4. Bitteres Erwachen
(Anmerkung: Alle kursiv geschriebenen Passagen werden in Spanisch gesprochen)
London, 23. Januar
Ians Körper fühlte sich taub an.
In seinen Ohren hallte ein stetiges Rauschen, das in seinem Kopf und Körper dröhnte, wie ein störendes Signal. Immer wieder drangen fremde Stimmen durch den Nebel in seinen Kopf, aber jedes Mal, wenn er glaubte sie zu erreichen, drückte ihn eine weitere Welle der Trägheit zurück in seinen Leib. Seine Gliedmaßen waren schwer wie Blei und wurden von der Gravitation ohne Gnade auf den Grund gezogen. In seinem Kopf war es nicht möglich, einen klaren Gedanken zu fassen, geschweige denn, Erinnerungen aufzurufen.
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, während er durch die Schwärze trieb, doch irgendwann kehrte Leben in seine Fingerspitzen. Es war ein unangenehmes Kribbeln, welches sich erst langsam, dann wie ein Flächenbrand über seine Arme bis in die Zehenspitzen ausbreitete.
Nach wenigen Minuten des Wartens und Ausharrens, begann er weiches Material unter sich zu spüren. Mit dem, was seine Finger ihm ermöglichten, versuchte er seinen Untergrund zu ertasten. Das nächste, was ihn näher an die Oberfläche seines Bewusstseins brachte, waren mehr und mehr eindringende Geräusche um ihn herum. Aus dem Rauschen wurde ein Pochen - erst dumpf, dann immer stechender - welches den Schädel des Argentiniers zum Vibrieren brachte. Ein zweiter Rhythmus gesellte sich dazu, der aber wesentlich schneller und höher war. So wie sein Körpergefühl zurückkehrte, nahm er auch mehr und mehr Eindrücke aus seiner Umwelt wahr. Sein Haar, das sein Gesicht umspielte, ein eigenartiger Druck auf seinem Gesicht über Mund und Nase und schweres Material, das ihn halsabwärts bedeckte.
Mit Mühe schaffte er es, seine Augen zu öffnen. Es war ein langer Prozess, aber er kämpfte dagegen an - nur um seine Umgebung völlig verschwommen wahrzunehmen. Das helle Licht von der Decke, ließ ihn seine Augen jedoch schnell wieder schließen. Wenige Minuten später probierte es Ian erneut, nur langsamer.
Dieses Mal erkannte er eine graue Zimmerdecke. Er brauchte wenige Minuten um zu realisieren, dass es sich um keine Einrichtung handelte, die ihm bekannt vorkam. Langsam begannen Erinnerungsfetzen und Umrisse von Erinnerungen durch den dicken Nebel in seinem Kopf zu sickern.
Der Aufbruch zum Gefecht.
Der Kampf. Schreie. Blut.
Die Flucht vor seinen Feinden.
Und Schmerz. Der war immer einprägsam.
Und dann nichts mehr.
Wie vom Blitz getroffen, kam ihm dann die Realisation. Wenn das nicht die Räumlichkeiten aus Argentinien waren und er sich nach der Explosion an nichts erinnerte, war er mit größter Wahrscheinlichkeit von den Briten verschleppt worden. Seine Augen weiteten sich und plötzliche Panik schwappte durch seinen Körper. Doch er zwang sich zur Ruhe und nutzte die Zeit, um sich im Raum zu orientieren.
Viel gab es nicht zu sehen. An der Wand gegenüber, führte eine Tür in eine kleine Kabine. Als er den Kopf drehte, sah er eine einfache stählerne Ablagefläche neben seinem Bett. Geräte und Infusionsständer waren neben seinem Bett angebracht, die ihn mit dünne Schläuche vernetzten. Über eine gläserne Scheibe konnte er in den nächsten Raum sehen. Der einzige Weg dorthin führte über eine massiv aussehende Stahltür.
Er sah kein einziges Fenster nach draußen und das schnürte ihm die Kehle zu.
