6. La Celda
London, 2. Februar
Die Tage strichen vorbei, ohne, dass sich viel veränderte.
Dave beschlich langsam das Gefühl, dass die Culebras sich auf einen Codex beschworen, der ihnen das Reden verbot, oder ob er überhaupt im Stande war Wörter zu formen. Die Körperscans gaben aber keinen Aufschluss auf Beschädigung oder Deformation von Stimmbändern oder Halsregion. Er überlegte, ob sein Schweigen von psychischer Natur war. Begriffe wie Mutismus schlichen sich durch seinen Kopf – aber das hatte er bisher vor allem in der Verbindung mit Kindern gehört.
Egal wie viele Versuche er startete, ihn in ein verbales Gespräch einzubinden – er traf auf harten Widerstand. Gewisse Reaktionen konnte er deuten, aber das war noch lange keine Konversation. Allgemein schien sein Patient sich nach dem Vorfall mit dem Sicherheitspersonal immer mehr zurückzuziehen. Nur wenige Male, wenn er gezwungen war, Sachmet mit auf die Station mitzunehmen, schien die harte Schale des Soldaten zu bröckeln. Es waren wenige Minuten, in denen sein Körper und Verstand nicht in höchster Alarmbereitschaft waren.
Daves Beschwerde war erfolgreich beim Obersten Sicherheitsberater eingegangen und man hatte den Kerl, der Ian belästigt hatte, für einige Wochen suspendiert und auf eine andere Station verschoben.
Den Fakt, dass ihr argentinischer Patient nicht sprechen wollte, stelle sie vor ein paar Probleme. Da war einmal die Tatsache, dass sie es schwer hatten herauszufinden, wie sehr der Weißhaarige unter Schmerzen litt. Mittlerweile erkannte Dave die Anzeichen, doch er konnte sich nur vorstellen in welcher Intensität sie Ian heimsuchten. Es war schwierig eine ausführliche Diagnose zu erstellen, auf die sie dann gezielt reagieren konnten.
Außerdem war da das Drängen des Senates. Natürlich wollten sie Antworten auf ihre Fragen.
Antworten über Ian. Antworten über die Culebras, über das südamerikanische Militär, Kontaktpersonen, Stützpunkte und noch vieles mehr. Lennard schaffte es zwar, die Generäle hinzuhalten, aber irgendwann würden sie sich dazu entscheiden eigenmächtig zu handeln. Und wenn Ian nicht die gewünschten Antworten gab, nahm das vielleicht kein schönes Ende.
Dave war allgemein sehr verwirrt. Weshalb machte er sich solche Sorgen um diesen jungen Mann? Es hätte ein einfacher Patient so wie immer sein können. Den würden sie behandeln und das war es dann auch. Was sollte es ihn noch weiter kümmern? Stattdessen fand er nachts schlechter in den Schlaf, weil er über Tagebucheinträge grübelte und überlegte, wie man ihn aus seiner Schale herauslocken könnte.
Wenn sich Arzt und Patient nicht anschwiegen, schlief der Argentinier und das sehr oft. Und oft sehr schlecht. Sein Körper wollte sich die Ruhe holen, die er brauchte, um zu heilen, doch nach wenigen Stunden wurde er regelmäßig von schrecklichen Bildern heimgesucht. Sie schreckten ihn auf und ließen ihn erst Stunden später wieder einschlafen. Nachts hingegen musste das Team feststellen, dass er kein Auge zu machte. Dave konnte sich schon vorstellen, woher das Verhalten kam. Das Tagebuch schilderte es deutlich und war nicht allzu weit entfernt von dem, was der Argentinier bereits durchmachte.
Das Leben anderer zu nehmen und Kameraden auf dem Schlachtfeld fallen zu sehen, hinterließ Spuren. Mal abgesehen von all den anderen Grausamkeiten, die ihm im Militär zudem noch widerfahren sind. Posttraumatische Belastungsstörung waren keine Seltenheit bei Soldaten.
