5. Schweigen

(Passagen in kurisver Schrift werden in Spanisch gesprochen)

London, 25 Januar

Die letzten 48 Stunden waren ruhig verlaufen. Dave hatte seinen Vater dazu überreden können, dass er sich die nächsten Tage frei nahm und sich dafür um Sachmet kümmerte. Den Schlüssel zu seiner Wohnung hatte er ja. Das Schlafmittel hatte dieses Mal gut gewirkt und ließ den Argentinier in der Bewusstlosigkeit treiben. Vermutlich war es auch die Erschöpfung, die ihn im erholsamen Schlaf gehalten hatte. Manchmal flatterten seine Augen und er machte den Anschein, dass er kurz an der Oberfläche seines Bewusstseins kratzen würde - nur um kurz danach wieder in seinem Dämmerzustand zu versinken.

In seinen Tagebucheinträgen schrieb er von der täglichen Routine, die sein Leben wie eine Krankheit einnahm und der er nicht entfliehen konnte. Frühstück. Apell. Training. Unterricht. Abendessen. Die Schmerzen, die der Soldat abends mit ins Bett nahm, konnte sich Dave nur in seinen wildesten Träumen vorstellen. Es war ein Teufelskreislauf, der sich immer und immer wieder wiederholte. Einer der niedergeschriebenen Ereignisse stach besonders heraus.

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66. Eintrag, 21. Juli 2047

Den heutigen Tag werde ich so schnell nicht vergessen. Ich würde sogar sagen, dass es bisher einer der schlimmste Tag war seit wir hier angekommen waren.

Am Morgen war noch alles so wie immer. Tomás war immer der erste, der wach wurde - meist gefolgt von mir. Flavio und Nicolás die Schnarchnasen, mussten wir oft aus den Betten schmeißen, um es noch rechtzeitig zum Morgenapell zu schaffen. Nach uns kamen nur noch wenige Nachzügler, bevor man mit der Zählung begann. Wir alle hatten eine Nummer, nach der wir uns einordnen mussten. Wir lernten sehr schnell, dass wir uns besser gleich merkten, wo wir standen. Beim Vorbeigehen scannten die Aufseher den Chip im Unterarm und wir gaben Nummer und Name. So prüften sie die Anwesenheit.

Fehlte eine Nummer, war sofort klar, dass ein Rekrut fehlte.

Das war zum Glück noch nicht vorgekommen. Bis jetzt. Normalerweise waren die Anwärter fix und die Zählung war innerhalb weniger als zehn Minuten beendet.

Die Zähler standen abseits und tippten etwas in die Bildschirme in ihren Händen, bevor einer von ihnen zum obersten Aufseher trat. Ich warf Tomás, der in meiner Nähe stand, einen Blick zu, der genauso verwirrt zurückblickte. Dann dröhnte die Stimme des Vorgesetzten durch die Lautsprecher über den Platz.

„Aufgepasst, Rekruten! Nummer 1045, Carlos Felíz, soll sich umgehend hier vorne melden. Carlos Felíz! Nummer 1045!"

Schweigen breitete sich aus und alle warteten, dass sich Carlos melden würde. Einige schauten sich suchend um, doch einer ihrer Rekruten schien zu fehlen.

„Zimmergenossen von Carlos Felíz, vortreten!"

Langsam lösten sich drei Soldaten aus den Reihen und traten an die vorderste Front.

„Wissen sie über den derzeitigen Aufenthalt ihres Gesellen Bescheid?", fragte er sie mit kräftiger und bestimmender Stimme. Alle drei verneinten gleichzeitig. Unser oberster Befehlshaber schien nicht wirklich zufrieden zu sein und musterte sie mit einem Stirnrunzeln.

„Meine Herrschaften", begann er dann und lief vor den Rekruten auf und ab. „Ich denke nicht, dass ich sie darauf hinweisen muss, dass jede mir vorenthaltende Information Konsequenzen nach sich zieht..."

Er ließ den Satz ins Leere laufen und die Antwort der Zimmergenossen war prompt.

„Natürlich, Sir!"

„Ja, Sir!"

„Verstanden, Sir!"

„DANN GEBEN SIE MIR INFORMATIONEN, MIT DENEN ICH ETWAS ANFANGEN KANN!!!!"
Die Nachricht war nun selbst in den letzten Reihen angekommen und dafür hatte er kein Mikrofon gebraucht. Nach einer Schreckenssekunde meldet sich einer er drei jungen Männer zu Wort.