Ian verlagerte sein Körpergewicht um sich zur Seite zu rollen, doch das seltsame Gerät über seinem Gesicht behinderte sein Vorwärtskommen. Kurzerhand zog er es ab. Er startete den Versuch, sich auf seine Ellenbogen zu stützen, scheiterte jedoch kläglich. Mit zusammengebissenen Zähnen sackte er zurück auf die Matratze. Er sah die Bandagen an seiner Schulter, die sich wie Schlangen um seine Haut wandten.
Die Taubheit war aus seinen Gliedern gewichen und stattdessen war da Schmerz in jeder Faser seines Körpers. Trotz ziehender Sehnen und Muskeln startete er einen erneuten Fluchtversuch aus seinem Bett. Er brauchte sich nicht sehen, um zu wissen wie demoliert er war.
Dennoch setzte sich der Weißhaarige unter großer Anstrengung auf, schlug die Bettdecke zurück und schob sich Stück für Stück zur Bettkante. Mit einem dick bandagierten Bein war das leichter gesagt als getan. Er konnte sein rechtes nicht abwinken und schleifte es wie ein steife Brett über die Laken.
Er entfernte die Nadeln und Schläuche mit einem Ruck von seinen Gliedmaßen, bevor er sein Gewicht auf die Füße verlagerte und den ersten Versuch tat, aufzustehen.
Das endete aber erstmal damit, dass er Bekanntschaft mit dem Fußboden machte. Er fiel der Länge nach hin und bremste mit den Händen am Boden entlang. Mit einem schmerzerfüllten Ächzen blieb er wenige Sekunden liegen. Der Aufschlag ließ seinen Kopf dröhnen und ihm wurde schwindelig.
Trotzdem quälte er sich am Bett hinauf, bis er sich wieder in seiner Ausgangsposition befand. Dieses Mal versuchte er, sich an der Wand entlang zu bewegen und zu stützen. Und tatsächlich funktionierte es.
Es war schmerzhaft und er kam nur langsam voran - aber es funktionierte. Er kroch an der grauen Wand entlang, bis zu der kleinen Kabine. Seine Hoffnung, dahinter Freiheit zu finden erlosch, als er erkannte, dass es sich dabei nur um ein kleines Badezimmer handelte. Er wolle sich schon umdrehen, als sein Blick am Spiegel haften blieb und er erstarrte. Das Gesicht, das ihn da ansah, war bleich und eingefallen. Er sah miserabel aus.
Die Krankenhauskleidung und die Verbände an seinem Körper verschluckten ihn. Die Strähnen seiner weißen Haare waren mittlerweile viel zu lang geworden und hatten sich verfilzt.
Die Augen, die ihn anstarrten, waren die eines Fremden. So kam es ihm vor.
Er wandte seinen Blick ab und schloss die Tür. Das würde ihm nicht weiterhelfen. Er setzte seine Suche fort, indem er sich an der Wand weiterbewegte. Doch seine Befürchtungen wurden Wirklichkeit, als er die Stahltür zum Nebenraum absuchte, in der Hoffnung, dass sie sich irgendwie öffnen ließe. Doch er konnte drücken und schieben - an der Türe war nichts zu rütteln. Ein kleines Gerät neben der Tür ließ darauf schließen, dass man mehr brauchte, um sie zu öffnen.
Doch noch wollte er die Suche nicht aufgeben. Irgendetwas musste es doch geben. Er schaute sich suchend um, doch es gab keine Schränke, keine Schubladen. Nichts, das er gebrauchen konnte.
Er hatte sich wenige Schritte von der Türe entfernt, als die plötzlich piepte und aufschwang. Auf der Schwelle stand eine großgewachsene Frau mit blonden Haaren und hinter ihr konnte er die grobe Gestalt eines kleineren Herren erkennen. Ian stolperte langsam zurück, bis er mit dem Rücken an der Badezimmertür anstieß. Die Bewegung und das Rattern des schmaleren Durchganges weckte die Aufmerksamkeit der Dame, die ihn mit weiten Augen anstarrte. Sie erstarrte und hielt in ihrer Bewegung inne.
