17. Fortschritte

26. Januar, 2101

Dave's Sicht

Mittlerweile waren drei Tage vergangen. Drei Tage in denen sich fast nicht geändert hatte. Nun ja, fast.

Ian hatte immer noch nicht mit mir gesprochen. Kein Wort war in der vergangenen Zeit aus seinem Mund gekommen. Langsam bezweifelte ich ob er überhaupt reden konnte. Vielleicht hätten wir ihn doch noch einmal durchchecken sollen, im Falle dass seine Stimmbänder oder die Halsregion beschädigt waren. 

Tessa jedoch hatte die Idee abgelehnt, sagte sie habe ihn beim Einliefern genau untersucht und habe alles wichtige notiert. Eine Verletzung im Halsbereich oder eine Fehlbildung der Stimmbänder, oder ähnliches, war ihr nicht aufgefallen. Allerdings äußerte sie sich ebenfalls, dass sie sein Verhalten schon ein wenig seltsam fand. 

Zwar sprach er noch nicht, aber mittlerweile gab er mehr und mehr Zeichen. Er antwortete mit einem Nicken oder Kopfschütteln, was ich als großen Fortschritt sah, wenn ich meine Situation vor drei Tagen betrachtete. Ihm schien das ständige Warten auf seine vollständige Genesung mit der Zeit langweilig zu werden. Er begann Löcher in die Luft zu starren und schien oft geistesabwesend zu sein.

Die meiste Zeit über schlief er aber. Und das tagsüber. Ich hatte mit Simon die Schichten getauscht, wodurch ich seine Nachtschicht übernommen hatte und er meine Tagesschichten. Tessa und Simon erzählten dass der Junge am Tage nur zu schlafen schien. Wobei es kein tiefer Schlaf war. Schon bei den leisesten Geräuschen war er wach. 

Nachtsüber fiel mir dagegen auf, dass er immer wach war. Er lag mit dem Rücken zu mir gewandt und den Blick meist an die gegenüberliegende Zimmerwand gerichtet. Er gab zwar vor am schlafen zu sein, allerdings viel mir bald auf, dass er das nur vortäuschte. Während ich an meiner Arbeit saß, gab er keinen einzigen Laut von sich. Ich konnte mir nicht erklären, warum er Nachts nicht schlafen wollte. Ob es eine Vorsichtsmaßnahme war oder ob er einfach nicht konnte. 

Ich mutmaßte bereits, dass bei Soldaten Albträume nicht selten waren. Auf dem Schlachtfeld zu stehen und Menschen das Leben zu nehmen, mit ansehen wie sie oftmals einen grauenvollen Tod starben - es gab bestimmt nicht viele Soldaten, die ohne Schäden davonkamen. Körperliche aber vor allem geistliche Beeinträchtigungen. Nicht alle Beamten der Armee waren herzlose Bastarde.

Von dem was ich bisher noch in seinem Tagebuch gelesen hatte, ging es dort gewiss nicht mit richtigen Dingen zu. Ereignisse wie an dem anderen Tag bei Appell kamen nicht mehr vor, jedoch wurde der Unterricht für ihm zur Hölle. Er schrieb dass es einer der Lehrer besonders auf ihn abgesehen hatte. Er stellte ihn vor der ganzen Klasse bloß und warf alle Beschuldigungen auf Ian.

Was mir am meisten Sorgen machte war die 'Hygiene'. Am vorherigen Tag, hatte ich ihn gefragt ob er sich nicht duschen wolle. Damit wollte ihn nicht beleidigen oder umständlich ausdrücken, dass er stank. Er hatte bereits einige Tage auf der Krankenstation verbracht, dazu kommt der Weg von Argentinien bis nach Plymouth. Ich dachte eher daran, dass er sich frisch gemacht vielleicht wohler fühlen würde. Er willigte ein, was mir viel Ärger um nichts ersparte. Allerdings verweigerte er jegliche Hilfe. Man konnte ihm ansehen, dass er immer noch Schmerzen hatte und wackelig auf den Beinen war. Und dennoch beharrte er darauf, den Weg allein zu schaffen. 