Ein Leidensthema war die Sache mit der Hygiene. Für einen Ausflug unter die Dusche oder Badewanne war ihr Patient deutlich zu wackelig auf den Füßen. Sie hatten es einmal probiert und der junge Mann wäre beinahe wieder gestürzt, weshalb sie es bei einer gründlichen Katzenwäsche beließen. Mit aufgerichteter Bettlehne war aufrechtes Sitzen kein Problem. Dave hatte es überrascht, dass der Weißhaarige bis jetzt kein einziges Mal den engen Kontakt ausgenutzt hatte, um ihm eine zu verpassen. Seine Wunden heilten gut und brachten ihm seine Kraft zurück. Stattdessen war ihm der ganze Waschvorgang eher peinlich. Weswegen Dave auf extra Sicherheitspersonal verzichtete und dem Argentinier das Waschen der Schamregion selbst überließ. Es war zwar nichts, was Dave nicht schon gesehen hätte, aber er wollte seinen Patienten noch immer respektieren und ihm das Unwohlsein ersparen. Vielleicht würde er sonst doch noch irgendwann mit einem blauen Auge nach Hause kehren. Dave hatte es immerhin geschafft ihrem Patienten einen Haargummi unterzujubeln, um die beinahe schulterlangen Haare zusammenzubinden, die ihm sonst ständig in die Stirn fallen würden.
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Mit wenig Minuten Verspätung erreichte Dave den Sicherheitstrakt. Tessa schien schon ungeduldig auszuharren. Als er ankam, konnte sie es gar nicht erwarten, endlich zu verschwinden.
„Du hast dich ja schick angezogen. Hast du heute ein Date?", fragte Dave eigentlich scherzend, mit beeindrucktem Blick auf Tessas Outfit. So kannte er sie gar nicht. Ihre Haare waren verspielt in eine Frisur gesteckt und eine dezente, aber betonende Farbe hob ihre blauen Augen hervor. Die roten Lippen waren auf den gleichfarbigen Rock abgestimmt, während sie auf hohen Schuhen fast einen halben Kopf größer erschien als Dave.
„Danke", antwortete sie und begann ihre Sachen zusammenzupacken. „Weil du schon so fragst: Ja, ich habe durchaus ein Date. Und deswegen werde ich mich jetzt auch auf den Weg machen. Ich bin eh schon spät dran."
Sie informierte ihn kurz, was über den Tag geschehen war. Es gab ein paar Sachen für ihn zu tun, aber die meiste Zeit konnte er wahrscheinlich am Tagebuch sitzen. Aber, als hätte er es bereits geahnt, hatte er sich heute vorbereitet. Tessa konnte ihren Augen nicht glauben als Dave ein dickes Wörterbuch auf den Tisch fallen ließ.
„Ich schwöre dir, du bist vermutlich der einzige Mensch in dieser Stadt, der noch ein gedrucktes Wörterbuch benutzt", meinte sie ein wenig neckend. „Es gibt doch mittlerweile genug moderne Übersetzer."
„Hey, nichts geht über ein gutes altes Wörterbuch. Ich mag es halt gerne antik und ich habe damit bestens Spanisch und Englisch gelernt, danke", entgegnete ihr der Braunhaarige und nahm die Bemerkung ein bisschen persönlich.
Natürlich gab es unzählige bessere und modernere Methoden zur Recherche und Übersetzung, aber seine Eltern hatten ihn damit großgezogen - und damit meinte er nicht, dass ihnen der fette Schinken als Folterinstrument diente, wenn er einen Klapps auf den Hinterkopf verdient hatte. Während er zweisprachig aufgewachsen war, hatte es ihm gute Dienste erwiesen. Er konnte sich an den Augenblick entsinnen, an dem er seine ersten Worte in dem Wörterbuch selbst lesen konnte. Und offensichtlich, spielte auch ein gewisser sentimentaler Aspekt mit. Wie gesagt – sein Herz hing an alten Dingen. Vor allem, wenn sie ihn an seine Kindheit und Jugend erinnerten.
