»Verdammt, das müssen mehrere hunderttausend Dollar sein.« Candice lässt ihre Finger durch die Scheinbündel gleiten.
»Oh ja, und das Geld sieht nicht sauber aus.« Ich schütte den Kopf und versuche irgendeinen Zusammenhang herzustellen. »Woher, meinst du, kommt das Geld?«, stelle ich die Frage an Candice, um mir nicht mehr selbst den Kopf zermartern zu müssen.
»Wer mir als erstes einfällt, ist Eckstein. Gut möglich, dass es eine Falle von ihm ist.« Candice dreht sich zu mir um und reibt sich nachdenklich die Nase. »Eckstein wird uns immer einen Schritt voraus sein, nicht wahr?«
»Sieh mal da!«, rufe ich aus, ohne auf ihre philosophische Frage einzugehen. Ich deute auf einen Umschlag, der unter der Tasche klemmt, den wir bis dato noch nicht entdeckt haben.
Candice greift nach dem cremeweißen dicken Kuvert und öffnet es, was dieses typische Reibegeräusch verursacht. Sie zieht ein Stück zusammengefaltetes Papier heraus. Ich kann beobachten, wie ihre Pupillen fieberhaft über die Zeilen geleiten, die auf das Umschlagpapier gekritzelt wurden. Mit jeder Zeile werden Candice' Augen feuchter. Dann höre ich das klackende Geräusch einer Träne, die auf das Papier nieder klatscht.
»Candice, was steht in dem Brief?«, frage ich erschrocken nach. »Wer hat ihn geschrieben? War es Eckstein?«
Sie sieht mir mit ihren verweinten Türkisen entgegnen. Zwei dicke Tränen lösen sich aus ihnen und bahnen sich einen weg über ihre geröteten Wangen. »Nein, es war mein Vater.«
»Und was schreibt er?«, frage ich nach, obwohl ich Angst vor ihrer Antwort habe.
»Er ist weg«, krächzt sie tonlos. »Er wird nicht mehr wiederkommen.«
Ich gehe auf Candice zu und schließe sie in eine Umarmung. Unsere nasse Kleidung saugt sich aneinander fest und Candice schluchzt zitternd.
Als sie sich nach einer Weile wieder von mir löst, blickt sie mir mit wütenden Augen entgegen. »Daniel war bei meinem Vater. Ja, er muss hier gewesen sein. Er muss erst durch Kates Tor gekommen sein, als Josephine dein Haus verlassen hat.« Sie schüttelt verständnislos den Kopf. »Dieser Scheißkerl platzt einfach so in mein Leben und reißt alles nieder, was noch übrig geblieben ist...«
»Aber vielleicht ist er ja wirklich dein Vater!«, entgegne ich mit Nachdruck.
Candice schüttelt fieberhaft den Kopf. »Das...das glaub ich einfach nicht.«
»Und mich würde interessieren, was all das mit diesem Sack voller Geld zu tun hat«, bemerke ich, um Candice etwas von Daniel abzulenken und weil ich es wirklich gerne wissen würde.
»Es ist das Erbe meiner Mutter«, bringt sie nüchtern hervor. »Das steht hier in dem Brief.«
»Das erklärt einiges.« Ich nicke zustimmend.
»Aber das ergibt keinen Sinn, Kate!«, widerspricht mir Candice und fuchtelt beinahe verzweifelt mit dem Blatt Papier in ihrer Hand herum. »Ich glaube nicht, dass meine Mutter je so viel Geld besessen hat und wenn doch, dann hätten wir uns damals eine neue Heizung leisten können, als die ausgelaufen ist. Wir hätten uns ein neues Auto leisten können, als das von Mum andauernd Probleme hatte. Verstehst du? Das passt alles nicht zusammen.« Candice setzt sich entmutigt auf das Bettende, vergräbt die Augen in ihren Handflächen und beginnt zu schluchzen.
Ich setze mich vorsichtig neben sie und lege einen Arm um ihre Schulter. Schon krass, wie sich innerhalb von vierundzwanzig Stunden so viel verändern kann.