„Mit Verlaub, Sir. Wir haben ihn selbst seit heute Morgen nicht mehr gesehen. Gestern Abend war das letzte Mal, dass wir ihn gesehen haben."

Der Oberst grummelte etwas vor sich hin, bevor er den drei Rekruten ein Zeichen zum Abtreten gab. Die kehrten schnell in ihre Reihe zurück als die Stimme wieder durch den Lautsprecher hallte.

„Es scheint so, als ob es einer eurer Kameraden gewagt hat das Weite zu suchen! Bis er zurück ist, bewegt sich Keiner vom Fleck! Wer es wagt, verbringt die nächste Woche in der Celda!"

Damit beendete er seine Rede und verließ den Platz mit einigen der anderen Anwärter und ließ die verdutzten Rekruten auf dem Platz stehen. Uns blieb nichts anderes übrig als abzuwarten, was passieren würde. Bis jetzt gab es nur Geschichten von Fluchtversuchen, die alle nicht schön endeten. Meistens sah man sie nie wieder - aber nicht, weil sie entkommen waren.

Nach 30 Minuten hatte es dann begonnen leicht zu nieseln, dass sich aber ganz schnell zu einem heftigen Platzregen entwickelte. Die Wassermassen, die vom Himmel prasselten bildeten große Pfützen auf dem Schotterplatz und wir standen mitten drin. Der Regen kroch mir in die Schuhe und nach wenigen Minuten waren wir von oben bis unten nass. Schon bald fühlte ich seine Schultern durch das das unermüdliche Trommeln nicht mehr.

Grob geschätzt, standen wir fünf Stunden. Gegen Mittag brachte man den fehlenden Rekruten zurück. Man hörte ihn schon von weitem schimpfen und fluchen. An beiden Armen gepackt wurde er auf den Platz gezerrt. Gehen konnte er nicht - zumindest nicht in dem Zustand in dem sich seine Füße befanden. Es war wahrlich kein schöner Anblick.

Mit einem Ruck wurde er in den Schlamm geworfen. Bevor er wieder aufstehen konnte, drückte ihm der Hauptvorsteher seinen dreckigen Stiefel ins Gesicht und schickte ihn zurück zu Boden.

„Da hast du deinen Kameraden ja ganz schön was eingebrockt! Sie durften wegen dir seit fast fünf Stunden im Regen stehen..."

Der Junge gab ein schmerzhaftes Grunzen von sich, als ihm ein Fuß in den Brustkorb gerammt wurde. Finger gruben sich in sein Haar und zerrten sein Gesicht himmelwärts.

Das hier... soll allen von euch eine Lehre sein!" Der Aufseher richtete seine Stimme an alle Soldaten auf dem Platz. „Wer es wagen sollte, zu türmen oder auch nur den Gedanken dazu zu hegen, dem wird ein kurzes Ende bereitet!"

Nummer 1045 sackte in sich zusammen als der Griff um seinen Haarschopf sich lockerte. Er bekam keine weitere Chance mehr aufzustehen, denn schon im nächsten Moment hatte der Aufseher seine Pistole in der Hand. Er zielte auf Carlos Felíz und drückte ab. Ich zuckte zusammen, als der Schuss über den Platz hallte.

„Also überlegt euch gut, was ihr hier tut! Abtreten!"

In der Kantine gab man uns trotz allem eine kleine Stärkung, doch keiner verspürte ein Hungergefühl. Ich zwang mich trotzdem zum Essen, sonst würde ich das Training nicht überleben. Ich versuchte die Geschehnisse mit Training und dem Unterricht auszublenden, doch immer wieder tauchte der leblose Körper von Nummer 1045 in meinem Kopf auf. Immer wieder sah ich die toten Augen, die beim Aufprall der Kugel nach hinten rollten und sie verfolgten mich bis in den Schlaf.

Selbst Tage später schien das Echo des Schusses über den großen Plaza zu hallen. Trotz allem, pendelte sich der Alltag schnell wieder ein. Es werden trotzdem Bilder sein, die ich so schnell nicht mehr vergessen werden.

Es führte mir nochmals vor Augen, an welchem Ort wir hier gelandet waren. Nachts legte ich meine Hände um die Kette, die meiner Mutter gehört hatte und betete, dass sie mich hier rausholen sollte. Leider wurden meine Bitten nicht erhört. Dennoch tat es gut, meine Familie und dadurch mich selbst nicht zu vergessen.