Noch bevor Tessa ihn weiter piesacken konnte, erinnerte er sie daran, dass sie es ja eigentlich eilig hatte. Die Blondine verabschiedete sich und Dave wünschte ihr mit „Na, dann viel Erfolg!" Glück bei ihrer bevorstehenden Verabredung. Er hingegen, stellte sich bereits auf eine weitere lange Nacht ein. Ian schien noch zu schlafen, aber das war manchmal schwer zu sagen. Er war gut im So tun als ob. Zum Glück - oder zu seinem Pech - war es ja nicht so, als hätte er nichts zu tun.
Das Tagebuch ersparte ihm keine Grausamkeiten. Lehrer machten den Unterricht zur Hölle und Mitschüler entpuppten sich als fiese Schlangen, die jeden Moment nutzten, Rekruten gegeneinander auszuspielen. Aber er erzählte auch von seinen Freundschaften mit seinen Zimmergenossen, die selten waren, aber dafür umso detaillierter aufgezählt wurden.
Es war ein wenig absurd, aber oft war es für Dave wie ein spannendes Buch, das er nicht weglegen wollte. Nur musste er sich dann ins Gedächtnis zurückrufen, dass es sich hier um echte Erlebnisse handelte.
Die Regelmäßigkeit setzte sich mehr oder weniger fort. Hinzu kamen Erzählungen über Übungseinsätze und erste kleinere Gefechte. Ian hatte Probleme, mit den Anforderungen mitzuhalten und das erste Mal, als seine Kugel einen lebenden Körper traf, konnte er nächtelang nicht schlafen. Dave tat es ihm fast gleich, so ausführlich und differenziert, wie er seine Träume beschrieb.
Während er Eintrag für Eintrag durcharbeitete, fiel ihm irgendwann ein großer Zeitsprung dazwischen auf. Als er die ersten Dokumentationen nach fast zwei Monaten in der Hand hielt und durchlas, wusste er noch nicht, worauf er sich gefasst machen sollte.
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466. Eintrag, 2048
Ich glaube heute ist der 29. Dezember, also frohe Weihnachten. Ich konnte nicht feiern, ich war ein wenig... verhindert...
Ich bezweifle eh, dass sich dazu die Gelegenheit geboten hätten.
Leider habe ich richtig Mist gebaut - und habe mir damit mein eigenes Grab gegraben und nebenbei noch einen guten Freund verloren.
Es passierte beim Training auf dem Feld. Nicolás hatte seit Tagen mit einer schweren Erkältung zu kämpfen, war aber trotzdem gezwungen, teilzunehmen. Er fiel immer weiter zurück und wurde langsamer. Ich mäßigte mein Tempo, ließ mich zu ihm zurückfallen und nahm ihm sein Gepäck ab, damit er leichter laufen konnte.
Aber das blieb leider nicht weiter unbemerkt. Unser Aufseher hatte gesehen, was ich tat und pfiff uns zu ihm herüber. Er fragte, wie dreist ich sein konnte, in einem fairen Wettkampf zu betrügen. Einfach nur unglaublich, dass sie es „Wettkampf" nannten.
Nun, es war das erste Mal, dass es mich so zur Weißglut brachte und ich widersprach. Das erste Mal in all den Jahren wagte ich es, mit einem Stabgeneral zu diskutieren.
Wenn ich jetzt daran denke, war das vielleicht der Punkt, an dem ich alles hätte verhindern können. Ich hätte wissen sollen, dass ich damit nichts bewirken konnten. Vielleicht wäre Nicolás dann nicht...
Mein Aufstand hatte nichts weiter bewirkt, als noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu lenken. Und zwar Aufmerksamkeit, die ich in mehreren Wegen noch bereue würde.
Aus den Zuschauerrängen trat Ramiro Garía hervor, einer der obersten Gouvaneure, der ohne große Worte Stellung vor Nicolás bezog und seine Waffe zückte.
