• Fünf •
Ein eiserner, steriler Windstoß, der nach Desinfektionsmitteln und starken Arzneimitteln sowie ein wenig Blut roch, kam dem Lockenkopf entgegen als er einige Straßenlaternen weiter durch eine durchsichtige Drehtür trat, die ihn in einen riesigen Raum führte.
Auf dessen spiegelglatten Boden waren einige kleinere Menschengruppen versammelt, die sich an verschiedenen Stellen verteilten und für einen kurzen Moment schwenkte Harrys Blick zu einer weinenden Mutter, die ihr Gesicht in einem Stofftuch zum schnäuzen versank. Auf ihrem Rücken lag die faltige Hand eines Mannes, die sie mit sanften, kreisenden Berührungen beruhigen wollte. Doch die Frau weinte nur lauter und die Tränen kullerten wie Perlen von Blättern nach einem Regenschauer von ihren Wangen hinab. Sie war nicht die einzige, die eine Last wie Tonnen auf ihren Rippen tragen musste, auch den meisten anderen Besuchern stand der Schweiß auf der Stirn während sie undurchschaubare Masken auf den Gesichtern trugen, die ihnen die Sicht wie ein Schleier versperrten.
Harrys lockiges Haar, das sein Gesicht sonst seidig weich umrahmte, wurde hier immer trocken und verlor an Form. Es war Routine, das Harry sich mittlerweile immer ein kleines Zöpflein hinten band und seine wirren Haare in einem Dutt zur Seite schaffte. Momentan waren seine Haare allerdings zu kurz dafür.
Er schritt an der Umkleide, in der er einen weißen Kittel und sein Namensschild holte und trat an der Herzchirurgie vorbei. Obwohl er einer der jüngsten Ärzte zu dieser Zeit war und die wenigste Erfahrung bei sich trug, erledigten seine Hände die Operationen mit totaler Ruhe. Er liebte seinen Job. Kein Zucken, kein Zittern und kein Herzrasen durchlitten nach ein paar Eingriffen den Lockenkopf mehr. Konzentriert und flink wie ein Vogel konnte er die Operation am offenen Herzen durchführen und verzog keine Miene, wenn er sich mit dem Skalpell vorsichtig durch die Haut und Fettschicht trennen musste. Und mittlerweile konnte er das Abklemmen der Hauptschlagader, das stundenlange operieren und danach, das Nähen wie bei einem Stück Stoff schon beinahe wie im Schlaf. Nichtsdestotrotz war jede Operation total anstrengend. Sehr anstrengend. Und gleichzeitig gab es kein besseres Gefühl auf dieser Welt, wie Leben zu retten. Empfand zumindest Harry.
Wissen war Macht. Das war das liebste Sprichworts Harry, der gar nicht genug davon bekommen konnte, immer wieder seinen Horizont zu erweitern. Dennoch gab es auch negative Seiten seines Jobs.
Verabschieden Sie sich von ihrem weichen Herz Herr Styles, das werden sie bald nicht wiedererkennen, hatte sein damaliger Chef – Oberarzt Franklin gesagt als er die ersten Eingriffe als junger Arzt unternahm und ihn auch predigte, ja nichts mit einem Patienten einzugehen. Und er hatte recht. Harry seufzte bei diesem Gedanken.
Harry hatte zwar immer noch Urlaub und genoss diesen auch mit großen Vergnügen doch musste er sich dennoch mit einigen Dokumenten auseinandersetzen, Kurven verwalten und seinen Kollegen sowie Patienten bei gesundheitlichen Fragen Dienst leisten. Und er hatte einen Termin, von einem anscheinend völlig panischen Patienten, der ihn unter allen Umständen sofort sprechen wollte. Laut seines Mitarbeiters, hatte er förmlich danach gefleht ihn zu sehen und Harry wäre nicht Harry gewesen, hätte er nicht dafür seinen freien Tag nochmal geopfert.
Nachdem er sich die Akte des Mannes angesehen hatte, runzelte er die Stirn. Bisher war nichts aufgezeichnet worden, was von schlimmerer Bedeutung hätte sein können und der Grund seiner Aufnahme war auch nicht verzeichnet worden. Seufzend klappte er die Mappe zu, las den Namen und lief hinaus zu dem Flur, an dem bereits auf zehn eng aneinander gestellten Stühlen Menschen saßen. Er musste sie nicht mal ansehen, um zu wissen das all ihre Gesichter kreidebleich und energielos waren.