„W-was...!"
Ian wusste nicht, was ihn dazu veranlasste. Vielleicht war es die plötzliche Bewegung der Frau nach vorne oder die panische Stimme hinter ihr. Er hechtete, so schnell es sein derzeitiger Zustand zuließ, zurück zum Bett und riss die dickste Kanüle von ihrem Schlauch, bevor er mit seinem starken Arm ausholte und die Nadel in Richtung Türe schleuderte. Doch die Blondine regierte schnell - schneller, als er erwartet hätte und zog das massive Eisen mit einem Krachen vor sich zu. Das metallische Klingen der Nadel, die zu Boden gefallen war, signalisierte ihm, dass er mal wieder von der Außenwelt getrennt war.
--.--
Dave schreckte aus seinem Halbschlaf auf. Nerviges Bimmeln und Vibrieren brachten ihn zurück in die Realität. Er griff nach seinem COM-Gerät neben ihm. Der Bildschirm zeigte, dass es kurz vor 5 Uhr war und Tessa ihn mit Textnachrichten und Anrufen bombardiert hatte. Er wollte ihr gerade antworten, als das Display einen neuen Anruf anzeigte. Dave nahm an und kam gar nicht dazu nachzufragen, denn Tessa war schneller.
„Dave, endlich!", schrie sie förmlich durch das Mikrofon. Es lag ein Hauch von Panik in ihrer Stimme und sie wirkte gestresst. „Geh doch endlich mal an dein COM-Gerät. Dafür hast du es doch!" Er bekam keine Chance, sich zu verteidigen, als seine Kollegin ihn unterbrach.
„Aber, viel wichtiger... Bist du noch in der Bibliothek?"
„Ja, ich arbeite noch an dem Tagebuch", antwortete Dave. Es war nicht ganz die Wahrheit, nachdem er die letzte halbe Stunde mit Augenruhe verbracht hatte (kurz gesagt, er wäre fast eingeschlafen), aber das musste sie ja nicht wissen.
„Dann komm sofort nach unten! Wir brauchen dich im Sicherheitstrakt! Es ist dringend!"
Der Braunhaarige versuchte, die Stimme der Frau zu dimmen. Zwar war er der Einzige, der sich so früh am Morgen in der Bücherei aufhielt, aber der Bibliothekar würde ihn rauschschmeißen, wenn er weiter solch einen Lärm machen würde.
„Ist ja gut, ich komm ja schon. Kein Grund, Panik zu schieben."
„Ich werde dir einen Grund geben, Panik zu bekommen, wenn du deinen Hintern nicht sofort hierher bewegst! Beeil dich!!!"
Ihre letzten Worte schrie sie nun fast, bevor sie abrupt auflegte und Dave ein wenig verdattert zurückließ. Er machte sich allerdings ein wenig Sorgen. So aufgebracht hatte er seine Kollegin noch nie erlebt. Es schien anscheinend wirklich dringend zu sein.
Er packte seine Tasche und eilte zu den Fahrstühlen, die ihn nach unten brachten. So früh war kaum einer unterwegs, weshalb die Reise in das Untergeschoss sehr schnell ging. Er hetzte durch die Sicherheitskontrolle und konnte Tessa auf dem Gang bereits reden hören.
„-ann Sie hier nicht durchlassen."
„Frau Häuserhain, ich glaube, Sie bergreifen den Ernst der Lage nicht. Was gerade passiert ist..."
„Dave!!", unterbrach die blonde Frau den Sicherheitsbeamten, als sie sah, wie der Braunhaarige zu ihnen eilte. Tessa stand zwischen der Türe und dem Mann von der Sicherheit und blockierte den Weg.
„Was ist los? ", wollte Dave wissen.
„Hast du meine Nachrichten nicht gelesen?!?", meinte die Blondine aufgebracht.