Er richtete die Pistole aus und mit Grauen musste ich mitansehen, wie er abdrückte. Wenn es still ist, kann ich noch immer das Hallen des Schusses hören, wie er über das Übungsfeld streift. Der Schall klingelt selbst jetzt noch durch meine Ohren.
Ich konnte mich nicht rühren und sah nur, wie Nicolás mich mit großen Augen anblickte. Seine Hände legten sich auf die Schusswunde an seinem Bauch.
Es schien mir wie eine Ewigkeit vorzukommen, als die Füße meines Freundes nachgaben und sein Körper zu Boden kippte.
Der Gouvaneur schlich um mich wie eine Katze um seine Beute.
„Was für eine Schande... Du willst ihm bestimmt helfen, huh?" Seine Stimme war wie Gift, das durch meine Adern floss. „Aber alles, was du jetzt noch tun kannst, ist ihn von seinem Leiden zu erlösen. Denn...", flüsterte er in mein rechtes Ohr. „...Schwächlinge können wir hier nicht gebrauchen."
Ich spürte, wie mir eine Pistole in meine zitternde Hand gedrückt wurde. Die Finger schlossen sich um den eiskalten Griff und ich konnte sie nicht abschütteln, als sich eine große behandschuhte Hand über die meine legte.
Mein Körper war wie der einer Marionette. Er wollte mir nicht mehr gehorchen als meine Fingerkuppe über den Abzug geschoben wurde. Ein wenig Druck reichte aus, die Pistole schoss.
Ich kann bis jetzt den Anblick nicht vergessen, wie sich die Kugel aus der Pistole in den Schädel meines Freundes bohrte. Sein Körper wurde endgültig still und sackte in sich zusammen.
Alle Sicherungen, die mich zurückgehalten hatten, brannten durch – allerdings brachten es nichts weiter, außer weitere Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.
Ich wurde zu Boden gerissen und meine Arme auf den Rücken gedreht, während ich meinen heißen Tränen hinterherblickte, die zu Boden gingen.
Ich bekam meine Strafe. Für Ungehorsam wurden mir fünf Tage „la Celda" verordnet. Ich hatte bisher nur Gerüchte und Flüchtiges von der Celda gehört. Es war eine Zelle, die sich keiner wünschte, zu sehen. Man wurde abgeschottet von allen Kontakten. Selten sah man Überlebende, die aus der Celda wieder herauskamen.
Nun jetzt im Nachhinein kann ich sagen: Es ist weitaus schlimmer.
Ich habe tagelang in der absoluten Finsternis verbracht. Ich hatte ausgeharrt, bis ich verstanden habe, was so schlimm an diesem Ort war.
Man begegnete seinen schlimmsten Albträumen.
Zuerst verlor man jedes Zeitgefühl. Minuten fühlten sich an wie Stunden, Tage wie Wochen. Ich versuchte, die Tage an den Wänden zu zählen, aber es wurde schwerer und schwerer das Gefühl dafür zu behalten. Es gab keine Routine. Nichts, an dem man sich festklammern und orientieren konnte. Nach wenigen „Tagen" waren meine Versuche der Dokumentation nutzlos. Ich konnte Tag und Nacht nicht mehr unterscheiden. Mein Körper wusste nicht mehr, wann er schlafen sollte. Es war immer dunkel. Ein Abgrund, wohin das Auge blickte.
Alles passierte in Schwärze und Stille. Das Denken, das Schlafen und selbst das Essen.
Sie kamen, ohne einen Mucks zu machen. Die Nahrung musste ich mir ertasten und ich wusste erst, was es war, als ich es probierte. Die Details werde ich mir und anderen ersparen.
Irgendwann hatte ich mir einen Stammplatz direkt neben der Türe eingerichtet. Es war einfacher, an meine Mahlzeit zu gelangen.