Ian Álvarez

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Als Dave den Eintrag fertig getippt hatte, musste er erstmal kräftig schlucken. Er fragte sich langsam, wie Ian mit all diesen schrecklichen Ereignissen fertig wurde. Um an diese schon fast traumatischen Erinnerungen nicht zu zerbrechen, musste er eine unglaubliche psychische Resilienz aufgebaut haben. Vielleicht war es das Tagebuch, das ihm dabei half. Vielleicht hatte er auch andere Mechanismen, die es ihm ermöglichten, bei Verstand zu bleiben.

Dennoch war er schockiert über die Geschehnisse, die sich auf der Südamerikanischen Seite ereigneten. In den Nachrichten hatte er gehört, dass in den letzten Jahren viele kleinere Vororte und Dörfer von der Südamerikanischen Landkarte fast vollkommen ausradiert worden waren. Keiner schien etwas dagegen unternehmen zu können. Und Dave wurde langsam klar, warum.

Gedankenversunken lud er die bisherig verfassten Dokumente auf einen USB und speicherte sie ihn einem Ordner. Er war also fast fertig damit, seinem Vater die ersten Berichte zu geben, die er vorlegen konnte. Während er in die Tasten seines Computers hämmerte, wurde er das Gefühl nicht los, dass er beobachtet wurde.

Er sah durch die Scheibe hindurch auf das Krankenbett hinüber und traf auf zwei interessierte blaue Augenpaare.

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Als Ian zu Bewusstsein kam, war es um einiges sanfter als bei seinem ersten Mal. Ein dumpfes Dröhnen in seinen Gliedern begleitete ihn an die Oberfläche seines Bewusstseins, bis er vollkommen in der Gegenwart angekommen war. Er blinzelte mehrmals, um die Müdigkeit aus seinen Augen zu verbannen. Das Stechen an seiner Schulter, mit dem er in die Bewusstlosigkeit gesunken war, nahm er nur noch als heißes Pochen wahr.

Er war alleine im Raum und auf den ersten Blick wirkte es so, als hätte sich nichts verändert. Bis er schwere Gewichte um seine Hände spürte, die davor nicht da waren. Mit einem kurzen Rucken zog er daran und mit einem Sirren und ein wenig Widerstand legten sie ein Drahtseil frei, dass von seinen Handschellen links und rechts zu einem angebrachten Kasten am Bett führten. Er testete, wie weit sich das Drahtseil ausrollen lassen würde.

Eine Bewegung im Nebenraum machte ihn darauf aufmerksam, dass er doch nicht so alleine war, wie vorerst gedacht. Durch die Glasscheibe konnte er einen jungen Mann mit braunen strubbeligen Haaren erkennen. Irgendwo in seinem Gedächtnis meldete sich eine Erinnerung, die ihm sagte, dass er ihn schon mal getroffen hatte. Er hatte ihm sogar seinen Namen gesagt. Er fing mit einem ‚D' an, aber mehr wusste Ian nicht mehr.

Der Braunhaarige saß über einen Bildschirm gebeugt und schien zu arbeiten. Er hatte bis jetzt noch nicht bemerkt, dass sein Patient wach war. Der Blick des Arztes huschte ständig von einer Seite auf die andere und immer wieder blickte er ins Abseits, bevor er sich seinem Computer wieder zuwandte. Für ein paar Minuten sah der Argentinier ihm dabei zu, wie er seiner Tätigkeit nachging. Eine Reihe von Emotionen spielgelte sich nacheinander auf dem Gesicht des anderen ab. Ian erwischte sich dabei wie er darüber grübelte, was die Gesichtsausrücke widerspiegeln sollten. Verwunderung? Furcht? Interesse? Blankes Entsetzen?

Der Arzt schien für kurze Zeit über seinem Programm zu grübeln, bevor er aufschaute und Ian direkt in die Augen blickte.

Der Argentinier fühlte sich ertappt und erstarrte im Bett zu Eis. Sekundenlang trafen beide Augenpaare aufeinander.

Dann klappte ‚D' seinen Computer zu, stand auf und öffnete die Tür. Er trat zu Ians Bett und der Weißhaarige wagte es nicht, zu atmen. Er blieb liegen (was blieb ihm anderes übrig) und wartete ab, was passieren würde. Er erwartete das Schlimmste - machte sich auf alles gefasst.