Erst hat sie erfahren, dass ihre Mutter dem Chester's Clan angehört hat, dann dass ihre Mutter ein Verhältnis mit einem anderen Mann hatte und jetzt, dass dieser Mann auch noch ihr leiblicher Vater sein soll. Candice wurde gestern und heute sprichwörtlich der Boden unter den Füßen weggezogen.
So viele Dinge haben sich geklärt, aber trotzdem kann man sich nie sicher sein und aus jeder neuen Antwort resultieren mindestens zwei neue Fragen.
»Kate, du solltest dich bei Jo entschuldigen«, kommt es plötzlich von Candice.
Verwirrt löse ich mich von ihr und blicke sie an. »Das ist eine Sache zwischen Josephine und mir«, sage ich ruhig aber bestimmt, »sie soll sich einmal wieder beruhigen.«
»Aber kannst du nicht verstehen, dass es sie verletzt, wenn jetzt plötzlich Mary an erster Stelle steht?«
Warum muss sie ausgerechnet jetzt damit anfangen? Es gibt im Moment viel Wichtigeres zu besprechen. »Gut, ich werde mich bei ihr entschuldigen«, ergebe ich mich mit deutlich weicherer Stimme, damit Candice endlich Ruhe gibt.
»Gut«, entgegnet sie mit einem Lächeln.
»Ist es okay, wenn wir uns jetzt alle im Nighthawks treffen?«, frage ich, weil ich Mary und Liam bereits eine SMS geschrieben habe.
»Klar, aber nur, wenn du Josephine auch Bescheid gibst.« Candice grinst.
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»Und, was gibt's?« Mary wartet schon mit Liam an unserem Stammtisch. Irgendwie ist das etwas frech, aber ich kann schon darüber hinwegsehen. Immerhin gehören die beiden jetzt auch dazu.
»Ihr glaubt nicht, was in den letzten Stunden alles passiert ist.« Ich sehe sie mit großen Augen an.
»Doch, ich glaube das schon, deine Kleider sehen aus, wie von der Kleiderspende.« Sie grinst.
»Oh stimmt, die hab ich mir nur von Candice geliehen, weil meine eigenen nass geworden sind«, winke ich ab und versuche nicht auf die zu weiten Jeans und das rote Sweatshirt zu achten.
»Tja, ich glaub, du hast eben nur nicht die Figur dafür«, lacht Candice.
Kurz macht es mich wütend, dass sie derartige Worte in den Mund nimmt, aber dann konzentriere ich mich wieder auf die Neuigkeiten. »Jetzt aber zu den Ereignissen der letzen Stunden.« Ich beuge mich etwas über den Tisch und bedeute den anderen, näher zu kommen. »Wir haben bei Candice eine riesige Tasche voller Bargeld gefunden. Und wir wissen nicht, woher sie kommt.«
»Krass!«, staunt Liam.
»Naja«, korrigiert mich Candice. »Laut eines Briefes ist es mein Erbe.«
Liam kratzt sich am Kinn. »Und du bist dir da sicher?«
Candice schüttelt den Kopf. »Nicht wirklich, wäre möglich, dass Eckstein die Finger im Spiel hat.«
»Das glaub ich auch«, stimmt ihr Liam zu.
In diesem Moment betritt Josephine das Nighthawks. Sie kommt mit unsicheren Schritten auf uns zu. Wenn ich mich nicht irre, wankt sie leicht. Aber sie ist bestimmt auch müde. Wahrscheinlich hat sie den ganzen Abend bloß gelernt.
»Hey, Leute.« Sie setzt sich gegenüber von mir neben Candice hin. Ich hab mich schon per SMS bei Josephine entschuldigt, aber damit wird sie sich auf längere Sicht nicht zufrieden geben. Also werde ich mich wohl oder übel später noch einmal persönlich mit ihr aussprechen.
Dare bringt unsere Getränke. Für Liam eine Cola, für Kate und Mary eine Cola Light und für mich einen Eistee mit Zitronengeschmack.
»Hi Jo, was kann ich dir bringen?« Er hat sein Notitzblöckchen gezückt und wartet nur darauf, etwas auf das kleine Stück Papier zu kritzeln.