Alle paar Male wurde ich geduscht. Eiskalt und mit Meerwasser. Man kam, holte mich und führte mich durch die plötzlich hell erleuchteten Gänge. Die weißen Flure reflektierten das Licht und brachten meine Augen zum Tränen. Das salzhaltige Wasser wirkte wie Sandpapier, als ich mich abtrocknete. Außerdem setzte sich das weiße Mineral überall an meinem Körper ab – in den Ohren, auf meiner Haut und in den Haaren. Überall fand ich Reste, die ich tagelang noch wegkratzen konnte. Es klebte und entzog der Haut jegliche alle Feuchtigkeit.
Zu dem Zeitpunkt hatte ich vermutlich alles probiert.
Ich hatte auch gemerkt, dass man in der Dunkelheit viel Zeit zum Nachdenken hatte. Über Vergangenes, über Entscheidungen, über Zukünftiges.
Die Stunden zogen sich und wurden zäh wie Gummi. Mittlerweile war ich mir sicher, dass ich weitaus länger hier saß als fünf Tage.
Nach einer langen Zeit in Selbstzweifel wurde plötzlich außerplanmäßig die Türe geöffnet und irgendetwas daran fühlte sich anders an. Man zog mich auf die Füße und zog mich aus meiner Zelle heraus. Schweigend führten die Aufseher ihre Befehle aus. Der Raum, in dem sie mich führten, war genauso weiß wie der Rest des Labyrinths. Inmitten der vier Wände waren zwei Stühle platziert.
Auf den einen wurde ich gedrückt, während die zwei Offiziere sich hinter mir positionierten. Es vergingen Minuten, in denen nichts passierte. Plötzlich schwang die Tür hinter mir auf und jemand trat herein.
Ich war Ramiro Garía nur wenige Male gegenübergestanden, aber der Vorfall mit Nicolás hatte mich umso mehr überzeugt, dass der Mann wie eine Pest war.
Neben der hohen Stellung des Gouvaneurs im Militär, war er zudem auch noch der Befehlshaber der Culebra Spezialeinheit, von der ich hier und da schon gehört hatte. Das ich ihn zu diesem Zeitpunkt schon nicht leiden konnte, würde sich in Zukunft nicht wirklich ändert.
Mit einer Seelenruhe schritt er auf den freien Platz mir gegenüber zu und setzte sich.
„Nun, Mister Álvarez?", sprach er lässig und mit einem hämischen Grinsen im Gesicht. „Wie gefällt Ihnen unsere Spezialabteilung? Scheint so, als ob du dich gut eingelebt hast."
Ich ignorierte seinen Kommentar. Ich wollte wissen, warum ich hier war.
„Was wollen Sie von mir?"
„Hah... Verstehe. Kein Smalltalk also. Nun, Ian, ich habe von dem der Vorfall vor ein paar Tagen gehört und muss mich entschuldigen. Ich bedaure den Tod deines Kameraden."
Ich spürte, wie ich meine Hände vor Wut zu Fäusten ballte. Hätte ich keine Fesseln an und zwei Schatten, die mich auf den Stuhl drückten, wäre ich schon längst auf mein Gegenüber losgegangen. Alles gelogen. Wie konnte er nur so dreist sein und in dieser Situation Nicolás auch nur erwähnen.
„Leider muss ich sagen, dass du aber zu schade bist, um dich wegzuwerfen. Deine Tests sagen, du bist einer der Besten unter deinen Rängen. Werte, die über dem Durchschnitt liegen. Es wäre doch eine Schande, wenn du das nicht nutzen würdest..."
Der uniformierte Mann lehnte sich nach vorne und verschränkte diplomatisch seine Finger. Endlich kam er zum Punkt.
„Ich möchte dich in meiner Spezialeinheit: den Culebras. Dein Talent ist dort gut aufgehoben. Meine Bedingung ist, dass du beitrittst und auf den Eid schwörst. Dann bist hier du hier raus. Ganz einfach."
Es hörte sich einfach zu leicht an. Ich dachte nicht einmal dran.
