21. Beschäftigung

29. Januar, 2101

Tessas Sicht

Es war furchtbar früh am Morgen, als ich die Tore des Hauptquartier durchschreitete. 5 Uhr um genau zu sagen. Die Sonne war nur noch Minuten vor dem Aufgehen entfernt, dennoch zog Schwärze durch die Straßen und Gassen, bis auf die Stellen, die von den Straßenlaternen erleuchtet wurden. Das HQ dagegen stach wie eine Taschenlampe aus dieser Dunkelheit hervor. Die Fenster waren hell erleuchtet und gaben mithilfe der riesigen Fenster Aussicht auf die Eingangshalle und dessen Innenleben.

 Die Leute die mir um diese Uhrzeit entgegenkamen, sahen nicht wirklich frisch aus. Sie hatte tiefe Augenringe, blutunterlaufene Augen und müde Gesichter. Das Übliche.

Ich wussten nicht, warum sich alle immer so anstellten. Die Morgenstunden waren die schönsten von allen und die produktivsten. Vielleicht war es ja auch nur meine Einstellung, die mich alles aus diesem Blickwinkel betrachten ließ. 

Wie immer grüßte ich jeden, der an mir vorbeikam und wünschte ihm einen schönen guten Morgen. Die meiste brachten als Antwort grade mal ein zustimmendes Summen oder Grunzgeräusch zusammen, andere begnügten sich mir einer einfach Geste der Hand oder einem einfachen Nicken. 

Und so bahnte ich mir meinen Weg durch die kaum gefüllten Gänge und verfolgte zuerst das Ziel, in die Mitarbeiterräume zu kommen.

Dort waren einige andere Beamte bereits eingetroffen und hatten bereits begonnen sich umzukleiden. Mein Spint war irgendwo ganz hinten, in dem ich meine Sachen verstaute. Mit dem passenden Schlüssel schloss ich auf. Es war nicht wirklich viel Zeug, dass ich dort deponiert hatte. Ein paar Klamotten zum Wechseln zusamen mit meinem weißen Kittel; ein Block und Federmäppchen; ein uraltes Buch, das ich eigentlich mal fertig lesen wollte; Fotos, die ich an die Innenseite der Spinttür geheftet hatte und eine Dose Kaugummi für Notfälle.

Ich trennte mich von meiner Jacke und legte sie mehr oder weniger ordentlich zusammen. Die Jacke tauschte ich aus gegen den weißen Doktorkittel, den ich auch gleich anzog. Aus meiner Tasche nahm ich Handy und Geldbeutel, bevor ich auch diese hinter die marineblaue Tür des Spintes schloss.

Da dies nun endlich erledigt war, trat ich die von Ruhe beherrschten Treppen hinunter in die Untergeschosse.

Auch dort waren bereits alle Systeme hochgefahren und einsatzbereit und die Flure wurden durch mattes Licht erleuchtet. 

Vor der gesicherten Tür kam ich dann zu stehen. Ich tippte die Zahl zum Entsperren ein und hörte wie sich die Sicherung löste. Nun konnte ich die Tür öffnen und schob sie leise beiseite. Ich ging davon aus, dass die zwei Jungs noch schlafen würden, weshalb ich versuchte so leise, wie möglich zu sein. 

Jedoch bemerkte ich erst, als ich die Tür weit genug geöffnet hatte, dass der Raum hell erleuchtet war. Und dass weder Ian noch Dave zu schliefen. Ganz im Gegenteil. Die Zwei schienen hellwach zu sein. 

Im Bett sitzend entdeckte ich Ian, der sich mithilfe der Bettlehne aufrecht halten konnte. Er sah viel gesünder aus als vor ein paar Tagen. Sein Gesicht hatte wieder Farbe angenommen und auch der Glanz in seinen Augen war deutlicher zu vernehmen. Die weiße Haarpracht ergoss sich in Strähnen über seine Schultern wie eine Lawine, die einen Hang hinunterrauschte. Vielleicht sollte ich ihm mal anbieten die Haar zu schneiden...oder ihm zumindest einen Haargummi geben.