Ich folgte ihm schweigend in das kleine Badezimmer. Es war ein wenig schmerzhaft zu sehen wie erpicht er war, jede Hilfe abzulehnen, sich aber dafür selbst so viel Leid zufügte. 

Im Bad torkelte er langsam zur Dusche und stieg in die tiefe Badewanne, bevor er sich dort an dem Wannenrand entlang hinunter zum Boden sinken ließ. Er sah vollkommen fertig aus wie er so dasaß. Den Kopf nach hinten gelehnt und seine Hände an schmerzende Stelle drückend. Durch seine weißen Strähnen konnte man die geschlossenen Augen und das verzerrte Gesicht sehen. Ich erklärte ihm kurz wie die high-tech Dusche funktionierte und machte ihm klar, dass ich draußen sei, sollte er Hilfe benötigen. Auch beim Ablegen seiner Kleider oder beim Abnehmen der Verbände verzichtete er auf eine zweite Hand. Also begab ich mich nach draußen um seinen Wunsch nachzukommen. Ich hörte das Prasseln der Dusche und so machte ich mich wieder an den Papierkram. 

Nach gefühlten 30 Minuten war immer noch das Rauschen aus dem Bad zu hören. Ich wollte schon nach ihm sehen, zwang mich aber es sein zu lassen und redete mir ein, dass er nur ein wenig mehr Zeit bräuchte. 

Nach weiteren 10 Minuten war ich mir nicht mehr so sicher ob alles okay war und so erhob ich mich von meinem Stuhl um mal nach dem Rechten zu sehen. Als ich die Tür zum Badezimmer aufdrückte schlug mir kalte Luft entgegen. Es war viel zu kühl im Bad. Vor mit lagen seine Klamotten und die abgenommenen Verbände, die vereinzelt auf dem Boden lagen. Ich ging zur Dusche und der Anblick, der sich mir bot, schockte mich. 

Ian saß - oder besser lag - auf dem Boden der Badewannen-Dusche, splitterfasernackt und war kaum bei Bewusstsein. Die Stellen die vorher die Bandagen bedeckten gaben nun freie Sicht auf seinen verletzten Körper. Das Wasser strömte unaufhaltsam auf ihn herab und schien ihn unter seinen Fluten zu begraben. Seine Haar klebte an seinen Wangen und im Nacken und ein regelmäßiges Beben durchzog seinen Körper, seine Hände umfassten seinen Torso so gut es nur ging, in der Hoffnung er könnte ihn erwärmen. 

Sofort rannte ich zu ihm und ließ mich vor dem Badewannenrand auf die Knie fallen. Der Grund weshalb er nahe der Bewusstlosigkeit auf dem Boden lag traf mich eiskalt. Wortwörtlich eiskalt. Und zwar von oben. Das Wasser das aus dem Duschkopf heraus strömte und mit voller Wucht auf ihn herunter tropfte, war vergleichbar mit Gletscherwasser. Sofort war der Wasserregler zugedreht und der Strom versiegte. Die Kälte verharrte dennoch in der Luft und auf dem Fliesenboden. 

Zurück blieb ein zitternder, völlig abwesender Ian. 

Dann fielen mir die Tagebucheinträge wieder ein. Natürlich! 

Zu seinem damaligen Zeitpunkt hatten er keine andere Wahl als bei kaltem Wasser zu duschen, da es ihnen so vorgeschrieben wurde und sie kein warmes Wasser bekamen. Wieso sollt er es hier also anders machen, wenn er es seit Jahren so gewohnt war.

Meine Hände umschlossen zum sein Gesicht. Seine Haut fühlte sich kalt an. Zu kalt. Sein Körper bebte durch den Einfluss des eisigen Wassers und er atmete schwer. Ich testete ob er ansprechbar war, worauf er nur mit einem schwachen, kaum wahrnehmbaren Nicken antwortete.

Ich fluchte wieder ein wenig vor mich her bevor ich erkannte dass ich handeln musste, wenn ich nicht wollte, dass mein Patient sich eine Unterkühlung einfangen würde. 

Also drehte ich das Wasser wieder auf, aber stellte das Wasser wärmer. 

