17. Von Herz zu Herz
London, 15. April
(Passagen mit *Sternchen* werden in Gebärdensprache gesprochen)
Ian hätte mit vielen Szenarios gerechnet.
Doch nicht, dass Hughs Arnold, Griffin Wyk, June Mettler und Dave Warner im Inneren des Gefährtes gemeinsam auf ein paar schmalen Bänken saßen und sich unterhielten. Dave, der unversehrt zu sein schien.
Eine Welle der Erleichterung floss über ihn hinweg, als sich die Anspannung für wenige Sekunden löste. Dave war in Sicherheit. Das war alles, das im Moment für ihn zählte.
Dennoch blinzelte Ian dem Anblick vor ihm verwirrt entgegen. Da gab es noch ein Mysterium, das zu lüften war.
"Was zum...?", entwich es Mortimer, der mit einem Ausdruck völliger Verzweiflung und Unglaube in das Wageninnere blickte.
Die vier Insassen blickten überrascht, als hätte man sie bei einem interessanten Gespräch gestört.
"Da seid ihr ja", wandte sich Arnold zu ihnen und deutete auf eine freie Bank. "Setzt euch. Ihr habt bestimmt Fragen."
Ian war kurz davor, Dave aus dem Fahrzeug zu zerren und dem Kommandanten eine Waffe an die Kehle zu halten. Doch dann sah er sich die Situation vor ihm aus einer anderen Perspektive an. Die fehlenden Handschellen an Daves Händen, die fehlende Bewaffnung, die geringe Bemannung und die seltsamen Patronenhülsen - und ihn traf die Realisation, das seltsame Gefühl, dass ihn bereits zuvor beschlichen hatte.
Er trat ein, während Mortimer weiter zögerte. Ian warf ihm einen auffordernden Blick zu und deutete in das Innere. Argwöhnisch folgte er dem Argentinier, doch als er Platz genommen hatte, konnte sich Mortimer mit seiner Frage nicht mehr zurückhalten.
"Kann mir bitte einer erklären, was hier gerade passiert?"
Lustigerweise war Ian derjenige, der ihm antwortete. *Es war ein Test.*
Stille schwang im Raum umher, bevor jemand das Rätsel auflöste.
"Ja, das stimmt. Es war ein Test", bestätigte June, die die Gebärden von Ian übersetzte.
"Was?", entfuhr es Mortimer. Er machte den Eindruck, als würde er auf der Stelle aufspringen und den Wagen verlassen wollen. Vermutlich fühlte er sich mehr betrogen als Ian.
"Es tut mir leid, dass wir euch so täuschen mussten. Aber ja, es stimmt. Das hier war ein finaler Test, um festzustellen, wie weit wir Ian vertrauen können", klärte Arnold sie auf.
„Wusstest du davon?", kam Mortimers entrüstete Frage an Dave.
Der Braunhaarige schüttelte den Kopf. „Nein! Ich hatte keine Ahnung!"
June ergänzte: „Dave haben wir erst wenige Minuten vor Beginn eingeweiht. Es musste so realistisch wie möglich rüberkommen."
„Ja", meinte Arnold mit einem Schmunzeln. „Und trotzdem haben wir uns irgendwie verraten, nicht wahr, Mister Álvarez?"
Ian musste zugeben, dass ihm die Panik vermutlich die Sicht getrübt hatte. Erst viel später hatte ihn der zweifelnde Gedanke gepackt, dass es eine Inszenierung war. Das dies alles hier einem Test diente - darauf war er allerdings erst sehr viel später gekommen.
Ihre Männer haben gezögert zu schießen, ließ Ian den Translator sprechen. Sie waren nicht darauf aus, uns lebensbedrohlich zu verletzen. Zu wenig Patrouille für das Vorhaben, außer es wäre eine Culebra dabei. Und die Gummimunition.
Aber er musste zugeben, dass er dem ganzen Spiel eine lange Zeit geglaubt hatte.
