4.4 ♌︎ Candice

»Du siehst irgendwie total fertig aus«, kommentiere ich mit einem Blick auf Jos eingefallenes Gesicht, als wir auf dem Weg in die Turnhalle sind. Ihre blasse Haut wirkt jetzt irgendwie gräulich und ihre Wimperntusche wirkt viel zu dunkel und leicht verschmiert.

»A...alles okay«, beteuert sie mit glasigen Augen, die sie noch müder wirken lassen.

Ich beschließe, dass es im Moment besser ist, sie jetzt in Ruhe zu lassen, aber ich werde sie im Auge behalten. Wahrscheinlich schläft sie so gut wie gar nicht mehr.

Es ist Nachmittag und weil unsere Kurse wegfallen, haben wir entschieden, Kate einmal in Action zu sehen.

Als wir durch die schwere Tür kommen, dringt uns sogleich die laute Stimme von Mary entgegen. »Und fünf, sechs, sieben, acht!«, brüllt sie wie eine Generalin im Krieg.

»Die hat aber ganz schön einen Ton drauf«, flüstert mir Jo zu während wir die Treppen der Tribüne auf der rechten Seite hochsteigen.

Auf dem gesamten Feld sind weinrot-weiße Cheerleaderuniformen zu sehen, die sich rhythmisch zur Musik bewegen. Naja, einige rhythmischer, andere weniger.

»Dass sich Kate überhaupt von jemand etwas sagen lässt, hätte ich nicht gedacht.« Ich gluckse, als ich mich neben Jo niederlasse.

Jo lacht ebenfalls und nickt. »Das muss ich festhalten.«

Auf der Tribüne sitzen nur zwei andere Zweiergruppen, die sich in einigem Abstand zu uns niedergelassen haben. Ist ja auch nur eine Probe und die meisten haben um diese Zeit ohnehin noch Unterricht.

Bei den Songs handelt es sich teils um klassische Gute-Laune-Hits aus den Charts, teils um etwas speziellere Lieder wie Grrrls von AViVA.

Ich beobachte, wie Kate versucht, mit den anderen mitzukommen, aber weil sie krampfhaft versucht, sich immer im besten Winkel zu zeigen, ist sie nicht so konzentriert wie die anderen.

Ich muss lachend den Kopf schütteln. Das ist so typisch Kate. Wahrscheinlich hatten die Cheerleader damals nichts gegen sie persönlich, sondern haben sie einfach nur nicht genommen, weil sie zu schlecht war. Nur, dass dadurch ein kalter Krieg zwischen den beiden Parteien ausgebrochen ist. Jetzt, mit der Vereinigung von Mary und Kate scheint das aber alles Schnee von gestern zu sein. Es wirkt so, als wäre alles wieder in bester Ordnung, nur habe ich so das böse Gefühl, dass dies alles ein großes Trugbild ist.

●●●

Am liebsten würde ich Brandon alles erzählen. Von unserem ersten Ausflug zum Moshannon Manor, von den Morden, bis zu Eckstein und den Snaps. Es ist unheimlich aber seit Tagen haben wir keinen neuen Snap mehr von ihm erhalten.

Wenigstens das mit meinem Vater möchte ich ihm sagen. Er sollte es wissen. Ich will es jemandem erzählen, der nicht selbst durchdreht, oder es mir versucht auszureden. Und dieser jemand wäre Brandon, das weiß ich.

Heute war ich nach der Schule mit Kate wieder einmal im Altenheim und habe die Stunden abgearbeitet. Sie hat mich anschließend nach Hause gefahren, auch wenn sie mir des Öfteren angeboten hat, bei ihr zu übernachten.

Ich hätte ihr Angebot wohl annehmen sollen, denn jetzt sitze ich allein am Fenster in meinem kleinen Zimmer und starre zum sternenübersäten Himmel. Noch nie in meinem Leben hab ich mich so verdammt allein gefühlt. Allein in einem leeren Haus, zusammen mit einer Tasche mit hunderttausenden Dollar in bar.