Ian versuchte ich so gut es geht aufzusetzen und an die Wanne zu lehnen. Ich flitzte los um ihm ein großes Handtuch und neue Klamotten zu holen und war auch schon wenige Augenblicke mit dem Zeug wieder bei ihm. Das warme Wasser schien ihm gut getan zu haben. Ich griff wieder nach seiner Wange und tastete seine aufwärmende Haut. 

Ich drehte das Wasser wieder ab, hob ihn aus der Badewanne heraus und wickelte ihm das riesige, flauschige Handtuch um den Körper. Die Tatsache, dass er vollkommen entblößt vor mir saß, hatte ich in der Eile des Gefechts vollkommen übersehen. Ich nahm erst im Nachhinein Notiz davon. 

Er zog die Füße an, um sie unter dem Stoff zu wärmen. Er versank völlig in den Weiten der Falten und Nähten und wirkte klein und unscheinbar, nicht wie ein Soldat.

In einer Bewegung hatte ich meine Hände unter seinen Kniekehlen und an seinem Rücken. Er gab einen ein wenig überraschten Laut von sich und wollte sich aus meinem Halt zwängen. Doch hatte ihm das kalte Wasser in seinem geschwächten Zustand ziemlich stark zugesetzt, wodurch er bald erkannte, dass er keine andere Wahl hatte. 

Also ließ er sich in das Handtuch sinken, tiefer in meine Arme. 

So schnell ich konnte, lief ich zurück in den Hauptraum um in dort in das Bett zu verlegen. Da die dünne Krankenhausdecke ihn niemals warm halten würde, ging ich zu dem Schrank zu meiner Linken und kramte nach dickerem Stoff. Nachdem ich fand wonach ich gesucht hatte, war ich auch schon wieder bei Ians Seite und breitete die Decke über ihm aus. Er zog diese sofort näher an seinen Körper und vergrub Hände und Füße in den Wärmespender

Ich saß für gut eine Stunde an seiner Seite bis er aufhörte zu zittern und in einen ruhigen Schlaf überdriftete. Wenn ich so darüber nachdachte konnte er einem schon Leid tun. Als ob er eine Wahl gehabt hätte, die Dinge zu tun, die er getan hatte. Als ob er sich sein Schicksal so aussuchen hätte können.

Ich holte ihm noch etwas Suppe, die an dem Tag in der Kantine angeboten wurde. Er war froh darum als er endlich aufwachte. 

Heute waren immer noch ein wenig die Spuren von gestern zu erkennen. Er hatte sich zu meinem Glück keine Erkältung oder Grippe zugezogen. Er war nur ein wenig matt und rührte sich nicht viel, was bisher allerdings nichts neues war. 

Ich war gerade wieder auf dem Weg von der Kantine in die Untergeschosse, zusammen mit einem warmen Teller italienischer Pasta und einem Pappbecher Zitronentee. Ich war mir sicher, dass er mittlerweile schwereres Essen vertragen konnte. Ein wenig mehr Gewicht auf den Rippen würde ihm auch nicht schaden. Durch die Tage, die er nur mit rumliegen verbracht hatte, schien er ein wenig an Gewicht verloren zu haben.

Um 16 Uhr hatte meine Schicht begonnen, seitdem war ich eigentlich nur an der Übersetzung des Buches gesessen. Trotzdem hatte ich gerade mal zwei Kapitel geschafft. Selbst mit dem Wörterbuch war es kompliziert Texte eines Heimatsprachlers zu übersetzen. Oftmals hatten die Anordnung der Wörter andere Bedeutungen und man konnte sie nicht wortwörtlich übersetzten. Außerdem war auch ich kein wandelndes Lexikon und kannte viele Begriffe aus dem Spanischen nicht.

Also trat ich wie so viele andere Male durch die leeren Gängen, auf zu meinem kleinen Problempatienten. Die gesicherte Zimmertür schwang auf und ich drehte mich um, um sie hinter mir zu schließen. Mit meiner einen, freien Hand drückte ich die Tür ins Schloss. Als ich mich dem Innenraum zu wandte, hielt ich inne. 