„Verstehe, es gibt also eindeutig Verbesserungsbedarf", meinte Hughs mit einem Schmunzeln, aber schien sehr selbstzufrieden mit sich und seinem Ergebnis. „Ich bevorzuge normalerweise andere Methoden, die weniger hinterlistig sind... aber ich musste eine Einigung mit dem Senat finden."
Während Ian vollstes Verständnis für das Handeln des Kommandanten hatte, packte Mortimer die Unsicherheit. Er wollte es nicht zugeben, aber in dieser Situation hatte er tatsächlich das erste Mal an seinem Arbeitgeber gezweifelt. Und nun fühlte er sich schlecht. Er war schon immer auf besondere Art und Weise mit seiner Aufgabe und seinem Dienst verbunden.
Für den Schwarzhaarigen war seine Arbeit sein Leben. Alles, auf das er seit seinem Abschluss hingearbeitet hatte.
Wyk sah den unzufriedenen Blick in Mortimers Gesicht.
"Richards sprechen sie", forderte er seinen Mitarbeiter auf, der zögerte, bevor er zu Worte kam.
"Wen genau, haben wir dann da draußen ausgeknockt?"
"Das waren Freiwillige vom Militär und dem Security-Bereich", antwortete ihm sein Vorgesetzter.
"Und die Geschosse?"
"Kunststoffgeschosse aus Gewehrattrappen. Im schlimmsten Fall schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich. Sie hatten deutliche Befehle nicht auf den Kopf zu zielen, damit wollten wir schwere Verletzungen vermeiden. Und wie es aussieht, habt auch ihr euch zurückgehalten."
"Ja...", schluckte Mortimer und war im Nachhinein erleichtert, dass er Ian um Vorsicht gebeten hatte. „...auf meinen Wunsch hin."
"Machen sie sich keine Sorge, Richards. Ein Sanitärteam sieht bereits nach ihnen, während wir uns unterhalten. Es waren alles Freiwillige, keiner von ihnen wurde gezwungen. Sie wurden vorbeugend mit Sicherheitskleidung ausgerüstet, aber wussten auch, was auf sie zukommt. Es ist nichts, was nicht heilen wird."
Es beruhigte Mortimer zumindest ein bisschen. Doch der junge Sicherheitsbeamte fügte noch etwas hinzu, das seine Gewissen plagte.
„Wird mein Verhalten Auswirkungen haben?"
„Nein, das habe ich bereits mit Wyk besprochen", beruhigte ihn Arnold. „Sie behalten ihre Stellung und müssen mit keinen Konsequenzen rechnen. Solange sie dieses Erlebnis vertraulich behandeln. "
Mortimer nahm das mit einem Nicken entgegen.
Huhgs sah in die Runde. „Ich entschuldige mich abermals. Aber ich bin froh, dass sich meine Vermutung bestätigt hat. Ich glaube, es wird erfreuliche Ergebnisse geben, wenn ich dem Senat von diesem Test berichte. Ihr könnt innerhalb weniger Tage eine Antwort von mir erwarten. Dann sehen wir, wie es weitergeht."
Er wartete auf weitere Fragen von Ian und Mortimer und erhob sich von seinem Platz. Die anderen folgten und Wyk kümmerte sich darum, dass Ians Fußfessel wieder aktiviert wurde. Alle waren auf den Weg zur Tür, nur Ian verharrte an Ort und Stelle. Er nahm seinen Translator und ließ die Sprachausgabe in den Raum hinaus schallen.
Kommandant Arnold, kann ich sie einen Moment sprechen?
Hughs wechselte einen Blick mit June und Griffin, die kurz zusammen mit Dave und Mortimer den Wagen verließen. Dave schickte ihm einen besorgten Blick, bevor sich die Fahrzeugtüren schlossen. Hughs hatte erneut gegenüber von Ian Platz genommen.
„Gibt es etwas, das du mir sagen möchtest?"
Ja. Es gibt etwas, das ich ihnen verschwiegen habe. Es geht um das Extol und dass ich nicht der einzige Deserteur im SA-Militär bin.