„Der Argentinier ist aufgewacht", klärte Simon auf, der sich abseits hielt und sich nicht wirklich traute zwischen Tessa und den Mann zu treten. „Er ist auf den Beinen und hat Tessa mit einer Kanüle angegriffen."
„Er ist wach? Aber die Dosis sollte doch mindestens bis morgen wirken."
„Tja, das hat sie allerdings nicht."
„Und deshalb...", brachte der Mann von der Sicherheit sich nun ein, „...würde ich Sie bitten, dass Sie zur Seite gehen und mich das machen lassen."
Doch Tessa blieb standhaft zwischen ihm und der Türe stehen.
„Nein. Und das habe ich ihnen schon erklärt."
„Er hat Sie angegriffen! Wer weiß, wozu er noch imstande ist!"
Das überraschte nun auch Dave und er sah seine Kollegin mit großen Augen an. Doch die wirkte kein bisschen eingeschüchtert. „Ich weiß. Und das hat einen Grund. Versetzen Sie sich diesen Mann: Er hat Angst, steht vermutlich unter Schock, ist traumatisiert und hat Schmerzen bis zum geht nicht mehr. Wenn ich Sie da reinschicke, werden Sie ihn auf den Rücken drehen und mit Handschellen befestigen, sodass man ihm eine weitere Beruhigungsspritze verpassen kann. Und das wird in keinem Fall helfen."
Sie lieferte sich ein Starrwettbewerb mit dem Beamten, der nicht genau wusste, was er sagen sollte. Dave musste an die Einträge des Mannes denken, die er in den letzten Tagen gelesen hatte. Er konnte Tessa absolut nachvollziehen. Er hätte es vermutlich nicht anders gemacht.
„Na schön. Aber was machen wir jetzt?", meinte schließlich Simon, der hin und hergerissen war, dass nichts passierte. „Wir können nicht warten, bis irgendetwas passiert. Früher oder später müssen wir nach ihm sehen."
Da hatte Simon Recht. Nichts tun war auch keine Lösung.
„Nun, Dave, ich habe dich ja nicht ohne Grund angerufen. Ich hätte gehofft, dass du ihn beruhigen könntest." Sie hob die Hand und stoppte jeden Protest, der sich schon anbahnte. „Ich glaube nicht, dass er uns versteht. Du könntest dich mit ihm verständigen, wenn du mit ihm auf Spanisch sprichst."
„Ist das dein Ernst?", rief Simon dazwischen.
Dave überlegte. Es war durchaus eine riskante Sache. Aber es könnte auch funktionieren. Während Simon und Tessa sich mit Argumenten bombardierten, ging er mögliche Konsequenzen durch. Vielleicht war es der Übermut, der ihm nicht gut tat und vermutlich überschätzte er seine Fähigkeiten, einen traumatisierten Patienten gut zuzureden - aber er fasste den Entschluss.
„Schon gut Simon, ich geh rein" Seine Kollegen warfen ihm einen überraschenden Blick zu.
„Was?"
„Wirklich jetzt?"
Selbst der Sicherheitsmann konnte es kaum glauben, war jedoch nicht besonders begeistert von der Idee.
„Mister Warner, ich kann Sie nicht-„
„Schon gut. Sie begleiten mich in den Nebenraum. Von dort aus können Sie einschreiten, wenn etwas passieren sollte. Simon", wandte er sich an den Schwarzhaarigen. „Ruf du meinen Vater und sag ihm Bescheid, was passiert ist. Er soll sofort herkommen."
Er blickte in die Runde und wartete auf Widersprüche. Simon und Tessa schienen weitgehend zufrieden, nur der Sicherheitsmann war noch am Zweifeln. Doch nach kurzem Überlegen nickte auch er und deutete Dave, dass er bereit wäre reinzugehen.
„Wartet hier draußen und fangt meinen Vater ab, wenn er kommt. Und bleibt für den Fall der Fälle, dass ich noch etwas brauchen."
Er drückte Tessa seine Umhängetasche in die Hand, bevor er seine Karte durch die Türe zog und gemeinsam mit dem Sicherheitsmann eintrat.