»Für mich einen Waldfrüchtetee«, erwidert sie etwas zitternd.
»Hast du gehört?«, berichtet Mary aufgeregt, »Kate und Candice haben bei Candice einen Sack voller Bargeld gefunden.«
»Nicht so laut!« Kate stößt sie in die Seite.
»Ist das wahr?« Josephine macht große Augen und blickt fragend zu Candice.
Die nickt. »Und ich weiß nicht, woher es kommt.«
»Candice, das musst du der Polizei melden!«, zischt Josephine.
»Sag mal, hast du da oben vielleicht 'ne Schraube locker?« Ich schüttle verständnislos den Kopf und zeige ihr den Vogel.
»Aber wir reiten uns immer mehr in Lügen hinein und irgendwann werden wir nicht mehr entkommen können.«
»Ich frag mich, ob du in deiner Zeit im Knast überhaupt was gelernt hast.« Kaum sind die Worte gesagt, kann ich sie nicht mehr zurücknehmen. Aber es ist auch die Wahrheit. Wie kann Josephine jetzt noch an die Polizei denken?
»Ich schlage vor, wir lassen das mit dem Geld einmal ruhen«, verkündet Candice. »Schließlich ist es auch meine Entscheidung, weil es in meinem Haus gefunden wurde und oberflächlich betrachtet eigentlich alles darauf hindeutet, dass es wirklich mir gehört. Wir sollten besser andere Ansätze finden, die wir vielleicht bisher zu wenig verfolgt haben.«
»Wie wäre es, wenn wir am Anfang beginnen?«, schlägt Josephine vor.
»Das ist eine gute Idee. Was schwebt dir vor?«
Josephine wendet sich in diesem Moment an mich. »Kate, du kannst dich doch noch daran erinnern, dass ich was über Will Caporale im Archiv der Bibliothek recherchiert hab.«
Ich schüttle ahnungslos den Kopf. »Josephine, dir ist schon klar, dass ich auf Durchzug schalte, wenn dir das Wort Bibliothek über die Lippen geht?«
Jo seufzt. »Dann eben nicht.« Sie wendet ihren Blick wieder von mir weg und sieht stattdessen zu den anderen. »Was ich damit sagen wollte ist, dass dieser Will Caporale was mit dem Mordhaus zu tun hat und am Friedhof von Greyforks begraben liegt. Wie wäre es also, wenn wir sein Grab dort suchen. Vielleicht Stoßen wir dann auf neue Hinweise. Wie auch Candice, die diesen Mann gefunden hat.«
In diesem Moment kann ich beobachten, wie Candice Blick erstarrt.
»Candice? Ist was?«, fragt sie besorgt nach.
»Wir haben herausgefunden, dass er der Sohn von Mrs. Campbell und womöglich Candice' Vater ist«, spreche ich für Candice.
»Wie bitte?«, entfährt es Josephine völlig entgeistert. »Und das sagt ihr mir erst jetzt?« Sie schüttelt verständnislos den Kopf. »Ich glaub's einfach nicht, sie ist deine Großmutter, Candice!«
»Halt deine Klappe, Jo, verdammt!«, zischt Candice. Im selben Moment bemerkt sie an Josephines erschrockenen Blick, dass sie etwas zu schroff war und ihre Stimme wird etwas weicher. »Ich weiß doch selbst nicht mehr, was ich glauben soll...«
Josephine nickt verständnisvoll. »Und was sagt dein Vater dazu?«
»Er ist weg.« Sie blickt betreten in ihr Glas, wo der gelbliche Eistee umher schwappt.
»Das...das tut mir leid, Candice«, flüstert sie.
»Schon okay«, murmelt sie, ehe sie ihren Blick wieder hebt, »und jetzt lasst uns zum Friedhof gehen. Schließlich wollen wir was herausfinden.«
Was meint ihr, ist mit Candice' Vater passiert? Warum hat er sich dazu entschieden, seine Tochter zu verlassen? Wir sehen uns gleich im dritten Kapitel der Folge.
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