Hughs zog die Augenbrauen interessiert nach oben, bevor seine Mine ernst wurde.
„Erläutere bitte", ermunterte der Kommandant und lehnte sich interessiert nach vorne.
Es gibt noch mehr Leute, die sich gegen das SA-Militär auflehnen. Sie nennen sich la Frontera.
„Sie haben sie nie in ihrem Tagebuch erwähnt. Warum wissen wir davon nichts?"
Weil sie im Geheimen arbeiten. Deswegen habe ich sie auch nicht im Tagebuch erwähnt. Wenn man es herausgefunden hätte, wäre das fatal.
„Wer sind diese Leute?"
Unterschiedlich, tippte Ian so schnell er konnte. Bürger, Soldaten, Offiziere, aber auch Culebras. Ich bin Teil dieser Gruppe.
Vor der ganzen Geschichte in Plymouth haben wir seltsame Dokumente und Berichte entdeckt. In ihnen wird oft der Name Proyecto Fósil und Extol erwähnt. Sie stehen fast immer im Zusammenhang mit Kraftwerken, Batterien und Stromversorgung, die das Militär mit Energie und Rohstoffen versorgt. Wir glauben, dass sie versuchen, ihre Waffenkraft zu stärken.
„Verstehe, das ist interessant. Dieses Extol war uns bisher schon immer suspekt. Warum erzählen sie uns jetzt erst davon?"
Weil ich nicht weiß, ob dieser Test von heute nicht irgendwann doch Realität werden könnte. Das SA hat fast überall Spitzel. Ich bin lieber vorsichtig als nachsichtig.
Hughs gab ein verständnisvolles Summen von sich. „Was wurde aus diesen Dokumenten?"
Wir haben einen unserer Leute in ein Extol-Kraftwerk eingeschleust. Es war monatelange Arbeit, um nicht aufzufallen. Er hat Daten der Institution auf einen Speicherträger kopiert. Er meinte in seiner letzten Übertragung nur, dass es vertrauliche Berichte waren. Bestandsaufzeichnungen über diese, aber auch über andere Abbaustationen. Etwas in diesen Berichten hat ihn damals stutzig gemacht und er hat sich tiefer damit beschäftigt. Irgendwas war faul.
„Was ist mit eurem Informanten passiert?"
Ians Augenbrauen verzogen sich finster, als er an das Schicksal des Mannes dachte.
Er ist aufgeflogen und bei der Flucht verstorben.
„Und der Datenträger?"
Ich habe ihn erhalten und weitergegeben. Er sollte jetzt bei der Frontera sein. Mehr weiß ich leider nicht, da ich kurz danach in Plymouth gefasst wurde und keinen Kontakt mehr hatte.
Hughs murmelte etwas Unverständliches. Mit solchen Informationen schien er nicht gerechnet zu haben. Er gewann aber schnell wieder seine Fassung.
„Glaubst du es besteht eine Möglichkeit, Kontakt zu la Frontera aufzunehmen?"
Wenn ich Zugang zu einem Kommunikationsportal bekomme, dann könnte ich euch weiterhelfen. Wir hinterlassen mehrfach codierte Botschaften im Kleingedruckten von unwichtigen Berichten. Der Code ist schnell geschrieben, aber das Warten wird einige Zeit in Anspruch nehmen. Ich weiß nicht, wie weit la Frontera noch agiert. Dafür war ich zu lange von ihnen abgeschieden.
„Dieses Risiko werden wir eingehen müssen, wenn wir dafür die Möglichkeit bekommen, auf der südamerikanischen Seite Verbündete zu gewinnen. Wann wären sie imstande, diese Codes zu schreiben?"
Jeder Zeit.
„Gut, dann hole ich sie morgen gegen 9 Uhr an ihrem Apartment ab."
Sie hatten einen unausgesprochenen Deal, den sie mit Händeschütteln bestätigten.