Doch der Arzt zog einen kleinen Hocker unter der Abstellfläche neben dem Bett hervor und ließ sich darauf nieder. Ian zuckte ruckartig zusammen, als dieser näher herangerollt kam und der Braunhaarige hielt sofort inne.

‚D' schenkte ihm ein unsicheres Lächeln.
„So sieht man sich wieder", sprach er mit überraschend angenehmer Stimme und - zu Ians totaler Überraschung - in einem fast akzentfreien Spanisch.

„Tut mir leid für diese Umstände, aber nach dem letzten Vorfall wurden die Sicherheitsvorkehrungen verschärft."
Er deutet auf die Handfesseln um seine bandagierten Gelenke. Doch der Argentinier wagte es nicht, den Blick von dem Mann im weißen Kittel abzuwenden. Er war zwar an das Bett gefesselt, aber nicht wehrlos.

Die ausbleibende Antwort machte Dave ein wenig nervös. Er fühlte den bohrenden Blick seines Patienten auf sich ruhen und er hätte schwören können, dass er ein Loch in ihn hineinbrannte.

„Ich hoffe, du konntest dich von deinem ersten Schock erholen. Das war ein ziemlich ungünstiges Timing, das meine Kollegen da getroffen haben. Wir waren ein wenig überrascht, dass du schon so früh wieder zu Bewusstsein gekommen bist."

Er merkte gar nicht, wie er abschweifte und einfach weiterredete, in der Hoffnung ein Gespräch zu beginnen. Doch sein Gesprächspartner blieb stumm. Er warf einen Blick auf die Monitore neben ihm und checkte die Werte.

„Die Atemmaske können wir vermutlich schon entfernen. Die Sedierung scheint fast aus deinem System verschwunden zu sein. Das Schmerzmittel sollte eigentlich noch ein paar Stunden wirken. Aber lass mich zur Sicherheit fragen, nachdem sie Sedierung bei dir nicht wirklich angeschlagen hat: Verspürst du gerade große Schmerzen?"

Es dauerte einen kurzen Moment, aber dann sah er das angedeutete Kopfschütteln des Argentiniers. Er hatte sich zwar mehr erhofft, aber es war besser als nichts.

„Ich hatte mich zwar schon vorgestellt, aber ich weiß nicht, ob du das in der Hektik mitbekommen hast. Ich bin Dave, einer der für dich zuständigen Ärzte. Wenn du dich schlechter fühlen solltest oder du etwas brauchst, dann sag einfach Bescheid."

Dave schenkte seinem Gegenüber ein aufmunterndes Lächeln. Doch es herrschte weiterhin Stille und der Brite wurde sichtlich irritierter, dass seine Aussage unkommentiert blieb. Er war gerade ein wenig ratlos, wie er weiter vorgehen sollte, weshalb er nach wenigen Minuten des Schweigens beschloss, mit seinem Monolog fortzufahren.

„Nun... Wenn du schon einmal wach bist, könntest du mir ein paar Fragen beantworten."

Sofort änderte sich die Atmosphäre um den Argentinier und er wurde nervös. Dave bemerkte schnell seinen Fehler in der Formulierung seiner Frage und griff sofort ein, um sich zu erklären.

„Hey, ganz ruhig. Ich meine nicht solche Fragen. Es geht nur um deine Verletzungen und Dinge, die ich für die Behandlung wissen muss."

Es war nicht leicht, den Fakt zu verbergen, dass er bereits einige Information über seinen Patienten hatte. Aber er konnte ihm nicht einfach so sagen, dass er sein Tagebuch gelesen hatte. Das würde jeglichen Versuch, Vertrauen aufzubauen um einiges erschweren. Er hatte absolutes Verständnis für das Misstrauen des anderen. Er war noch immer ein Gefangener der Regierung und manche Methoden zur Informationsbeschaffung des Militärs waren durchaus fragwürdig.

Überhaupt war er sich gerade nicht schlüssig, wie er mit dieser Situation fortfahren sollte. Er hatte ein Protokoll, dem er folgen sollte, aber das nützte ihm nichts, wenn sein Gegenüber ihm nicht antwortete.

Ian traute der ganzen Sache immer noch nicht.

„Nun, für den Anfang: Kannst du mir deinen Namen verraten?"

Nichts als ein starrer Blick.

„Es muss auch nicht dein echter Name sein... Hauptsache ich muss dich nicht immer mit ‚Argentinier' ansprechen."