Die Decke lag über seinen Oberschenkeln und dort, wo ich seine Beine vermutete, war eine Art aufgestelltes Brett. 

Am Bettende hatte sich Dave mit seinem Drehstuhl positioniert, mit der Stuhllehne nach vorne gelehnt. Sein Blick wurde ebenfalls von der gleiche Apparatur abgelenkt, die auch der Weißhaarige besaß. 

Ian schien meine Anwesenheit bemerkt zu haben - im Gegensatz zu Dave, der vollkommen konzentriert auf das Brett starrte - und hob bei meinem Betreten des Raumes den Kopf um sich zu erkundigen, wer da gekommen war. Erst als Dave merkte, dass sein Gegenüber nicht mehr auf das - was immer sie da machten - fokussiert war, drehte er sich um, um zu sehen, was seine Aufmerksamkeit erweckt hatte. 

Völlig perplex und verwirrt betrachtete ich die Szene vor mir. Ich war die erste, die die unangenehme Stille durchbrach.

"Was zum Teufel...macht ihr da?"

Dave schien jetzt erst erkannt zu haben, dass es seine Kollegin war, die da in der Tür stand. Seine verwirrte Miene verwandelte sich in ein freudiges Lächeln. 

"Wir spielen Wer-ist-es.", erklärte er selbstverständlich. Ich erkannte nun auch die seltsamen Bretter, die für das Spiel vorhergesehen waren. Die kleinen Türchen, hinter denen sich Miniatur-Fotos von jedmöglichen Personen verschiedenen Aussehens oder Geschlechts befanden.

"Es ist fünf Uhr morgens!"

Die Augen des Braunhaarigen weiteten sich plötzlich überrascht. 

"Es ist schon fünf Uhr?!?", fragte er überrumpelt.

"Ja, fünf Uhr morgens!", wiederholte ich intensiver und mit scharfem Unterton.

Er drehte sich kurz um und ich meinte ich konnte ihn Heilige scheiße murmeln hören.

"Wie lange spielt ihr denn schon?"

Dave warf einen Blick zu mir nach hinten. Sein Gesicht hatte sich grübeln verzogen. Man konnte förmlich die alten, verrosteten Zahnräder knirschen hören, die sich langsam wieder zu drehen begannen. 

"Ähh...also ich glaube wir haben heute Morgen um zwei Uhr angefangen..."

Jetzt da er es sagte, besonders munter und frisch sah Dave auch nicht wirklich aus. Im Gegensatz zu Ian, dem kaum ein Anzeichen von Müdigkeit anzumerken war. Aber wirklich - seit drei Stunden Wer-ist-es spielen?

"Ihr spinnt doch...", murmelte ich mehr zu mir selbst, bevor ich endgültig den Raum betrat, denn ich stand immer noch im Türrahmen. Als ich an Dave vorbeiging war ich einen Blick auf sein Spielbrett. 

Ich kannte den Struppelpeter nun schon eine ganze Zeit lang. Und aus meinem Wissen ging hervor, dass Dave eigentlich nicht wirklich schlecht in einem solchen Spiel wie dem hier war. Ich musterte seinen Spielstand und musste mit Erschrecken feststellen, dass nicht wirklich viele Türchen die darunterliegenden Bilder verdeckte. 

Na ja, vielleicht spielten sie noch nicht so lange. 

Nur um sicherzugehen, stellte ich mich auf Ians Seite um seinen Erfolg zu betrachten. Überrascht zog ich das Fazit, dass der weißhaarige Junge eindeutig am gewinnen war. Der Großteil der Klapptürchen war geschlossen und nur noch zwei galten als unentdeckt.

Mir entwich ein belustigtes Lachen. Dave drehte sich sofort mit einem Was-lachst-du-so-Blick zu mir. 

"Du bist gerade haushoch am verlieren!", prustete ich los.