Draußen vor dem Wagen wartete der Rest, der sie alleine gelassen hatte. Arnold, Wyk und June brachten Dave, Mortimer und Ian zur Eingangshalle von Sektor 2, bevor sie ihrer Wege gingen.
Ian wartete, bis die drei Führungskräfte außer Sichtweite waren, dann überrumpelte er Dave. Er überwand die kurze Distanz zwischen ihnen und schlang erleichtert seine Arme um den Braunhaarigen. Dass Mortimer direkt hinter ihnen stand, war für den Moment völlig vergessen.
Dave war erst unsicher, wie er auf diese Berührung reagieren sollte. Sein Körper erledigte unterbewusst die Arbeit für ihn, als seine Arme sich auf Ians Rücken schlichen.
„O-Okay?", stammelte er mit hochrotem Kopf und Überraschung in der Stimme. „Alles gut?"
Ian löste sich von dem jungen Arzt. Für einen kurzen Moment waren sich ihre Gesichter nah. So nah. Es würde nur ein paar Zentimeter der Überwindung kosten... Doch stattdessen fing sich Ian und deutete zu Dave.
*Ich bin nur froh, dass es dir gut geht.*
Ein schiefes Lächeln lag auf Daves Lippen. „Das war ziemlich überraschend. Tut mir leid, dass ich dir Sorgen gemacht habe."
*Als ob du etwas dafür könntest*, antwortete Ian, der sich fragte, weshalb Dave sich die Schuld für seine Sorgen gab. *Ein Glück, dass es nicht Realität war.*
„Trotzdem ziemlich mies von Arnold und Wyk."
*Aber ich verstehe, warum sie es getan haben. Es ist schwierig. Wie hat man bei einer solchen Sache absolute Gewissheit?*
Sie nahmen den Lift, denn der Weg nach oben war immer anstrengender, als der Weg nach unten.
„Was hast du mit dem Kommandanten noch Wichtiges besprochen?", hakte Dave neugierig nach, während sie auf die Kabine warteten.
*Es ging um das SA-Militär. Wir können vielleicht Kontakt zu ein paar Widerstandskämpfer aufnehmen. Der Kommandant holt mich morgen.*
„Widerstandskämpfer? Davon hast du aber nicht in deinem Tagebuch geschrieben. Und auch nie erzählt", entgegnete Dave ein wenig beleidigt, dass er davon nichts wusste.
*Weil es mit dir nie Thema war* Und darum war er sehr froh. Mit Dave schien er all diese Sorgen rund um das Militär vergessen. *Und im Tagebuch konnte ich sie nicht erwähnen. Zu große Gefahr, dass sie auffliegen könnten. Wir arbeiten alle im Geheimen.*
„Oh. Ach so. Übrigens war das echt cool, was du da mit dem Stock angestellt hast. Die hatten keine Chance gegen dich."
*Du hast das gesehen?*
„Ja, wir haben über Kameras zugesehen", schmunzelte Dave etwas verwegen. Er war zutiefst beeindruckt und verstand endlich, was den Argentinier zum physischen Training hinzog. Er hatte Ians elegantes Bewegungsschauspiel auf dem Monitor Sekunde für Sekunde verfolgt. Seine neckende Bemerkung konnte er trotzdem nicht zurückhalten. „In deinem schmeichelhaften Overall warst du genauso sexy wie ein Kartoffelsack."
Dafür erntete er einen verdienten Stoß in die Rippen von Ians Ellenbogen.
*Ich war gerade auf einer nachgestellten Selbstmord-Mission. Das Letzte, an das ich gedacht habe, war mein Modebewusstsein*, stichelte Ian zurück, ohne es wirklich ernst zu meinen.
Der Braunhaarige rieb sich seinen stechenden Brustkorb, wo Ian ihn getroffen hatte. Sein Gekicher half nicht wirklich und intensivierte stattdessen den Schmerz, aber er konnte nicht anders. „Ist ja gut, Entschuldigung."
Ein Bimmeln riss sie aus ihrem Gespräch, gefolgt von einem ausdrucksstarken „Fuck" aus Daves Mund.