Ich schätze, vielleicht wollte ich nur einmal spüren, wie sich das anfühlt. Wie es sich anfühlt, wenn ich die Hilfe der anderen nicht mehr annehme. Und in diesem Moment vermisse ich meinen Vater. Nach dem Tod meiner Mutter hab ich mir immer nur gewünscht, er wäre weg, aber jetzt, wo ich weiß, dass er nicht mehr wiederkommen wird, weiß ich, dass ich ihn gebraucht habe. Er hat Mum genau so sehr geliebt wie ich. Und ich habe mich getäuscht. Es ist nicht so, als würde sie wieder leben, wenn er weg ist. Auch wenn es grausam ist, manche Dinge weiß man erst, wenn sie unumkehrbar sind.

Ich stütze meine Unterarme auf das Fensterbrett und lasse mein Kinn darauf sinken und blicke auf die verlassene Straße unter mir. Nichts bewegt sich. Nur die Straßenlampe links von mir hat einen Wackelkontakt, weshalb sie alle paar Sekunden etwas flimmert.

Es ist mir nicht einmal zum Heulen zumute. Ich fühle nur noch die Einsamkeit, wie sie bis in meine Knochen dringt. Es ist eine Sache, allein zu sein, aber sich allein zu fühlen ist das schlimmste Gefühl der Welt.

Ich sollte besser schlafen gehen. Dann kommen mir die nächtlichen Stunden nicht so lang vor.

Ich will meinen Blick gerade von der Straße abwenden und mich schlafen legen, als ich Scheinwerfer bemerke, die mich blenden. Kurz lodert ein Hoffnungsschimmer in mir auf, doch dann stelle ich fest, dass ich das Auto gar nicht kenne.

Umso verblüffter bin ich aber, als es in meiner Auffahrt hält. Es sieht dem von Kate vom Modell her ähnlich. Es ist etwas höher und statt schwarz weiß.

Wer mag das wohl sein? Ein Verbündeter von Eckstein? Das Auto sieht respekteinflößend aus.

Mit schlotternden Knien und klopfendem Herzen laufe ich die Holztreppen nach unten und stiere durch den Spion.

»Brandon!«, hauche ich und reiße die Tür auf.

»Hey.« Er lächelt mir warm mit seinen Sommersprossen entgegen.

In diesem Augenblick falle ich ihm um den Hals und schluchze so sehr, dass es mich heftig schüttelt. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so sehr geweint zu haben. Aber Brandon hält mich fest, ohne sich von mir zu lösen.

Ich fühle seine starken Schultern, seine beschützenden Arme und schmecke seinen vertrauten Duft. Ich habe ihn so sehr vermisst.

Nach einer Weile löse ich mich von ihm und blicke ihm mit meinen verweinten Augen entgegen. »Warum...?«, will ich beginnen, doch er hält mir den Finger vor den Mund.

»Ich hab dich vermisst«, gesteht er. »Und ich habe es Kate angesehen, dass etwas nicht stimmt. Also, was ist los?«

»Wollen wir nicht woanders hin fahren?«, frage ich. »Ich halte es hier nicht mehr aus.«

»Sehr gern, wie wär' es, wenn wir zum See fahren, an dem wir uns das erste Mal geküsst haben?«

»Das finde ich eine gute Idee«, entgegne ich lächelnd. Irgendwie fühlt es sich in diesem Moment so an, als würde alles wieder gut werden. So wie wenn man als Kind ein Eis geschenkt bekommt und sich anschließend einen Disneyfilm ansehen kann.

»Was ist das eigentlich für ein Auto?«, frage ich verwirrt an Brandon gewandt, als ich mit ihm im geheizten Inneren sitze.

»Das ist der neue Tesla meines Vaters«, entgegnet er schlicht.

»Und den darfst du dir einfach so nehmen?«, frage ich verwirrt.

»Ich bin angehender Firmendirektor, schon vergessen?«, fragt er mich grinsend.

Ich nicke schweigend. Beinahe bin ich etwas gekränkt, weil ich so wenig von seinem Leben mitbekomme. Ich bin aber auch wütend auf mich und fühle mich schuldig, weil ich ihn so wenig nach seinem Tag frage.

»Wie...wie war dein Tag?«, frage ich dann, um einen Anfang zu versuchen.

»Ganz gut, schätze ich«, entgegnet er grinsend.