Stille und Schweigen. Dave unterdrückte ein frustriertes Schnauben. Er wartete wenige Sekunden, doch schon bald wurde ihm klar, dass er aus dem sturen Esel keine Konversation herausbekommen würde.

„Okay, dann zu den anderen Fragen... Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du mir signalisieren könntest wie du dich fühlst. Auf einer Skala von eins bis zehn - wie stark sind deine Schmerzen?"

Nichts.

„Vielleicht etwas Leichteres... fühlst du dich benommen oder schwindelig?"

Ein einfaches Nicken hätte ausgereicht. Doch der Argentinier regte sich keinen Millimeter.

„Verspürst du Übelkeit?"

Nada.

„Schlappheit? Trägheit? Müdigkeit?"

Letzteres war eine Fangfrage, dessen Antwort sich der gelernte Arzt schon denken konnte. Wenn man den Zustand des Soldaten in Betracht zog, war die Annahme sehr hoch, dass er kaum bei vollen Kräften war.

Dave konnte es spüren, dass aus diesem Gespräch nichts wurde.

„Du machst es mir nicht gerade einfach", seufzte er. „Dann verschieben wir die Fragerunde auf einen anderen Tag."

Während Dave aufstand, wartete Ian auf die rapide Wende im Gemütszustand seines Gegenübers. Er hatte mit allen möglichen Szenarien gerechnet: Drohungen, Schläge, Tritte und andere Misshandlungen, um an Information zu gelangen. Aber er war mehr als verwirrt, als der Brite aufstand und zurück in den Nebenraum schlurfte. Sein Feind hätte seine Lage schamlos ausnutzen können, aber er tat es nicht. Erst als er wieder alleine im Raum war, fand er den Moment um erleichtert aufzuatmen.

Er spürte zwar immer wieder die Blicke, die durch das Panzerglas zu ihm herüberschauten, aber das war im Moment okay für den Argentinier, solange er wusste, dass ein Raum sie trennte. Die nächsten Stunden wandelte er zwischen Bewusstsein und müder Trägheit umher. Aber er verweigerte sich, die Augen zuzumachen. Der Rest der Sedierung in seinem Blut half zwar dabei, ihn immer mal wieder in einen kurzfristigen schlafähnlichen Zustand zu versetzen, doch kaum war er dabei abzudriften, schreckte er aus seinen Visionen heraus. Einige Zeit später kam ‚Dave' wieder in seinen Raum, um das Schmerzmittel aufzufrischen. Und wie Ian feststellte, redete er unglaublich gerne.

Über seinen Tag. Über seinen Vater. Seine Hündin. Über alles Mögliche. Und da dem Argentinier nichts anderes übrigblieb, hörte er zu.

Dave war gerade mit all seinen Kontrollpunkten fertig und warf einen Blick auf seine Armbanduhr.

„Hm. Es ist schon ziemlich spät aber... wir sollten vielleicht probieren, dass du wieder etwas zu dir nehmen kannst. Etwas Einfaches für den Magen. Nicht, dass du mir noch verhungerst..."

Der Weißhaarige beharrte auf seinem stillen Schweigen, merkte aber bei der Erwähnung von Essen, dass er durchaus Hunger hatte. Hunger war untertrieben - seine Magengegend fühlte sich an wie ein schwarzes Loch.

Zwar hatte Dave in erster Linie daran gedacht sein Bedürfnis zu stillen, etwas zwischen die Zähne zu bekommen, aber im nächsten Moment erinnerte er sich daran, dass auch sein Patient etwas vertragen könnte. Er meldete sich durch sein COM-Gerät bei den Sicherheitsleuten, um einen Aufpasser zu beantragen, bevor er seine Arbeitssachen im Schrank wegsperrte. Wenn sie diese bescheuerten Regeln schon einführten...

Dave öffnete auf das Klopfen von der Tür und wies den Sicherheitsmann kurz ein. In 15 Minuten sollte zwar nicht allzu viel passieren, aber man wusste ja nie.

Die Leere in den Aufzügen ließ darauf schließen, dass es bereits sehr spät war und dementsprechend nicht mehr viel Leute im HQ unterwegs waren. Auch in der Kantine herrschte fast gähnende Leere. Vereinzelt saßen ein paar Leute an den Tischen oder holten sich ihre Mitternachtssnacks zum Mitnehmen.