*Was ist?*
Dave tippte eine Antwort in sein KOM. „Tut mir leid, aber ich muss auf die Station. Mein Vater fragt schon, wo ich bin. Er kommt, um mich abzulösen, damit jemand auf Sachmet aufpassen kann. Anscheinend hat Arnold ihn nicht informiert, was sie so spät am Abend planen."
Dave drückte seinen Halt auf dem Zahlenmenü, bevor sie ihn verpassen konnten. Als sich die Türen des Aufzuges im richtigen Stockwerk öffneten, stolperte er hinaus.
„Wir sehen uns, bis bald!", winkte der Braunhaarige zum Abschied, bevor er den Gang hinunter stolperte.
Ian hob seine Hand zum Abschied und ließ seinen Kameraden schweren Herzens gehen. Während sich die Türen wieder schlossen, kämpfte er mit der Versuchung, Dave einfach hinterher zu sprinten. Mortimer war nicht anwesend, wer sollte ihn also schon aufhalten?
Die Fahrstuhltüren antworteten ihm, als sie Ians Weg abschnitten und ihn weiter nach oben beförderten. Erst auf Ebene seines Apartments konnte er aussteigen und wurde sogleich von Mortimer begrüßt, der mit einer anderen Fahrstuhlkabine schneller gewesen war. Im Türrahmen zu seinem Zimmer verharrte Ian kurz und drehte sich zu seinem Geleitschutz.
*Danke für deine Hilfe. Auch wenn es nur ein Test war.*
Mortimer besah ihn mit einem seltsamen Blick, bevor er ein kurzes Nicken erwiderte.
„Kein Ding. Wir sehen uns morgen."
Nachdem Ian ins Innere verschwunden war, schloss Mortimer die Türe und verriegelte sie. Der Schlagabtausch mit seinem Kollegen geschah reibungslos, wenn auch heute ein wenig später. Er schlüpfte in zivile Kleidung und machte sich auf in seinen Feierabend. Auf dem Weg in das Foyer ging er das ganze Szenario in seinem Kopf noch mal durch. Da war nur eine Sache...
Er suchte in seinem ID-Verzeichnis nach Fenrirs Nummer. Die hatten sie ausgetauscht - selbstverständlich nur für dienstliche Zwecke. Seufzend starrte Mortimer auf die Kontaktinfo seines KOMs bevor er den Anruf betätigte. Nach einer Reihe verschiedenster Töne, knisterte es in der Leitung.
„Hej Mortimer!", hallte Fens Stimme durch den Lautsprecher.
„Hallo Fen", presste der Schwarzhaarige heraus. „Äh... Ich wollte nur..."
Etwas lautes rauschte an Fenrirs Leitung vorbei und bei genauem Lauschen hörte er das Klappern von Pedalen. „Telefonierst du schon wieder während des Fahrradfahrens?", fragte Mortimer mit einen Hauch Panik in der Stimme.
„Äh... Vielleicht?", schnaufte Fenrir und eine Fahrradklingel ertönte, laut und schrill. Mortimer war ein wenig penibel, wenn es um Ablenkung im Straßenverkehr ging. Doch bevor er die Chance bekam, Fenrir über die möglichen Folgen von Ablenkung durch mobile Geräte aufmerksam machen konnte, unterbrach sein Arbeitskollege ihn mit aufgeregter Stimme.
„Wie lief der Test?"
„Test? Du weißt davon?"
Verwirrendes Straßengemurmel hinterlegte Fenrirs Antwort. „Ja, das Sicherheitspersonal hat für die Aktion nach Freiwilligen aufgerufen, deswegen haben wir das mitbekommen. Ist alles gut gelaufen?"
„Ja... Ich wollte eigentlich nur fragen, ob du unter den Freiwilligen warst. O-oder Jenny."
„Nein, wir wurden von June und Wyk gebeten, nicht daran teilzunehmen. Auch wenn es mich sehr interessiert hätte, aber sie meinten, wir könnten uns verraten, weil uns Ian nun doch schon besser kennt."