Der Angesprochenen zeigte mir die kalte Schulter und machte einen auf beleidigte Leberwurst. 

"Tse", widersprach er, "wir sind noch lange nicht fertig..."

"Warum eigentlich Wer-ist-es? Ihr hättet jedes andere Spiel spielen können...", erkundigte ich mich, da mir gerade diese Frage in den Sinn kam. Mit Ians Unfähigkeit zu sprechen, was das doch nicht gerade einfach...

Ich ging zurück und lehnte mich an den Schreibtisch, auf dem Dave noch immer seine ganzen Unterlagen gelagert hatte. Er schien letzte Nacht ziemlich fleißig gewesen zu sein, was die Übersetzung anging. 

Daves Antwort auf meine Frage brachte mich dazu, mich von den übersetzten Einträgen loszureißen.

"Ian würde gerne Englisch lernen, also hab ich ihm ein paar Grundbegriffe gezeigt. Ich dachte bei dem Spiel lernt er den Wortschatz, was das Aussehen und das Beschreiben von Leuten angeht."

Das ließ mich mich zuerst stutzen. Zumeist meist aus Überraschung. 

Erstens: Ein Kriegsgefangener, der grade mal eine Woche hier ist, kaum Vertrauen zu den Leuten in seinem Umfeld hat und nicht den leisesten Schimmer hatte, wie es in Zukunft mit ihm weitergehen sollte, wollte Englisch lernen.

Zweitens: Ich hätte nie gedacht, dass Dave solch sinnvolle Einfälle haben konnte. Nicht dass ich gemeint hatte, dass er dumm wäre, aber manchmal stellte er sich schon wirklich blöd an. 

Mich völlig ignorierend fuhren die zwei Männer ihr Spiel fort. Dave war anscheinend am Zug und gab seine Beschreibung preis.

"Hm...kleine Nase?"

Ian nickte mit dem Kopf, Dave klappte seine Türchen um. Nun war der Weißhaarige am Zug.

Dieser öffnete ein kleines Notizbuch und begann ein paar Worte zu schreiben. Dann schob er es in den Blickwinkel des Braunhaarigen, sodass dieser die Information begutachten konnte. 

Dave zog auf einmal eine Miene, als hätte Kalifa ihm verkündet, dass er nichts zum Essen bekommen würde.

"Verd-..." 

Er blickte für gefühlte Minuten Ians vielversprechendes und siegessichere Gesicht. Es war, als wollte Dave seine Niederlage nicht eingestehen und den Moment der Erniedrigung nur hinauszögern.

Ich von meiner Sicht musste zugeben, dass ich beeindruckt war. Der Junge schien genau zu wissen, was er zu tun hatte. 

Nur wiederwillig sprach Dave die Worte, die für ihn eine Niederlage bedeuteten.

"...Ja ich trage einen Hut..."

Ian schnappte sich das Büchlein aus seiner Hand, das er davor vor seinem Gesicht gehalten hatte. Mit flinken Händen kritzelte er ein weiteres Wort hinein, bevor er dem Braunhaarigen triumphal sein Ergebnis zeigte.

Sarah

Dave blickte abwechselnd von Ians Gesicht zu seiner Nachricht, die ihm seinen Gewinn versprach. Ein geschlagener Seufzer entwich ihm und er warf Körper und Arme nach hinten, wodurch er fast vom Stuhl gefallen wäre. In letzter Sekunde konnte er sich noch an der Stuhllehne fassen und wieder nach vorne ziehen. 

"Er hat gewonnen...gewonnen...das dreizehnte Mal in Folge...", ein wenig ermüdend rieb er sich die Augen, "Okay...das macht keinen Spaß mehr...außerdem ist für heute Schluss. Ich bin hundemüde und muss mich aufs Ohr legen." 

Er schob sich mithilfe des rollenden Stuhles ein paar Meter vom Bett weg. Ian reagierte ein wenig enttäuscht auf diese Nachricht und das Gesicht, das er machte, wurde sofort von Dave bemerkt. Dieser begann sich langsam von seinem Stuhl zu erheben.

