, wir sind hier, weil wir uns Sorgen um dich machen«, erklärt Candice mit ihrem weichen Ton und schließt die Tür hinter sich ab.
»Waaaas?«, murmle ich vorsichtig, trete einen Schritt zurück und hoffe inständig, dass sie nicht in mein Zimmer wollen. Mir fällt nämlich gerade ein, dass ich ganz vergessen habe, die Schachtel mit der Spritze, den Tabletten und allem Zugehörigen zu verstecken.
»Wir wollten dich fragen, ob wir deine Pillen noch einmal sehen könnten. Brandon kann uns vielleicht sagen, ob eine Überdosis von denen tödlich sein kann«, meldet sich Kate in einem seltsam nüchternen Ton.
Ich spreche es nicht laut aus, aber Brandon kann uns bestimmt nichts beibringen. Er ist viel zu dumm dafür. »Gut, ich werde sie aus meinem Zimmer holen«, sage ich stattdessen, weil es die perfekte Möglichkeit ist, um alles noch rechtzeitig verschwinden zu lassen.
Ich will mich schon umwenden und schnell die Treppen hochzuhasten, als Candice mir folgt.
»Ich komme mit dir«, sagt sie.
»Warum?«, kommt es unerwartet bedrohlich aus meinem Mund geschossen, sodass Candice für einen Augenblick erstarrt.
»Weil du die Pillen anscheinend selbst nimmst, verdammt!«, schreit Kate plötzlich.
Mein Herz klopft mir bis in den Hals, als ihre Worte mich erreichen. Völlig erstarrt stehe ich auf der dritten Stufe der Treppen und blicke auf die besorgten und etwas wütenden Gesichter meiner Freunde herab.
Die Gedanken in meinem Kopf überschlagen sich. Ich muss einen Weg finden, um es ihnen doch noch zu verheimlichen und sie davon zu überzeugen, dass mit mir alles in Ordnung ist.
»I...ich weiß nicht, wie du darauf kommst, Kate. Du weißt, dass ich niemals Drogen nehmen würde«, versuche ich ihr so überzeugend wie nur möglich klarzumachen.
»Dann lass uns in dein Zimmer«, verlangt sie.
»A...aber«, will ich noch ansetzen, doch Kate nimmt schon die erste Stufe und schiebt sich sogleich an mir vorbei.
»Kate!«, rufe ich ihr verzweifelt hinterher und versuche mit letzter Kraft, ihr nachzukommen.
Als ich im ersten Stock bin, sehe ich wie Kate mitten in meinem Zimmer steht und sich suchend nach allen Seiten umsieht. Auf dem Schreibtisch wird sie schließlich fündig.
Ich stehe wie versteinert im Türrahmen, während sie atemlos alle Gegenstände in der Schuhschachtel unter die Lupe nimmt. Brandon und Candice erscheinen hinter mir und stürzen erschrocken an mir vorbei, ins Zimmer.
Im nächsten Moment richten sich alle Augenpaare auf mich.
Meine Lippen beginnen unkontrolliert zu zittern und in meinem Hals steckt ein dicker Kloß. Ich will etwas sagen, doch aus meiner Kehle dringt nicht einmal ein Laut.
Es ist Candice, die auf mich zukommt und mich einfach in ihre Arme schließt. »Wir schaffen das«, flüstert sie.
In diesem Moment beginne ich zu schluchzen. Ich weiß nicht, was genau es ist, aber ich denke, es ist ihre fürsorgliche Art, die meine innersten Gefühle an die Oberfläche treibt. »Ich wollte euch doch nicht belügen«, weine ich. »Es tut mir leid.«
»Ist ja gut«, flüstert Candice beruhigend, »ich weiß, dass du es nicht böse gemeint hast.«
●●●
Ich schlage meine Augen auf und blinzle in die dämmerige Dunkelheit. Graue Punkte tanzen vor meinen Augen.
Offenbar hat mein Wecker noch nicht geläutet. Ich habe also noch Zeit für etwas Schlaf. Als ich mich auf die andere Seite meines Bettes drehen will, um weiterzuschlafen, erstarre ich.
Jemand liegt neben mir.
Es ist ein Mensch. Er atmet.
Panisch schrecke ich hoch und springe aus dem Bett.
Der Kopf des Menschen dreht sich im Halbdunkeln zu mir und in diesem Augenblick erkenne ich, dass es sich um Candice handelt.
Erst jetzt fällt mir ein, dass Kate und Brandon gestern Nacht nach Hause gefahren sind und Candice bei mir geblieben ist.
»Jo, was ist?«, murmelt Candice verschlafen.
»Nichts«, entgegne ich mit etwas zittriger Stimme, »war nur auf Toilette.«
Dann lege ich mich wieder unter die warme Bettdecke und geleite in einen unruhigen Schlaf.
●●●
Nach meiner Schicht im Tierheim und Candice' und Kates Schicht im Altenheim, treffe ich mich mit den beiden und Brandon auf dem Parkplatz. Diesmal fahren wir in Brandons Auto, bei dem ausnahmsweise Candice auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat.
»Wie war eigentlich euer erster Tag wieder im Altenheim?«, frage ich, gleich nachdem wir uns begrüßt haben und ich mich neben Kate auf die Rückbank gesetzt habe.
»Ganz okay soweit«, entgegnet Candice und sieht mich durch den Rückspiegel an. »Es ist nur etwas komisch...«
»Das glaub ich dir.« Ich kann mir nicht ausmalen, wie es für sie sein muss. Die Gedanken an die verstorbene Mrs. Campbell, die wahrscheinlich auch noch ihre Großmutter war.