Erleichterung durchflutete Mortimer, als er die Worte hörte. Er hätte es sich nicht verziehen, wenn Fenrir unter denjenigen gewesen wäre, die er und Ian gerade vermöbelt hatten.
„Ach so...", murmelte der Schwarzhaarige verwegen. „Dann ist ja gut. Ich wollte nur sichergehen-"
Ein lautes Hupen aus Fenrirs Leitung unterbrach ihn, gefolgt von einem gefluchten ‚Träskalle!' in Fenrirs Worten. Mortimer runzelte die Stirn und wollte sich gerade erkundigen, da drang die Stimme seines Gesprächspartners durch das KOM. „Sorry für die Störung", schnaufte er ein wenig gestresst. „Kann ich dich zurückrufen? Ist grad doch ein bisschen ungünstig."
„Ja klar, kein Problem", murmelte Mortimer zurück. „Es war nicht so wichtig. Ich werde es dir einfach morgen sagen. Fahr bitte vorsichtig."
Sie verabschiedeten sich und Fenrir legte auf. Während noch lange das Signal der fehlenden Verbindung im Hörer widerhallte, hätte sich Mortimer selbst an die Wand klatschen können. Er entschloss sich aber dagegen und machte sich auf den Weg nach Hause in seinen wohlverdienten Feierabend.
--.--
Dave hatte das Ereignis mit Isabel noch nicht vergessen. Genauso wie die Worte, die ihm damals aus dem Mund gerutscht waren, ohne zu überlegen. Bis jetzt hatte er sie verdrängen können, doch Ians Prüfung hatte alles wieder zurück in seinen Kopf geholt. Sie ließen ihn nicht mehr klar denken. Er musste ständig über die Wörter nachdenken, die er seiner Ex-Freundin geantwortet hat.
Tessa und er waren am folgenden Tag auf Patientenrundgang und hatten gerade den letzten Besuch geschafft. Nun musste der ganze Kram in den Computer eingetragen werden. Er saß bereits seit mehreren Minuten vor dem Bildschirm und schaute auf die halb volle Tabelle vor ihm. Was wolle er grade noch machen? Er war schon wieder vom Thema abgekommen.
„Hier bitte schön", sang Tessa trällernd und beförderte den Rest ihrer Akten vor seine Nase auf den Schreibtisch. „Damit dir nicht langweilig wird."
„Danke", grummelte Dave, ohne auch nur ein bisschen dankbar zu sein. Als die Blonde sich lachend zum Gehen abwandte, um zu ihrem eigenen Arbeitsplatz zurückzugehen, dachte Dave wieder an Isabel, seine Worte und sein absolutes Gefühlschaos. „Hey Tessa!", platze es aus ihm heraus, bevor seine Kollegin den Raum verlassen konnte. „Hast du einen Moment Zeit?"
Tessa hielt inne, ein wenig überrascht über die ungewohnte Frage.
„Na klar", antwortete sie und schnappte sich einen Stuhl. „Was gibt's?"
Als sie ihm gegenübersaß, begann Dave zögerlich seine Worte zu sammeln.
„Ich brauche deinen Rat bei etwas..."
Seine Daumen begannen sich nervös zu drehen.
„Na, dann zier dich nicht so. Erzähl es mir."
„Ist ja gut, das Ding ist nur..."
Er stockte erneut und versuchte seine Gedanken zu sammeln.
„Ach, Dave", schmunzelte Tessa. „Bist du vielleicht endlich mal wieder verliebt?"
Ihre Augenbrauen wackelten interessiert auf und ab und es war eigentlich als ein neckisches Späßchen gemeint. Damit konnte sie Dave immer aufziehen. Doch Daves Schweigen machte ihr ein wenig Angst. Er wich ihrem Blick aus und sie sah sein nervöses Fingerkratzen an der Hose.
„Nein. Das gibt's nicht!", beantwortete sie sich also ihre eigene Frage mit großen Augen. „Wirklich jetzt?"
