10. Kenne Freund und Feind
London, 24. Februar
(Passagen in kursiver Schrift werden in spanischer Sprache gesprochen oder geschrieben)
Die ersten Tage verschanzte sich Ian stur in seine Zimmer. Der ganze Umzug alleine war schon eine große Umstellung: Neue Umgebung, eigene Unterkunft, ein neuer Tagesrhythmus und viel mehr Menschen um ihn herum. Er ließ sich Zeit, um sich zu akklimatisieren und sich in seinen neuen vier Wänden einzugewöhnen. Aufgrund der Sperrstunde war es ihm nicht erlaubt, sein Zimmer nach 19 Uhr zu verlassen, also musste er seine Tätigkeiten auf die Tageszeit verlegen. Das war einfacher gesagt als getan, nachdem er seit Wochen die Nächte eigentlich immer wach gelegen war.
Dave brachte Ian ein paar Anziehsachen. Der Weißhaarige äußerte keine konkreten Wünsche, weshalb er sich mit Tessa über die Auswahl der Klamotten beratschlagte. Besser gesagt, ließ Tessa den jungen Arzt nicht alleine zum Kleiderkaufen gehen. "Damit er danach so rumläuft wie du? Bitte nicht!", meinte sie nur mit hochgezogener Augenbraue. Also ließ er die Expertin machen.
Ian verbrachte die freie Zeit damit, seine Notizzettel wieder zu sortieren und an der Wand zu befestigen. Sein Geleitschutz ließ sich kaum blicken und wartete stattdessen vor der Türe. Alle paar Stunden sah er nach, ob bei dem Argentinier alles in Ordnung war, bevor er wieder aus dem Raum verschwand.
Ein Klopfen an der Türe ließ Ian von seinen Studien aufschrecken. Er drehte sich zum Eingang und sah Dave auf der Schwelle stehen. Der Weißhaarige hob eine Hand zum Gruß. Doch konnte er gar nicht so schnell schauen, da kam ihm eine weitere sehr haarige Begleitung entgegen. Er fing die Hündin mit seinen Armen auf, die ihn mit seinen Vorderpfoten auf das Bett drückte.
Ihr Besitzer stürzte Sachmet mit dem kläglichen Versuch hinterher, sie durch die Leine zu bändigen.
"Sachmet, jetzt mach mal langsam."
Ein paar tadelnde Worte später und durch ziehen an der Hundeleine, brachte Dave seine Hündin endlich dazu von Ian abzulassen. Er entschuldigte sich ein paar M, doch der Argentinier schien nichts gegen die stürmische Attacke zu haben. Er kannte den Border Collie bereits von den wenigen Malen, als Dave sie mit in den Sicherheitssektor nehmen musste. Sie blieb nie lange, aber irgendwie schien sie an dem Argentinier einen Narren gefressen zu haben. Und der Argentinier auch an ihr.
"Tut mir leid", entschuldigte sich Dave. "Aber irgendwie, ist sie heute nicht zu bremsen."
Er bekam nur eine abweisende Handbewegung von Ian, der angefangen hatte die Ohren der Hündin zu kraulen. Die Dame genoss die pure Aufmerksamkeit, als wäre sie beim Wellness. Ian griff nach seinem Block. Der Translator lag war direkt neben ihm, doch irgendwie verabscheute Ian das Gerät. Schriftlich war er zwar noch ein wenig eingeschränkt und es dauerte länger, aber mit der leblosen und toten Stimme des Übersetzers fühlte es sich so falsch an zu kommunizieren.
Wieso bist du hier?, fragte der Argentinier. Ein verwunderter Blick ging zu der schlichten Kleidung, die der junge Arzt heute trug. Ohne seinen Arztkittel war Ian Daves Erscheinungsbild gar nicht gewohnt.
Und wieso dieser Aufzug?
Der Braunhaarige sah an sich selbst herunter, als ob er vergessen hätte, wie er sich heute Morgen angezogen hatte.