»Aber wir haben herausgefunden, dass Logan uns nicht belogen hat«, verkündet Kate. »Seine Großmutter hat ihn wirklich mit einem Strauß Blumen zum Grab von Mrs. Campbell geschickt.«
Candice lacht. »Das war das erste Mal, dass ich dich mit einem alten Menschen hab reden sehen.«
»Und du bist eine Heilige, oder was?«, blafft sie.
»Im Gegensatz zu dir schon, Kate«, lacht Brandon.
Normalerweise würde ich bei diesen spaßigen Wortgefechten zufrieden vor mich hingrinsen, und der Unterhaltung interessiert folgen, doch ich bin einfach zu erschöpft. Ich fühle mich so schwach, wie schon lange nicht mehr.
»Wie geht es eigentlich dir?«, fragt mich Candice dann besorgt.
»Wenn man meine Situation bedenkt, ganz okay, schätze ich.«
Sie nickt nur, doch ich weiß, dass sie sich in den nächsten Tagen intensiv um mich kümmern wird.
»Warum hast du Mary und Liam eigentlich nicht mitgenommen?«, frage ich an Kate gewandt, obwohl ich froh bin, dass Mary nicht da ist.
Kate blickt mir ertappt entgegen. »Ach, keine Ahnung, das letzte Mal als wir uns gesehen haben, da ist es irgendwie nicht so gut gelaufen...« Dann schweigt sie wieder. »So 'n Cheerleader-Problem eben.«
Ich nicke, obwohl ich weiß, dass mehr dahinter steckt. Beinahe hoffe ich, dass sie sich zerstritten haben. Denn auch wenn sie mich aus dem Knast befreit hat, ist es viel schöner ohne Mary.
Es ist bereits früher Abend und die Dämmerung hat bereits eingesetzt. Eigentlich hatte ich gehofft, bei Tag auf dieses Grab zu gehen, doch anscheinend läuft es zu meinem Pech immer auf die Nacht hinaus.
Auch wenn ich wirklich kein Fan von Schwänzerei bin, hätten wir während der Schulzeit hingehen sollen. Naja, immerhin habe ich im Archiv der Schulbibliothek herausgefunden, dass Will Caporale von seinem Bruder ermordet wurde. Das ist zwar wirklich etwas heftig, aber es könnte ein wichtiger Hinweis sein.
»Da ist es«, sagt Brandon plötzlich und stellt den Motor ab.
Ich schrecke aus meinen Tagträumen hoch und folge den anderen aus dem Wagen.
»Aber das ist doch gar nicht der Friedhof von Greyforks«, werfe ich verwirrt ein.
»Wir haben den alten Friedhof gefunden«, entgegnet Candice mit leuchtenden Augen und zieht mich mit sich.
Nach kurzer Zeit ist es bereits dunkel und Brandon macht die Taschenlampe seines Handys an.
Wir stapfen durch kniehohes, vertrocknetes Gras, ehe sich etwa augenhohe Büsche vor uns erheben.
»Dahinter ist der Friedhof«, flüstert Candice und zerrt mich ohne zu fragen mit durch den Busch.
Was ich dann sehe, ist so ziemlich das gruseligste Bild, das ich mir vorstellen kann. Verwitterte Grabsteine ragen im weißlichen Licht des Mondes wie schiefe Zähne aus dem Unkraut verwachsenen Boden.
Candice zerrt mich zielstrebig auf eines der Gräber zu. »Da ist es«, verkündet sie.
Und tatsächlich. Die Taschenlampe von Brandon gleitet unruhig über den abgenutzten Grabstein, dessen eingravierte Lettern unmissverständlich Will Caporale bedeuten.
»Unglaublich«, flüstere ich.
»Komisch«, sagt Candice nach ein paar Augenblicken, nachdem sie das Grab ebenfalls aufmerksam studiert hat. »Der Grabstein am Boden war letztes Mal noch nicht so schief.«
Brandon starrt ebenfalls angestrengt auf die verschließende Luke unter dem Grabstein.
Plötzlich geht Kate näher an das Grab heran und tritt mit ihrem Fuß dagegen.
»Spinnst du, Kate?«, fährt Brandon sie an, »du kannst doch nicht einfach...«
Doch er kommt nicht weiter, denn da hat Kate dem Grabstein schon einen weiteren Tritt verpasst. Diesmal ertönt ein lautes Geräusch und der Stein schiebt sich zur Seite.
Kate Grinst zufrieden in die Runde, als sich unter der Erde ein Loch auftut.
Mit einem weiteren Tritt, offenbart sich uns ein Schacht, dessen Leiter in stockdunkle Tiefe führt.
»Scheiße«, entfährt es Candice ungläubig, »das kann doch nicht wahr sein.«
»Leute«, flüstert Kate aufgeregt »das hier ist ein geheimer Tunnel.«
Und schon wieder bin ich etwas fies zu euch 🙈 Das hier war das letzte Kapitel der Folge und somit ist auch die Lesenacht zu Ende. Ich bedanke mich sehr an allen die dabei waren, kommentiert und gevoted haben.
Jetzt ist meine Frage, wie ihr die Lesenacht fandet? Sollte ich die nächste Folge auch in einem Mal veröffentlichen?
Die nächste Folge ist übrigens voraussichtlich das Finale der zweiten Staffel und auch das Ende von Greyforks. Bis jetzt habe ich ungefähr etwas mehr als die Hälfte der Folge geschrieben. Jetzt bleibt nur noch die Frage, ob alles in einer Folge Platz findet.
Ich wünsche euch noch einen wunderschönen Sonntagabend,
eure Anna Vanilla ⭐️
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