„Ich weiß es nicht ganz genau! Das ist es ja!"
„Erzähl mir alles!"
Dave stöhnte und bereute jetzt schon ein bisschen Tessa darauf angesprochen zu haben.
„Nun, ich hab seit dieser Woche nur diesen einen Gedanken und er ruft bei mir ein seltsames Gefühl aus..."
„Wie fühlt es sich an?"
„Wie damals, als ich noch richtig gut mit Isabel war und etwas für sie empfunden habe, nur... viel intensiver und anders. Fast schon erfrischend auf eigene Art und Weise."
Tessa legte den Kopf schief. „Seit wann weißt du es?"
„Seit dem Gespräch mit Isabel", gab Dave zu. „Ich hab ihr dummes Geschwafel nicht mehr ertragen. Sie hat vermutlich gemeint, dass alles mit einer einfachen Entschuldigung erledigt wäre."
Der Braunhaarige seufzte in seine Hände. „Ich hab ihr gesagt, dass ich derzeit an jemanden interessiert bin. Erst habe ich nicht viel darüber nachgedacht, aber je öfter ich die Worte wiederhole, umso mehr muss ich immer an die eine Person denken."
Tessa musste ein wenig kichern, als Daves Kopf die Farbe einer blühenden Rose annahm.
„Und was willst du jetzt machen?"
„Ich weiß es nicht", presste ihr Kollege gestresst zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und rollte näher zu Tessa. „Deswegen brauche ich ja deinen Rat! Was mache ich denn jetzt?"
„Oh Dave, du bist absolut verliebt. Das ist meine offizielle Diagnose. Ich würde dir raten, der Person einfach zu sagen, was du für sie empfindest."
„Nein! Nein, nein, nein, nein und nein. Auf keinen Fall. Nicht, bis ich ganz sicher bin."
„Dave, was steht denn auf dem Spiel? Willst du wirklich warten, bis das Thema zufälligerweise aufkommt?"
„Ich hab nur Angst, dass ich damit dann alles ruiniere, was ich mir mit ihm aufgebaut habe. Das Vertrauen, die Freundschaft... Ich will nicht, dass ich es mit einem Schlag vernichte. Es soll nicht so enden wie mit Isabel."
Tessa beäugte den Braunhaarigen, den sie seit Langem nicht mehr so aufgewühlt gesehen hatte. Doch sie war nicht blind - ganz im Gegensatz zu ihrem Arbeitskollegen. Sie hatte schon eine Vorahnung, wen Dave mit ‚ihm' meinte. Sie schloss ihre Hände um seine, um sein nervöses Kratzen zu stoppen.
„Okay, hör zu", erklärte sie beruhigend. „Mach es so. Verbringe mehr Zeit der Person. Versuche herauszufinden, was ihm gut gefällt, achte auf Gesten oder Bewegungen. Sieh, was es in dir auslöst. Das alles kann schon viel bedeuten."
„O-okay."
Aus der brüchigen Stimme hörte sie heraus, dass er den Tränen nahe war. Stumm zog sie ihn in ihre Arme. Dave ließ es zu.
„Und wenn du mehr weißt...", ergänzte Tessa „...kannst du auch immer zu mir kommen. Ich nehme mir gerne Zeit, wenn ich dir helfen kann."
Dave zog sich beschämt zurück und trocknete seine Augen mit seinem Ärmel. Dass er sich von seiner Kollegin Beziehungstipps holen musste... Dafür war er eigentlich alt genug, um selbst damit klar zu kommen. Dennoch war er froh, dass Tessa ihn mit solchen Themen auffangen konnte. Beziehungen gehörten eben nicht zu seinen Stärken.
„Danke dir Tess", entgegnete er ihr dankbar.
Es klopfte an der Türe und Simon schob seinen Kopf hinein.
„Tessa?", meinte er mürrisch. „Wo bleibst du? Ich will den Bericht endlich fertigmachen."