An der Ausgabe ließ er sich zwei belegte Brote mitgeben, eine Suppe für den Argentinier, zwei große Flaschen Wasser und einen großen Kaffee. Der Kassierer, der ihn bereits kannte, zog seine Augenbrauen nach oben, als er seine Bestellung hörte. Es war äußerst ungewöhnlich, dass Dave Kaffee trank. Nur im äußersten Notfall. Er antwortete nur mit „Schwieriger Patient. Und es wird eine lange Nacht" Während der Mann an der Kasse ihm ein Einwegbesteck rüberschob.

Die Mitarbeiter in der Kantine stellten seinen Auftrag zusammen und Dave beglich seine Schulden. Mit einer Tüte, Flaschen, Essenscontainer und Kaffee verließ er die Cafeteria wieder in Richtung Aufzug.

Am Sicherheitsschalter wurde er dann plötzlich aufgehalten. Sie durchsuchten seine Tüte, zogen das Plastikbesteck heraus und konfiszierten es mit der Begründung: „Sie stelle ein potenzielles Risiko dar und könnte den Patienten und Mitarbeiter gefährden".

Unkommentiert überließ Dave die gefährliche Waffe der Sicherheit, um dann endlich durchtreten zu können. Nach ein paar Versuchen, seine Schlüsselkarte mit vollen Händen zu greifen, öffnete er die Tür in den Nebenraum. Er machte ein paar Schritte über die Schwelle und spürte instinktiv, dass etwas nicht stimmte.

Das Sicherheitspersonal, das im Vorraum auf ihn warten sollte, war nicht hier. Stattdessen drangen aus dem Nebenraum dumpfe aber wütende Stimmen. Er begann, in Panik zu verfallen. Er hätte sich jedes Szenario ausmalen können, in dem der Argentinier zum Beispiel seine Handfesseln abbekommen hätte und das Sicherheitspersonal zu Boden geschlagen hätte.

Doch ein Blick durch die Glasscheibe genügte und schon hatte er seinen Aufpasser gefunden. Leider (oder zum Glück) nicht so, wie er vorerst angenommen hatte. Besser gesagt konnte Dave nicht fassen, dass der Mann in seiner Sicherheitsweste direkt neben dem Bett des Argentiniers stand und sich bedrohlich über ihn lehnte. Eine grobe Hand packte den weißen Krankenhauskittel des Patienten. Die andere lag an der Kehle des Argentiniers und drückte den Kopf des anderen an die Lehne des Bettgestells. Während sein Gesicht den Ausdruck puren Hasses prägte, trug der Patient im Bett eine ausdruckslos Maske. Trotz direkter Gewaltdrohung, spiegelte sich in den blauen Augen des Argentiniers eine seelenlkse Ruhe. Die gefesselten Hände waren an den Armlehnen fixiert und zu zitternden Fäusten geballt. Sie zitterten aber nicht aus Angst, sonder aus dem Drang heraus sich zurückzuhalten.

Daves Panik war verfolgen und stattdessen kochte heiße Wut in ihm auf. Er legte sein Essenspaket ab und öffnete die Türe in den nächsten Raum hinein.

„-nd glaub ja nicht, dass du hier lebend wieder herauskommst, du-", zischte der Sicherheitsmann gerade, als der junge Arzt die Pforte geöffnet hatte.
Ian bewegte sich kein Stück. Die Fassade blieb aufrecht und bröckelt nur kurz, als er bei bei den hasserfüllten Worten ruckartig zusammenzuckte.

„Was fällt Ihnen eigentlich ein?!?"

Daves laute Stimme ließ den Beamten zurückstolpern und die folgenden Worte erstarben in seiner Kehle.

„Ich habe nur..."

„Einen Scheiß haben Sie getan! Wie können Sie es wagen, meinen Patienten zu bedrohen." Der Braunhaarige war kurz davor, in absolute Rage zu verfallen. Er wollte keine Ausreden hören.

„Raus hier!! Sofort!!"

Mit einem Deuten zur Türe verlieh er seinen Worten Nachdruck und machte sie zu einer deutlichen Botschaft. Der Angesprochene bewegte sich schnellen Schrittes weg vom Bett und eilte aus dem Raum hinaus. Ein finsterer Blick von Dave verfolgte ihn, bis die Tür ins Schloss fiel. Durch die gläserne Scheibe konnte er sehen, wie der Mann den Raum komplett verließ und erst dann atmete er entspannt auf.