»Ich wollte aber alles wissen, die ganze Geschichte, weißt du...«

Auf Brandons Gesicht schleicht sich ein noch breiteres Lächeln. »Gut, dann erzähle ich dir diese spannende Geschichte.«

●●●

Am See ist es still wie immer. Wenn ich Brandons Hand nicht gehalten hätte, wäre ich vor Angst wahrscheinlich gestorben.

Wir setzen uns auf die Bank vom letzten Mal und lassen unsere Blicke über den See geleiten.

»Willst du mir jetzt erzählen, was los ist?«, fragt Brandon und macht sich eine Kippe an.

Vom Gebüsch hinter mir, vernehme ich in diesem Moment ein Geräusch, doch als ich mich umdrehe, ist da nichts. Es muss bloß ein Tier gewesen sein, also werde ich mich wieder zu Brandon. »Es geht um meinen Vater«, beginne ich und dann erzähle ich ihm die ganze Geschichte. Nur das mit dem Geld und die Verbindungen zu Eckstein lasse ich weg.

»Wow, das muss echt schwierig für dich sein«, meint Brandon schließlich und streicht mir eine Locke aus dem Gesicht.

Ich lache verbittert auf und schüttle den Kopf. »Ich habe dir neulich von meiner Mutter erzählt, als wäre sie ein Engel. Aber jetzt stellt sich heraus, dass ich anscheinend rein gar nichts über sie wusste. Das Bild, das ich von ihr hatte war eine einzige Lüge.« Ich starre wieder auf den ruhigen Teich hinaus, ehe ich wieder zu Brandon blicke. »Du solltest mich so langsam nach Hause bringen, meinst du nicht?«

»Candice, ich lasse dich ganz bestimmt nicht allein in diesem Haus. Wir sollten bei mir schlafen.« Brandon streicht mir zärtlich über meinen Oberschenkel.

Zu meiner eigenen Überraschung nicke ich, ohne mich dagegen zu wehren. Ich schätze, ich will mich einfach nicht mehr so schrecklich allein fühlen wie vorhin.

Wir stehen auf und gehen händchenhaltend zu seinem Wagen zurück. Diesmal gehen wir allerdings um die andere Seite des Sees, weil der Hinweg vom Regen noch ziemlich matschig war. Wir teilen die Hoffnung, dass der Rückweg in besserem Zustand ist.

Das Licht des Mondes reicht aus, um etwas erkennen zu können, also verzichten wir auf die grellen Lichter unserer Smartphones.

Als wir fast da sind, erkenne ich zwischen den Büschen plötzlich Erhebungen, die in regelmäßigen Abständen aus dem verwachsenen Gras emporragen.

»Warte kurz«, flüstere ich zu Brandon und lasse seine Hand los, um auf die Lichtung zuzusteuern. Und als ich meinen Kopf durch das Gebüsch stecke, bleibt mir der Atem beinahe stehen.

Lauter Grabsteine ragen aus dem verwachsenen Boden und werfen im Licht des Mondes kalte Schatten auf die Erde.

»Verdammte Scheiße, das ist ein Friedhof«, zische ich und fühle im selben Moment, dass Brandon hinter mir steht.

Dann laufe ich auf einen der Grabsteine zu und versuche die Inschrift zu lesen. Als ich die Buchstaben vor mir zusammensetze, setzt mein Herz einen Schlag aus.

Genau unter mir liegen die Überreste von Will Caporale begraben.

Ich will Brandon schon sagen, dass wir den Mann gesucht haben, als das Handy in meiner Hosentasche vibriert. Zitternd greife ich danach und sehe einen Snap von Eckstein aufblitzen.

In diesem Moment ist mir völlig egal, dass Brandon gerade neben mir steht. Es ist längst Zeit, ihn in die Sache mit Eckstein einzuweihen.

Ich öffne den Snap und erstarre.

Auf dem Foto sind Brandon und ich auf der Bank am See zu sehen. Die Bildunterschrift lautet »Ziemlich mutig, sich auf Eckstein-Territorium zu begeben.«

Brandon erfährt endlich von Eckstein! Candice hat es wirklich sehr gut hingekriegt, all das so lange vor ihm zu verheimlichen.

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