Die blonde Ärztin drehte sich zu ihm. „Ist ja gut, ich komme gleich", scheuchte sie ihn mit einer Handbewegung wieder hinaus. Simon beäugte Daves verheultes Gesicht mit einem unbeeindruckten Augenrunzeln, dann waren sie wieder zu zweit.
„Ich muss los, aber das Angebot steht. Wann immer Bedarf ist", versicherte Tessa ihm ein letztes Mal. Sie schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie zur Türe schritt. Mit der Hand an der Klinke verharrte sie, ehe sie sich plötzlich noch einmal umdrehte.
„Aber ich gebe dir einen Rat, Dave. Warte nicht zu lange. Man weiß nie, was noch alles passieren kann. Vielleicht bereust du es danach, nichts gesagt zu haben."
Die Tür fiel ins Schloss und Dave war alleine.
--.--
Ian wurde am nächsten Tag des Tests von Hughs Arnold persönlich an seinem Apartment abgeholt. Nachdem sie sich mit seiner Fußfessel auseinandergesetzt hatten, um ihn den Zugang zu gewährleisten, führte Hughs ihn in ein großes Kontrollzentrum mit aufgereihten Computern. Umringt von mindestens fünfzehn anderen höheren Führungskräften wurde er in einen Stuhl gedrückt. Ein Mitarbeiter neben ihm öffnete den Zugang zum Kommunikationskanal und erklärte ihm die Funktionen.
Und sie werden den Eingriff nicht bemerken?, erkundigte sich Ian sicherheitshalber über den Translator.
„Nein", antwortete einer der Fachmänner neben ihm. „Wir agieren über einen mehrfach verschlüsselten Rechner. Für die SA-Leute wird es aussehen, als würde einer ihrer Computer darauf zugreifen."
Unter den wachsamen Augen der Senatsmitglieder und des Kommandanten kämmte sich der Argentinier durch die digitalen Berichte. Er fand codierte Botschaften von den letzten Monaten. Über Standortwechsel, Aufrüstung und neuen Rekruten. In einem Bericht über den derzeitigen Rekrutenbestand des SA-Militärs entdecke er einen Hinweis auf einen Wechsel der Kommunikationskanäle. Die wurden von Zeit zu Zeit ausgetauscht, um nicht aufzufallen.
Was soll die Nachricht beinhalten?
Huhgs trat hinter seinem Stuhl und lehnte sich zum Bildschirm vor. „Schreiben sie, dass das britische Militär über sie Kontakt aufnehmen möchte. Wir bieten unsere Unterstützung an, um gegen das SA-Militär vorzugehen."
Ian tauschte Wörter durch Zahlen, änderte die Aufstellung und fügte sie zu kurzen Abschnitten wieder zusammen, um sie dann in den Bericht einzufügen, als hätten die Worte da schon immer hingehört. Er überflog das Gesamtergebnis ein letztes Mal.
Jetzt heißt es warten.
„Wie lange wird es dauern, bis wir eine Antwort erhalten?"
Ian zuckte mit den Schultern.
Unterschiedlich. Oft dauert es länger. Kann zwischen mehreren Tagen und Wochen variieren. Die Kommunikationskanäle über die Berichte wechseln regelmäßig, um nicht aufzufallen.
Ein paar der Senatsmitglieder rümpften unzufrieden die Nase, doch Arnold antwortete ihm gelassen.
„Dann müssen wir abwarten und regelmäßig die Kanäle überprüfen. Danke für die Zusammenarbeit. Ist es in Ordnung für sie, wenn ich alle zwei Tage ihre Zeit beanspruche, um die Berichte auf eine Antwort der Frontera zu überprüfen?"
Ian stimmte dem Vorschlag zu. Somit war seine Arbeit hier auch getan und er wurde vom Kommandanten zurück zum Wartebereich begleitet, wo Mortimer verweilte.
Hughs versicherte dem Argentinier ein letztes Mal, dass das Ergebnis der Prüfung in wenigen Tagen stehen sollte und er ihn rechtzeitig kontaktieren würde.
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