"Sorry Kleiner...frag doch mal Tessa, vielleicht spielt sie mit dir 'ne Runde. Außerdem komm ich heute Abend ja wieder, da kann ich ja dann was anderes mitnehmen."

Den Satz wiederholte er darauffolgend auf Spanisch, damit ihn auch die angesprochene Person verstand.

Dave schob den Stuhl zurück auf seinen ursprünglichen Platz und packte seine Dokumente, das Tagebuch und seine Jacke ein und machte sich auf, den Raum zu verlassen. Sein Gang erinnerte eher an den eines Zombies und fast wäre er mit dem Türrahmen kollidiert. 

Mit Belustigung beobachteten ich und Ian die verzweifelten Versuche den Code zum Öffnen der Türe einzugeben. Nachdem ihm dies schließlich ebenfalls - nach gefühlten fünf Versuchen - gelungen war, ließ das leise Klicken der sich schließenden Tür mich und den Weißhaarigen in dem Raum alleine. 

Ian war schon dabei die Bretter zurück in die Schachtel zu räumen, doch ich hielt ihn kurz davor ab. Ich deutete auf die Spielbretter und versuchte ihn die Nachricht zu übermitteln, dass ich statt Dave einspringen könnte. 

Schließlich konnte ich ihn dazu überreden auch mit mir drei Ruden zu spielen. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen und eine wirkliche Herausforderung. Zumindest die letzte Runde konnte ich für mich entscheiden, worauf ich - zugegeben - ziemlich stolz war.

Bei meinem Gegenspieler schien sich allerdings langsam ein Anzeichen an Müdigkeit erkennbar zu zeigen.

Also räumten wir nach der dritten, entschiedenen Runde alles zurück in die Schachtel und ich verstauten sie dort, wo auch Dave sie wiederfinden würde.

Während ich mich schließlich dem Schreibtisch widmete, legte Ian seine Utensilien weg und krabbelte unter die Decke. 

Ich hatte ein wenig Arbeit zu erledigen, die ich gleich weg haben wollte. 

Von unserem Patienten hörte ich in der ganzen Zeit kein Wort. Als ich mich einmal zu ihm umdrehte - um zu überprüfen, ob er überhaupt noch atmete - erkannte ich, dass sein Brustkorb sich ruhig und regelmäßig senkte und seine Augen geschlossen waren.

Ob er wirklich schlief, oder ob er wieder nur vorgab es zu tun, war ich nicht sicher. Allerdings, dachte ich, war es ein Zustand, der dem Schlafen ziemlich nahe kam.

Und nun fragte ich mich: Was zum Teufel stellte Dave mit diesem Jungen an?

Erst jetzt vielen mir die Veränderungen auf.Er hatte ihn in dieser kurzer Zeit zu so vielen Sachen überwinden können.

Er bekam keine Angstzustände mehr beim Erblicken von Dave, Simon, Herrn Warner oder mir; er antwortete endlich auf Fragen per Nachricht, Mimik oder Gestik und er fand geruhsamen Schlaf in der Anwesenheit von anderen.(Oder so was ähnliches...)

Man musste schon sagen: Dave war ein Meister im Kontakteknüpfen und Anfreunden mit fremden Personen. Wer wusste schon wo uns das hinbringen würde? Es könnte zu einer tiefen und langwierigen Freundschaft führen...



So!

Dieses Kapitel aus Sicht von Tessa! Es ist mal was anderes und ich hoffe es gefällt euch trotzdem.

Mal wieder: tut mir leid, dass ich recht lange brauch für die nächsten Kapitel. 

Dieses Kapitel ist ein wenig kurz geraten, dafür wird das nächste in wenig länger, weil endlich mal wieder was PASSIERT!

Ja...freut euch schon mal auf das nächste Update. 

Danke und viel Spaß beim Lesen! 

Bis zum nächsten Kapitel!!

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