"Ach, du meinst, warum ich in Zivil hier bin? Ich hab heute frei", grinste Dave sein Gegenüber an, als wäre es eine Selbstverständlichkeit, an seinem freien Tag, trotzdem am Arbeitsplatz zu erscheinen. Das wollte der Argentinier nicht so wirklich begreifen.
Warum bist du hier, wenn du heute frei hast?
"Ich war eigentlich mit Sachmet unterwegs, als mir eingefallen ist, dass ich dich was fragen wollte. Bisher hatte ich keine Zeit wegen der Arbeit, aber ich wollte dir eigentlich das Hauptquartier zeigen. Ich bezweifle nämlich, dass dieser Miesepeter da draußen dich schon herumgeführt hat"
Er und deutete mit einem Nicken zur Türe hinaus, wo Ians Eskorte wartete.
Weiß nicht, ob das eine gute Idee ist, schrieb Ian. Er trug einen besorgten Blick in seinen Gesichtszügen. Immerhin haderte er seit Tagen mit der Entscheidung, endlich nach draußen zu gehen. Jetzt hatte er einerseits seine Freiheit - auf der anderen Seite hatte er keine Lust, unangenehme Bekanntschaften zu machen.
"Ach, komm schon. Wir haben ja deinen Geleitschutz. Und du hast mich", scherzte Dave humorvoll. Der Weißhaarige war nicht wirklich begeistert, aber allein die Geste, dass der andere sich an seinem freien Tag Zeit für ihn nahm, wollte er wertschätzen.
Er schob sich in seinen Rollstuhl und packte die Schlüsselkarte sowie Schreib- und Übersetzungsutensilien ein. Sachmet schien zu wittern, dass ihr eine Runde Auslauf bevorstand und watschelte freudig zur Türe. Automatisch zog sie Dave an der Leine mit sich.
Mit knappen Worten erklärte Dave Mortimer im Gang von ihrem Vorhaben. Dave bot an, den Rollstuhl zu schieben, doch Ian wehrte sich vehement dagegen. Seine Schulter war schnell verheilt und er konnte es nicht erwarten, endlich wieder tätig zu werden und nicht als Invalider abgestempelt zu werden. Außerdem hatte Dave alle Hände voll, Sachmet im Schach zu halten.
Dave ließ ihn machen. Der Argentinier sollte seine Freiheiten nutzen, solange es seine Kraft hergab.
Sein Geleitschutz folgte beiden Männern wie ein Schatten. Vor allem Ian versuchte, die ständige Präsenz ihres Stalkers auszublenden. Zuerst führte der Brite sie in die Kantine, wo einen Tisch ein wenig abseits wählte.
"Was hast du denn sechs Tage lang in deinem Zimmer gemacht? Hast du überhaupt gegessen?"
Mortimer hat es mir gebracht.
Der Braunhaarige war überrascht. "Das hat er gemacht? Hätte ich nicht von ihm erwartet..."
Er muss ja dafür sorgen, dass ich nicht verhungere.
"Nun, du wirst feststellen, dass es andere leckere Sachen hier gibt. Such dir was aus", sprach er und reichte Ian die Karte.
Dave gab ihm ein paar Empfehlungen und nachdem sich Ian entschieden hatte, stellte der Braunhaarige sich in die Schlange, um ihr Mittagessen zu holen. Ian hatte solange Zeit sich in der Kantine umzusehen. Irgendwo am Eingang erspähte er den schwarzen Haarschopf von Mortimer, der an der Wand lehnte. Selbst aus meterweiter Entfernung spürte er den brennenden Blick auf ihm. Und plötzlich war es, als ob ihn von überall Augenpaare anstarrten.
Ein Tablett schob sich in sein Blickfeld, gefolgt von Dave.
"Alles okay?", fragte der der junge Arzt besorgt. Ian nickte nur und nahm stattdessen den Teller entgegen. Sie aßen in angenehmer Ruhe und für wenige Minuten konnte der Argentinier seine unangenehme Situation vergessen.