--.--
Durch die Glasscheibe im Nebenraum konnte er den Argentinier im ersten Moment nicht ausfindig machen. Erst beim zweiten Hinblicken sah er einen hellen Haarschopf hinter dem Bett hervorlugen. Während er in den Schubladen nach einer Beruhigungsspritze suchte, stand der andere Mann ein wenig unschlüssig im Raum. Dave ging an die zweite Tür und legte das Beruhigungsmittel direkt neben der Tür auf den Tresen. Mit ernster Miene sah er den älteren Mann an.
„Sie bleiben hier zwischen der Tür. Keine plötzlichen Bewegungen. Sie schreiten nur ein, wenn es lebensgefährlich wird. Und die Spritze ist nur für den Notfall."
So richtig überzeugt war sein Gegenüber noch immer nicht, aber er widersprach Dave nicht. Er folgte dem Arzt mit einem wachsamen Blick, wie dieser sich in den Raum nebenan begab.
Das Herz des Braunhaarigen begann auf einmal zu rasen. Vielleicht gab er sich gerade sehr mutig, aber der Schein täuschte. Er konnte nicht glauben, in was für ein Schlamassel er sich da begeben hatte. Doch er zwang sich zur Konzentration. Er gab sich einen kurzen Moment, um die Situation zu analysieren. Zu seinen Füßen lag die Injektionsnadel, die Tessa erwähnt hatte. Vorsichtig schob er sie soweit an die Wand, wie möglich. Mit bedachten, leichten Schritten ging er weiter in den Raum und sah schon bald den jungen Mann, der neben seinem Bett kauerte. Er hatte sich in die schmale Lücke zwischen der Eisenstahlablage und dem Bett gequetscht und versuchte, sich so klein wie möglich zu machen. Der Argentinier hatte seine Augen auf ihn gerichtet und folgte seinen Bewegungen mit großer Achtsamkeit. Ein wenig unbeholfen trat er näher an das Bett heran, was den Weißhaarigen schlagartig zurückzucken ließ. Er versuchte, noch weiter in die Wand hineinzurutschen, was schier unmöglich war. Gerade wusste Dave nicht, wer hier in diesem Raum der angespannteste war: Er, der Argentinier oder der Wachmann in der Türe.
Der junge Arzt zeigte seine Hände, um zu signalisieren, dass er unbewaffnet war und ging vorsichtig auf die Knie.
„Okay... Ganz ruhig, bitte. Ich bin nicht hier, um dich zu verletzen", versuchte er es in seiner zweiten Muttersprache. Moosgrüne Augen machten Kontakt mit stählernem Grau, die unter einem Vorhang weißer Haarsträhnen hervorlugten. Sie waren von Angst und Schmerz gezeichnet. Zumindest hatte Dave seine Aufmerksamkeit. Das war ein Anfang.
„Mein Name...", begann er, nur um zu überlegen, ob er das wirklich tun sollte. „...ist Dave. Ich bin Arzt und habe deine Wunden behandelt."
Sein Gegenüber bewegte sich kein Stück. Dave wusste nicht, ob es besser war, als angegriffen zu werden. Der Weißhaarige zeigte auf jeden Fall keine Regung. Seine Hände und Muskeln waren angespannt an seinen Körper gepresst. Erst jetzt bemerkte er, dass der Verband an seiner Schulter mit Blut getränkt war. Die Wunde schien sich durch die viele plötzliche Bewegung wieder geöffnet zu haben.
„Hör zu: Deine Wunde hat sich geöffnet. Wenn du mich lässt, würde ich mir das gerne näher anschauen. Das muss vermutlich neu genäht werden."
Ian machte einen entspannteren Eindruck, weshalb Dave beschloss sich ihm vorsichtig zu nähern. Doch kaum hatte der Argentinier sein Vorhaben bemerkt, schreckte er aus seiner lockeren Haltung und war wieder im Verteidigungsmodus. Ein grollendes Geräusch kam aus seiner Kehle und er war sichtlich nicht beeindruckt von Daves Idee.