„Herr Tomlinson?", fragte er dann mit tiefer Stimme laut nach und behielt die Kurve in seiner Hand, die ganz dünn zwischen seinen Fingern erschien. Erst als er aufblickte und sah, dass der Mann aus dem Café von letzter Woche, der ihn damals schon aufgefallen war, auf ihn zu ging, machte sich ein überraschter Gesichtsausdruck auf ihm breit. Ohne sich seine Verwunderung anmerken zu lassen, deutete er ihm mit einer Handbewegung ihn zu folgen.
Mit einem gewissen funkeln in den Augen musterte er ihn kurz. Eine verwaschene blaue Jeans. Wieder ein Pullover - dieses Mal ein orangener. Harrys Herz machte einen Sprung, ohne das er es wollte.
„Was ein Zufall", bildete sich der Lockenkopf ein zu hören, wusste aber nicht ob es an ihn gerichtet war.
Dennoch reagierte er auf das zweite Aufeinandertreffen mit distanzierter Neugierde. Er hatte bestimmt noch drei Tage nach dem er den Briten getroffen hatte, abends an ihn gedacht und mit endlosen Verzweigungen eine Antwort auf die Fragen zu bekommen, seinen Kopf zu schmerzen gebracht. Alle möglichen Gedankengänge schwirrten durch seinen Kopf und versammelten sich wie kleine Ameisen zu einem Haufen. Harry kam aber auf keine Antwort. Wie könnte er auch? Er war überzeugt, keine Antwort mehr auf den seltsamen Tag zu bekommen.
Wer war diese Frau? Warum ging es ihn nicht gut?
Er würde es nie erfahren.
„Also wo drückt der Schuh denn, Herr Tomlinson?"
Nachdem sie den lichtdurchflutenden Raum betreten hatten, ließ Harry sich auf einen Stuhl nieder. Seit kurzem hatte er ein tiefgrünes Sofa in seinem Arztzimmer stehen. Daneben ein normaler Stuhl. Der Tisch war leergeräumt - nur einige Zettel, Stempel und ein kleines Familienfoto von Harry, seiner Mutter und seiner Schwester stand am Tisch.
„Setzen Sie sich hin wo sie wollen", fügte er noch hinzu und stützte seinen Kopf interessiert auf den Händen ab.
Sofort nahm der Blauäugige auf der Couch Platz. Sein Bein wackelte ehrfürchtig und Harry konnte die kleinen Stromschläge seiner Nervosität schon fast auf seiner eigenen Haut spüren. Er sah genau seine tiefen Augenringe. Die dunklen Schatten die sich über seinen Wangen abgelegt hatten und der eingenickte Körper, der niedergeschlagen und nicht mehr selbstbewusst dasaß.
„Ich wusste nicht, dass wir uns wieder Siezen", begann der Brite dennoch das Gespräch mit einem sarkastischen Unterton und lächelte schwach. Seine Augen lächelten aber nicht mit und auch Harry erwiderte es dieses Mal nicht. Stattdessen versuchte er seinen Blick einzufangen.
„Was ist los, dass der Besuch so dringend war?"
Der Braunhaarige vor ihm seufzte leise. Sein Blick wendete sich wieder von ihm ab, als hätte er urplötzlich sein Vorhaben, hier her zu kommen, bereut.
„Ich glaube mit meinem Herz stimmt was nicht", kam es nach einigen Sekunden. Harry zog die Augenbraue in die Höhe.
"Mit deinem Herzen?"
Der Blauäugige begann mit den Händen wieder zu spielen und während Harry ihn eindringlich musterte, fiel ihm auch auf, wie er zu zittern begann. Unruhig nestelte er an allen möglichen Fäden herum. Er nickte langsam und Harry notierte sich ein paar Sachen auf dem Computer und drehte sich dabei wieder zu Louis – so las er in der Akte. „Warum denkst du das?"
Zögernd nahm der Brite die Unterlippe zwischen seine Zähne und sog an ihr. Man sah, wie er kräftig schluckte. Sein Spielen an den Händen, das nervöse gezupfte an den Fäden seines Pullovers verstärkte sich.