"Geht es dir gut?", erkundigte sich der Braunhaarige als er zu seinem Patienten trat. Doch der Argentinier wirkte abwesend. Nich Hier. Irgendwo anders. Seine Finger waren noch immer steif und fest verschlossen zu einer Faust. Dave trat näher und löste die Fixierung der Fesseln, für die der Sicherheitsmann vermutlich verantwortlich war. Doch selbst als Ian seine Armfreiheit wiedererlangt hatte, verharrte er in seiner starren und versteiften Körperhaltung.
Die bleiche Haut glitzerte nass vom Schweiß, der vom Adrenalin an die Oberfläche gepumpt worden war und Dave konnte am Hals die noch rötlichen Abdrücke vom Festen Griff der Security erkennen. In ein paar Stunden würden sie vermutlich schlimmer werden.

Nachdem sekundenlang keine einzige Reaktion kam, legte Dave vorsichtig die Hände auf die kreideweißen Finger des Argentiniers.

„Hey! Bist du bei mir? ", sprach er während er den Augenkontakt des anderen suchte. Tatsächlich konnte er den anderen erreichen, der schlagartig den Kopf zu ihm wandte und plötzlich nach Sauerstoff schnappte, als ob er das Atmen vergessen hätte. Der Schleier vor seinen Pupillen verschwand. Erst wurde sie groß vor Panik, bevor sie wieder diese undurchdringliche Härte annahmen.
Mit einem Ruck zog Ian die Hände unter Daves Griff hervor und führte sie zu seiner Kehle. Dort, wo gerade noch feste Hände ihm die Luft abgeschnitten hatten. Dave ging wieder auf sicheren Abstand und holte eine Salbe für die Hämatome am Hals des Argentiniers.
Er ordnete ihm an sie großzügig aufzutragen, bevor er sich nach weiteren Verletzungen erkundigte.

„Hat er dir sonst noch etwas getan?"

Ian gab ein kaum erkennbares Kopfschütteln von sich und ließ sichzurück auf die Matratze sinken. Die Nebenwirkung der unermesslichen Anspannung setzten ein und ließen den Weißhaarigen träge, müde und erschöpft aussehen.

Dave holte das Essen und eine der Wasserflaschen aus dem Nebenraum und deponierte sie auf der Ablage neben dem Krankenbett.

„Ich glaube zwar, dass dir gerade nicht wirklich nach Essen ist, aber vielleicht kannst du es ein wenig später probieren, wenn der Schmerz am Hals nachlässt. Der Essenscontainer wird es länger warmhalten."

Er wandte sich ab, nur um schlagartig inne zu halten.

„Ach ja, und du wirst die Suppe vermutlich schlürfen müssen. Den Löffel hat man mir leider abgenommen. Die hatten anscheinend Angst, du könntest daran ersticken", scherzte er mit Stimme, die vor Sarkasmus triefte.
Die hochgezogene Augenbraue von Ian bekam er leider nicht mehr mit, da er bereits zur Tür geschritten war und sich wieder in den Nebenraum vor die Glasscheibe begeben hatte.

Während der Argentinier die Suppe nicht anrührte, machte sich Dave daran, eine Beschwerde auszufüllen und sie mit allen Materialien, Beweisen und Indizien zu füllen, auf die er Zugriff hatte. Er war stinksauer auf das Sicherheitspersonal und wollte den Vorfall nicht einfach auf sich sitzen lassen. Kein Hass der Welt rechtfertigte ein solches Verhalten. Er suchte das Videomaterial von den Sicherheitskameras, schrieb einen ausführlichen Bericht mit allen beteiligten Personen und speicherte alles in einen Ordner, der später an seinen Vater und dann an den Obersten Offizier der Sicherheitsabteilung gehen würde.

Die Zeit verging und bis er es sich versah, war es fast sechs Uhr morgens und Simon kam zur Schichtablöse. Mit einem Blick zu Ian sah er, dass der Essenscontainer geöffnet und geleert und die Wasserflasche zur Hälfte ausgetrunken war. Der junge Mann hatte die Augen geschlossen und schien das erste Mal seit Stunden einen ruhigen Schlaf zu finden.

(PS:
Ich habe über die letzten Kapitel gemerkt, dass sie teilweise extrem lang ausfallen.
Stört es euch, dass die Kapitel für Wattpad ungewöhnlich lang sind? Sonst teile ich sie in Zukunft auf mehrere Abschnitte auf.)

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