Als Nächstes, führte der Brite sie in die Bücherei. Mit den Worten "Das wird dir gefallen" brachte er sie in Richtung der Aufzüge. Auf den ersten Blick sah die Halle mit der spärlichen Einrichtung nach nicht viel aus. Die Tische bildeten kleine Grüppchen und waren wie Inseln im ganzen Raum verteilt. An jedem war ein Bildschirm befestigt, die in hellem Blau leuchteten. Dave zog einen der Stühle heran und machte Platz für den Rollstuhl. Dann tippte er auf dem Bildschirm herum, bis er die Anmeldeseite erreicht hatte.
"Hier findest du so ziemlich alles, was dich interessieren könnte. Nur Mitarbeiter oder Bewohner im Hauptquartier haben darauf Zugriff, aber nachdem du eine Schlüsselkarte hast, kannst du dich vermutlich auch einloggen", erklärte der Braunhaarige und tippte auf eine Stelle am Bildschirm. Ian holte seine Zimmerkarte hervor und legte sie auf das Feld, das mit "Bitte Karte einlesen" gekennzeichnet war. Ein bestätigendes Piepsen ertönte und ein neues Portal öffnete sich. "Herzlich Willkommen", grüßten ihn die Worte und gab eine Suchleiste frei.
"Jetzt kannst du suchen, was immer du willst", sprach Dave, lehnte sich zurück und überließ seinem Sitznachbarn die Kontrolle über die Tastatur.
Bei der Vorstellung, was er alles nachlesen könnte, fühlte er sich wie ein kleines Kind auf einem Spielplatz. Und die Suchmaschine war seine Spielwiese. Er hatte im SA Zugang zum internationalen Web gehabt, aber jeder Schritt, jeder Klick auf einen Browser wurde mit Argusaugen beobachtet und nachverfolgt. Damals waren seine Möglichkeiten begrenzt. Jetzt waren sie schier grenzenlos. Tausend Ideen gleichzeitig schossen ihm durch den Kopf, als seine Finger über dem Bildschirm ruhten. Dann tippte er mit schnellen Fingern 'englisch' ein und wartete, was ihm der Computer ausspuckte. Die Anzahl der vielen Ergebnisse ließen seine Augen weiten. Seine Möglichkeiten erstreckten sich über zwanzig Seiten: Von englischer Literatur, englischer Lyrik, englischer Kinderreime und -bücher bis hin zum englischen Wörterbuch und Heften zum Üben für Englisch für Anfänger.
Mit einem Lächeln beobachtete Dave, wie der Argentinier unermüdlich über die Seite wischte, nur um dann die nächsten Resultate anzusehen.
"Ich muss dir noch etwas zeigen."
Der Braunhaarige sprang auf und deutet dem anderen ihm zu folgen. Durch eine automatische Türe gelangten sie in einen weiteren Raum, dessen Atmosphäre im kompletten Kontrast zu der Technikbude im Vorraum stand. Es war, als würden sie gerade ein völlig fremdes Biotop betreten. Um sie herum türmten sich Regale voll mit Büchern. Nichts digitales, keine Datenspeicher - echte Bücher mit flattrigen Seiten und glatten Einbänden.
"Mittlerweile wurde viel digitalisiert - auch Bücher", meinte Dave mit einem Achselzucken, während Ian seine Reise durch die Korridore begonnen hatte. "Ich finde aber, es geht nichts über das Gefühl von echten Seiten in der Hand. Man hat hier eine Abteilung nur mit gedruckten Büchern eingerichtet. An den Computern da drüben", er deutete an ein Gerät an der Wand, "kannst du nach bestimmten Büchern suchen und gibt dir dann an, wo du es in den Regalen finden kannst."