„Okay!" Der Brite hielt sofort inne. „Okay... ich bliebe einfach solange hier drüben und sehe es mir von hier an, ja?" Er wollte seinen panischen Patienten nicht noch mehr verschrecken.
Ian fühlte sich wie die Maus im Käfig. Es gab keine Möglichkeit, aus seiner Situation zu entkommen und das setzte seinen Körper und Geist unter immensen Druck. Dazu die Schmerzen der sich immer weiter öffnenden Wunde - und eigentlich seines ganzen restlichen Körpers. Lange würde er das nicht mehr durchhalten. Das Problem war nur, dass er nicht wusste, wie er diesen „Dave" einschätzen sollte. Sein Körper stand kurz vor dem Zusammenbruch und das zeigte sich langsam. Ihm wurde schwindelig und sein Kopf fühlte sich an, als würde man ihn mit Watte stopfen. Die Kraft schien seine Gliedmaßen vollständig zu verlassen und so sackte er regelrecht in seiner Nische zusammen.
Auch Dave bemerkte die plötzliche Zustandsveränderung und war sofort in Alarmbereitschaft. Er wusste, dass man ängstliche Tiere nicht reizen sollte, aber bei halbem Bewusstsein sollte der Weißhaarige keine Gefahr mehr darstellen. Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, war der mit schnellen Schritten an Ort und Stelle, als sein Patient zusammenbrach. Seine Finger prüften den Puls, als der Argentinier die Augen verdrehte. Er nahm die mittlerweile blutige Hand zur Seite, um die aufgerissene Stelle unter dem Verband zu begutachten.
Ian war an dem Punkt angelangt, an dem er die Prozedur einfach über sich ergehen ließ. Seine Kraft reichte nicht mehr, um sich aufrecht zu halten. Er fiel und spürte stabile Hände um seinen Oberkörper. Dave winkte den Sicherheitsmann von der Tür zu sich und signalisierte ihm, dass er mit anpacken sollte. Zusammen hoben sie ihn auf das Bett zurück.
„Bringen Sie mir das Nähzeug aus dem Nebenraum", sprach der junge Arzt zum anderen. „Es ist in der rechten Schublade. Grüne Box, ist beschriftet. Und die Spritze. Nehmen Sie die Spritze mit."
Der Sicherheitsmann grunzte und sprintete los, während Dave die Verbände entfernte.
„Hör zu", sprach er, zu dem fast bewusstlosen Mann im Krankenbett, ohne zu wissen, ob er ihn noch hören würde. „Ich werde die ein Beruhigungsmittel verabreichen, damit ich deine Wunde nähen kann. Das wird dich erst mal für einige Zeit sehr schläfrig machen."
Das leichte Ziehen der Spritze spürte Ian noch, dann wurde ganz schnell alles ruhig. Die Zeit schien langsamer zu laufen, Geräusche entfernten sich und Ians Augen wurden schwerer und schwerer, bis er sie schloss.
Dave war um einiges beruhigter, als das Mittel zu wirken begann. Auch, wenn der Mann eine hohe Toleranz gegenüber Beruhigungsmittel zu haben schien, sollte es zumindest für die nächste Stunde reichen und ihm somit Zeit geben, in Ruhe die Wunde zu nähen. Mithilfe seines Werkzeuges entfernte er das Hemd und die blutgetränkten Bandagen, reinigte die Wunde grob und griff dann zu medizinischen Nadel und Faden.
Dinge wie diese waren mittlerweile zur Routine geworden und die Eintrittswunde war nicht allzu groß, weshalb der junge Arzt nach kurzer Zeit fertig war. Der Mann vom Sicherheitspersonal war währenddessen zögernd danebengestanden und hatte mit leichtem Ekel im Gesicht seine Arbeit betrachtet. Er hielt es aber auch nicht für angebracht, sich zu beschweren. Er packte mit an, als Dave neue Verbände anlegte und trug die grüne Schachtel wieder zurück in den Nebenraum.