„Ich weiß nicht", murmelte er mit erstickter Stimme. „Manchmal rast es so schnell. Wirklich wie ein Presslufthammer und dann höre ich meinen Herzschlag schon fast in den Ohren rauschen. Das war immer wieder mal. Es hielt sich in Grenzen. Aber vorgestern, dachte ich, ich sterbe fast. Ich dachte es wirklich. Ich habe keine Luft mehr bekommen und- „Er starrte mit leerem Blick die Wand an. „Ich konnte nicht mehr die Nacht schlafen. Ich hatte unheimliche Angst, dass es nochmal kommt. Ich kann es einfach nicht beschreiben, tut mir leid."
"Mhm." Nachdenklich lehnte sich Harry zurück. "Hast du..-"
Harry gar nicht richtig antworten, da stand sein Gegenüber auf einmal langsam auf und schüttelte den Kopf. Louis war, als würde sein Magen bei einer Achterbahn mitfahren und sich dabei zu einem dicken Knoten verbinden.
"Bleib bitte sitzen."
Der Brite hörte aber nicht zu, spürte es auf einmal stattdessen wieder, dieses erschlagene Gefühl auf seinen Rippen, sein Herz wie es gegen seinen Brustkorb immer schneller klopfte und wie der Klos in seinem Hals größer wurde, der ihm jegliche Sprache nahm obwohl er es nicht wollte. Ihm war, als würde ihm die Luft plötzlich ausgehen und ausgelaugt sah er Harry an. Steine wie aus Beton legten sich auf seinem Körper ab, die ihm den Verstand nahmen.
Der Blauäugige konnte nicht anders. Das plötzliche schmerzhafte ziehen seines Herzens legte enge Fesseln um seinen Körper. Ohne ein Wort erhob er sich und trat an das Fenster während er Harrys besorgten Blick auf sich ignorierte und auch gar nicht beachten konnte. Da war nur dieses Rauschen in seinem kopf, das ihn förmlich zwang das Fenster mit bebenden Fingern zu öffnen und nach einen Fluchtweg zu suchen. Angespannt nahm er einen tiefen Atemzug, der sich durch seine Lunge wie ein Messer zog.
Harry wusste das mit Louis Herz nichts falsch war. Seufzend erhob er sich und lief langsam auf den Briten zu. Auch sein Körper spannte sich zum zerbersten stark an und ein unergründliche Welle des Mitleids überschüttete ihn, die er nicht mehr zurückhalten konnte obwohl er schon mehrere solcher Vorfälle miterlebt hatte.
Er fasste vorsichtig von der Seite an Louis Schulter und übte an ihr sanften Druck aus, ganz sanft, als würde er ein Glas aus Porzellan berühren. "Geht's?", fragte er langsam während er die Augenbrauen ineinander zog.
Louis zuckte nur mit den Schultern währenddessen er sich an das Fensterbrett krallte, sodass seine Knochen weiß hervorstachen. Mehrmals hörte Harry, wie er verzweifelt versuchte, zu Atmen.
„Bekommst du Luft?", fragte der Lockenkopf ernst nach und legte eine Hand an Louis Rücken. Dieser lehnte auf einmal seinen Oberkörper weit aus dem Fenster heraus und holte weiterhin nach Luft, wie ein ausgetrockneter Fisch. Ein Brummen erschütterte seinen ganzen Körper durch Mark und Bein. Harry spürte unter seiner Hand, wie sein Körper vibrierte und als er einige Sekunden keine Antwort bekam, nur schweres Atmen hören konnte, fragte er nochmal mit mehr Nachdruck nach.
„Louis. Du kannst mich doch hören oder?"
Für einen Augenblick knickten seine Beine ein. Schwach versuchte er sich mit letzter Kraft an dem Fensterbrett zu halten. Sein Oberkörper ging dafür langsam wieder zurück in das Zimmer.
„Alles ist gut okay. Du bist hier an einen sicheren Ort. Niemand tut irgendwas. Tief ein und aus atmen. Ganz langsam."
Er erhielt keine Antwort. Langsam streichelte er seinen Rücken einmal, dann ließ er los. Er wollte ihm kein Beruhigungsmittel geben und er wollte auch keine Verstärkung holen. Doch als er immer noch keine Antwort bekam, zog er es für einen Moment dann ein wenig in Erwähnung.
„Louis?"
Hallo x
Also tut mir leid, dass jetzt so lange nichts kam aber irgendwie war das Kapitel schwerer zu schreiben als gedacht. Ich habe es mehrmals umgeschrieben und bin etwas verzweifelt.
Wie fandet ihr es? Sie werden sich bald näher kommen 👀
Alles liebe x💛
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