„Vergiss es!", stieß ich zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und am liebsten hätte ich ihm in seine hässliche Visage gespuckt. Kurz war ich davor es auch zu tun. Der Gouverneur lächelte mit falscher Freundlichkeit. Seine Hand holte aus und hinterließ einen brennenden Schmerz auf meiner Wange. Er stellte die Frage wieder und wieder. Die Antwort war immer gleich. Die Reaktion darauf war immer gleich.
Erst als ich nahe der Bewusstlosigkeit war und mein Gesicht sich anfühlte als ob man mir die Haut beim lebendigen Leibe abgezogen hätte, wandte sich der Kommandant abrupt ab.
„Dann lassen wir dir noch ein wenig Bedenkzeit. Ich glaube, du hast die Situation noch nicht so ganz begriffen..."
Garía erhob sich und trat ohne weitere Worte aus dem Raum. Man brachte mich zurück in mein dunkles Loch, um mich weiter schmoren zu lassen.
Bis sie mich wieder holten, um die ganze Prozedur zu wiederholen. Sie kamen plötzlich und unerwartet. Es war immer der gleiche Raum, die gleichen Stühle, die exakt gleichen Fragen und die gleichen Reaktionen. Die Einzigen, die sprachen, waren der Ramiro Garía und Ich.
In der Zelle wurde es von Mal zu Mal schlimmer. Ich begann, Hirngespinste zu sehen. Trugbilder in der Dunkelheit. Stimmen aus jeder Ecke und Ritze. Obwohl Grabesstille herrschte, konnte ich sie schreien hören.
Flüstern.
Heiseres Keuchen.
Undeutliches Murmeln.
Flehendes Betteln.
Von allen Seiten krochen sie auf mich zu. Manchmal meinte ich, Stimmen wiederzuerkennen.
Nicolás.
Die Stimme meiner Eltern.
Die Stimme des Gouverneurs, der immer die gleiche Frage stellte.
Ich versuchte sie auszublenden, als ich es nicht mehr aushielt. Doch selbst als ich meine Ohren zuhielt und versuchte, sie mit dem Stoff meiner Ärmel zu stopfen, half es nichts. Sie waren in meinem Kopf.
Ich schlief fast nicht mehr. Die Angst, dass die Dunkelheit noch schwärzer werden und mich verschlingen könnte, war einfach zu groß.
Ich hatte mir immer eingeredet, dass ich stärker wäre. Das taten vermutlich viele. Aber Hochmut kam wie bekanntlich vor dem Fall. Ich war genauso schwach wie alle anderen.
Ein Häufchen Elend.
Nutzlos.
Und irgendwann kam der Tag, an dem ich es nicht mehr aushielt.
Ich konnte nicht mehr.
Ich war am Ende.
Ich...
Ich gab auf...
In der nächsten Sitzung stimmte ich dem Deal zu. Garia verließ an diesem Tag das Zimmer mit einem siegessicheren Lächeln. Er hatte genau das bekommen, was er wollte.
Und ich hasste es. Ich hasste jedes einzelne Wort, das sie über „Ehre" und „Mut" faselten. Denn das hatte nichts damit zu tun. Der Gouverneur bekam einfach nur das, was er wollte. Und ich hatte keine andere Wahl gehabt. Und das von Anfang an.
Heute ist mein letzter Tag hier. Es fühlt sich so seltsam an, wieder an der frischen Luft zu sein. Von überall starrt man mich mit großen Augen an. Man murmelte, dass ich einer derjenigen war, der die Celda lebend verlassen hat. Vermutlich liegt es auch an meinen Haaren, die über die Zeit silbrig weiß geworden sind. Irgendwie kann ich schon verstehen, warum sie mich meiden. Seit meiner Wiederkehr hat keiner mit mir gesprochen. Oder besser gesagt – ich spreche nicht. Irgendwie fühlt sich meine Stimme nicht richtig an. Ich traue ihr nicht mehr, nach alldem was passiert ist...
Ich werde gleich eine „Ehrenmedaille" bekommen. Oder so hatte es zumindest der Oberste Offizier genannt, der mich zur Culebra befördert hatte. Vor allen Leuten würde ich den Eid ablegen und meine Loyalität schwören. Es werden meine letzten Abschiedsworte sein.