Dave zog dem Argentinier die Atemmaske wieder auf den Kopf und verknüpfte ihn wieder mit den Monitoren, um seine Vitalfunktionen im Blick zu behalten.
Vor der Tür hatten Tessa, Simon und auch sein Vater ungeduldig gewartet. Nach einer gefühlten Ewigkeit wurden sie hineingelassen und standen nun zu fünft im Nebenraum. Dave war dabei, die kontaminierten Verbände zu entsorgen und das Werkzeug zu reinigen.
„Er hat sich beruhigt und ist vorerst wieder bewusstlos. Die Wunde an seiner Schulter war wieder aufgerissen, aber ich habe sie genäht. Er scheint eine sehr hohe Toleranz gegenüber der Sedierung zu haben. Deshalb ist er auch früher als geplant aufgewacht."
„Das ist durchaus problematisch. Wir sind zum Glück nochmal mit dem Schrecken davongekommen." Tessa war optimistisch wie immer. Daves Vater war da anderer Meinung.
„Ihr habt die Situation gut entschärft. Allerdings war es auch leichtsinnig", tadelte er, aber man konnte sehen, dass er grundsätzlich sehr zufrieden mit ihrem Handeln war. Dann wandte er sich zu dem Wachmann. „Ich nehme an, es gibt keine Möglichkeit über diesen Vorfall hinwegzusehen?"
Der schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, Herr Warner, aber ich werde diesen Vorfall melden müssen."
Lennard nickte, schien aber nicht besonders zufrieden zu sein. Leider gab es höhere Instanzen, denen er sich anpassen musste. „Das hatte ich mir schon gedacht. Bitte informieren Sie mich, sobald Sie Änderungen im Sicherheitskonzept vornehmen. Wir entschuldigen uns für die Umstände."
Der Mann von der Sicherheit nahm noch kurz alle Personalien der beim Unfall anwesenden Personen auf, bevor er aus dem Zimmer trat.
Lennard musste in den nächsten 24 Stunden viel erklären und herumtelefonieren. Er war auf einigen Sitzungen mit dem Senat und dem Vorstand der Sicherheit. Er versuchte das Beste aus der Situation herausholen, aber wusste, dass er seine Vorgesetzten nur schwer davon überzeugen konnte. Er selbst, konnte ja noch nicht einmal den Argentinier ordentlich einschätzen. Während des Vorfalls war er von Schmerzen und dem Resten der Sedierung an gravierenderen Handlungen gehindert worden. Das würde sich aber ändern, sobald sein Zustand sich verbesserte. Der Vorstand machte ihm klar: Die erste Priorität wäre ab jetzt die Sicherheit.
Und zwar in erster Linie Sicherheit für das medizinische Personal und die Wachleute im Dienst.
Folge daraus war, dass sich die Vorkehrungen extrem verschärften. Es wurde verlangt, dass mindestens eine Person sich im Nebenraum aufhalten musste, um den Zustand des Argentiniers zu überprüfen. Im Notfall konnte dies auch eine Person vom Sicherheitspersonal sein. Die Vitalwerte, des jungen Mannes, mussten wöchentlich dokumentiert und an die Obrigkeit gesendet werden.
Die zweite Voraussetzung war eine Fixierung des Weißhaarigen mit Hochleistungsfesseln, die seinen Bewegungsradius verhindern, beziehungsweise, immens einschränken sollten. Verknüpft mit Stahldrähten, wurden sie um seine Handgelenke geschnallt und am Bett montiert. Das medizinische Personal bekam eine Einweisung, wie die Schockfunktion der Handschellen funktionierten und Dave rannte bei der Vorstellung, ihren Patienten mit Elektroschocks ausknocken zu müssen, ein Schauer über den Rücken.
Diesen Maßnahmen konnte Lennard leider nicht entgehen. Doch er hatte sein Bestes getan. Mal sehen, wie ihr Patient die Veränderungen aufnahm.
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