Was ich sah, erstaunte mich ein wenig. 

Ian lag in seinem Bett auf die Seite gedreht, in Richtung Schreibtisch. Er schien mal wieder vertieft in eigene Beschäftigungen sein, so schien es zumindest auf dem ersten Blick. Erst dann viel mir auf, dass es ein Buch war, das er dort in seiner Hand hatte. Um genau zu sein mein Englisch-Spanisch-Lexikon. Er bemerkte mich überhaupt nicht, bis die Tür ins Schloss gefallen war. 

Er schreckte aus seiner Haltung auf und es sah einen ganzen Moment so aus, als ob er das Buch gleich fallen lassen würde. Er warf mir einen panischen Blick zu und war kurz davor wieder in Panik auszubrechen. Er klappte schnell das Buch zu und schob es hastig hinüber auf das nebenbei stehende Kästchen, in der Hoffnung ich würde meinen, er hätte es nie angerührt. 

Verdutzt blieb ich Sekunden vor der Zimmertür stehen. Ein Lächeln huschte über mein Gesicht. 

"Te interesa por inglés?", fragte ich ihn daraufhin immer noch meine Stellung an der Tür haltend. 

Er gab mir keine Antwort. Wie immer. 

Ich bombardierte ihn einfach weiter mit Fragen und Statements und kehrte währenddessen zurück zu meinem Schreibtisch. Ian schien mein Tun mit Vorsicht zu verfolgen, ich konnte genau sehen wie seine Augen jeden meiner Schritte überwachte. Das Tablett mit der Pasta und meinen Zitronentee stellte ich auf dem Tisch ab, während ich den Schreibtischstuhl vor sein Bett schob und ich mich in die weiche Polsterung fallen ließ. 

Der Weißhaarige blickte mich erwartungsvoll an, ein wenig Angst spiegelte sich in seinen Augen wieder. Ich nahm das Wörterbuch in meine Hand. Ein dicker Schinken. Hauchdünne Seiten gefüllt mit Übersetzung in beide Sprachen, Grammatik und Erklärungen. 

"Está bien. Puedes leer el libro. Cuando tienes preguntas, preguntame , si?", versicherte ich ihm während ich ihm das Lexikon wieder überreichte. Er könne bei Problemen so viele Fragen stellen wie er wollte. Ich würde mich über mehr Beteiligung von seiner Seite aus sehr freuen. 

Zögernd streckte er seine Hand aus. Mit der Geschwindigkeit eines Faultieres griff er nach dem Buch. Er umfasste den dicken Einband des Lexikon, verharrte einen Moment bevor er es zu sich zog. Ich ließ das Druckwerk aus meinen Händen gleiten und sah wie er es an sich nahm. 

Er sah mich für ein paar Sekunden noch erwartend an, bevor ich mich rollend zu meinem Schreibtisch drehte. Ich machte ihm nochmals klar, dass er mich jederzeit fragen könne, sollte er irgendetwas nicht verstehen. Dann widmete ich mich meiner Arbeit, im Hintergrund die Geräusche von umblätternden Seiten hörend.

Ein Lächeln schlich sich wieder auf meine Lippen. Ein angenehmes Gefühl erfüllte meinen Körper. Zufriedenheit. Vielleicht auch ein wenig Stolz. 

Innerhalb von drei Tagen kann vieles passieren. 


Und das nächste Kapitel ist draußen!

Endlich passiert hier mal was zwischen Ian und Dave...

Wer den Hobbit gelesen oder angesehen hat, weiß, was ich mit Rästelgedichten meine. Ich werd im weiteren Geschichtsverlauf ein paar mit einbauen, dann könnt ihr da mit raten. ^,^

Ansonsten, bei Fragen fragen.

Anforderungen in die Kommentare.

Wenn euch spezifisch etwas gefällt/bzw nicht gefällt dann schreibt es in die Kommis, dann werd ich in Zukunft mehr darauf achten. 

Dann bis zum nächsten Mal und vielen, vielen Dank an alle meine treuen Leser aber auch an diejenigen, die erst seit kurzem lesen.

Adiós!!

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