Tomás und Flavio habe ich seit über einem Monat nicht getroffen und ich werde sie vermutlich erst auf dem Schlachtfeld wiedersehen. Möge euch jemand – Gott weiß wer – beschützen.
Auf dass wir uns gesund und munter wiedersehen. Irgendwann.
...
Verzeih mir.
Verzeih mir, Madre, dass ich dich und Padre nicht beschützen konnte. Dass ich zu schwach war, um auch nur irgendetwas auszurichten.
Ich bitte dich um Vergebung, Nicolás. Ich hätte nicht widersprechen sollen. Ich hätte einfach meinen vorlauten Mund halten sollen. Dabei wollte ich nur helfen...
Stattdessen habe ich damit das Gegenteil erreicht. Dein Tod war vollkommen unnötig und ich weiß nicht, wen ich mehr hassen sollte. Ich schwöre dir, dass ich es ihnen heimzahlen werde.
Ich werde sie alle vernichten.
Sie werden bereuen, was sie den Leuten hier antuen.
Und wenn ich persönlich dafür sorgen muss.
--.--
Als Dave die letzten Worte fertiggelesen hatte, erschauderte er. Das war weitaus schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte. Er wusste bereits, dass das Militär zu drastischen Mitteln griff – aber mit einer solchen Grausamkeit hätte er niemals gerechnet.
Er blätterte verzweifelt zur nächsten Seite, um zu sehen, wie es weiterging, doch die Einträge wurden rarer und stattdessen füllten viele kleine Notizen die weißen Seiten. Sie sahen aus wie Koordinaten mit südlichem und nördlichen Breitengraden, dazu gekitzelte Worte wie südwestliches Waffenlager, Rekrutenzentrum und so weiter. Er ging sie durch und realisierte, dass es militärische Stützpunkte waren. Auf einer groben selbstgemalten Karte der Südamerikanischen Staaten verteilten sich kleine rote Punkte wie Standortmarkierungen. Eine andere Seite beherbergte Namen. Er schätzte, dass es fast um die 70 Stück waren, die aufgezählt und mit Rang und Standort versehen waren. Ein paar wenige von ihnen waren mit krakeligen Linien durchgestrichen
Dazwischen reihten sich immer wieder ein paar Tagebucheinträge. Später konnte Dave sagen, dass es eher ein Gefecht-Logbuch war, wo der Argentinier haargenau dokumentierte wann, wo und wer mit dabei war. Er schrieb von seinen Missionen, Seminaren und einem Gerät namens "Almirez" , das Dave als "Mörser" übersetzte. Viel konnte er sich Drau ter aber nicht vorstellen.
Von da an setzte auch Ians Stillschweigen ein. Er hatte seine Drohung wahr gemacht, als er sagte, der Eid würden seine letzten Worte sein. Seine Kollegen bei den Culebras schienen ihn nur aufgrund seiner herausragenden Fähigkeiten zu behalten. Dave konnte sich sogar vorstellen, dass sie dieses Schweigen sogar als Vorteil nutzten. Immerhin würde er zumindest in einem verbalen Gespräch keine Information ausplappert können. Nach den Details kam meist eine weitere lange Liste mit vielen Namen. Er fand, dass kein Name zweimal erwähnt wurde und mit „Descanse en paz" wurde ihm auch schnell klar weshalb.
Ruhet in Frieden.
Es war eine Todesliste. Und von dem, was er da zählte, waren es nicht gerade wenig. Er ertappte sich dabei, wie er überlegte welche dieser Leute Ian gut gekannt hatte. Welche Freunde von ihm waren. Er ging die Aufzählungen ein paar Mal durch, fand aber keinen Flavio oder Tomás dabei. Allerdings musste das noch gar nichts heißen.
Es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, sich zum Abtippen des Eintrages zu überwinden. Die Notizen würde er einscannen und beilegen. Aber jetzt brauchte er erstmal einen Kaffee. Und zwar einen starken.
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