Doch Ian war viel zu sehr damit beschäftigt, durch die Gänge zu rollen und seine Hände über die verschiedenen Bucheinbände streifen zu lassen. Plötzlich stoppte er und sah zu Dave, der ihm mit einer Handbewegung weiterscheuchte. Nur ein weinerliches Winseln hielt ihn schlussendlich davon ab, seinen Weg fortzusetzen. Sachmet schlich ungeduldig um die Füße des Braunhaarigen und wedelte ruhelos mit dem Schwanz. Ein bittender Blick ging zu ihrem Besitzer.
"Oh Sachmet, ist es schon so weit?", seufzte der junge Arzt. Ian war zu den beiden zurückgerollt und schickte entsprechende Mimik an den Älteren. Dieser fing sie auf und stöhnte nur kurz. "Sachmet braucht ein bisschen Auslauf. Am besten gehen wir in den Innenhof. Jetzt hast du ja dann genug Zeit, die Bücherei zu durchforsten."
Auf dem Weg in das Erdgeschoss kamen sie an den Personalräumen vorbei, wo Dave seinen Mantel holte und Ian eine seiner Ersatzjacken borgte.
Der Innenhof des Hauptquartiers ähnelte eher einem kleinen Stadtpark, der von allen Seiten von Gebäuden umzäunt wurde. Sitzgelegenheiten säumten die Wege und jahreszeitenbedingte kahle Bäume und Sträucher ragten aus dem Boden. In den angesetzten Beeten ragten schon kleine Ansätze von frischen Blättern heraus, die mit der wärmer werdenden Zeit nur darauf warteten endlich zu sprießen. Einzelne Sonnenstrahlen durchzogen die Wolkendecke und brachten der kalten Luft ein wenig Wärme.
Die kleine Truppe mache es sich auf dem Rasen gemütlich. Heute war einer dieser kalten Februartage, doch zum Glück lag kein Schnee. Sachmet lief freudig um die Bäume und verwickelte ihren Besitzer schon bald in ein Stock-holen-und-werfen-Spiel. Ian erkannte erst jetzt und hier das wahre Ausmaß der Einrichtung. Sie umfasste mehrere Gebäude unterschiedlicher Größe.
Gierig sog Ian die frische Luft in seine Lungen. Mit vorsichtigen Bewegungen erhob er sich aus dem Rollstuhl, schritt in das kurz geschnittene Gras und legte sich hinein. Das Gefühl, endlich etwas anderes unters ich zu spüren als Metall, Eisen und fedrige Bettlaken, ließ seine Rezeptoren vor Sensibilität vibrieren. Er gab sich den Sonnenstrahlen hin, die sein Gesicht wärmten und vergaß für wenige Momente alles um sich herum. Erst als ihm eine feuchte Zunge im Gesicht hing, wurde er wieder in die Realität gebracht.
"Sie will, dass du mal wirfst", lachte Dave, der völlig verschwitzt und außer Atem neben ihm stand. Sachmets Schnauze schob sich in sein Sichtfeld und drückt ihm somit den mit Sabber überzogenen Stock fordernd entgegen. Der Weißhaarige richtete sich auf und nahm das Stück Holz aus dem Maul der Hündin. Er wog ihn kurz in seiner Hand, bevor er ausholte und es weit über die Wiese schleuderte. Hinterher zischte ein Blitz von einem Border Collie, dessen Beine sich vor lauter Vorfreude fast überschlagen hätten.
Dave pfiff beeindruckt durch die Zähne, bevor er lachte. "Okay... Du hast mich gerade um Meilen übertrumpft."
Sachmet war wieder zurückgekehrt und warf den begehrenswerten Ast vor Ians Füße. Mit großen Augen stand sie vor ihm und war bereit für eine weitere Runde.
"Aber das hast du jetzt davon. So schnell wirst du sie jetzt erst mal nicht los...", kicherte der Braunhaarige, lehnte sich genüsslich zurück und verschränke die Arme hinter seinem Kopf. Nun, da er seinen Posten als menschliches Vergnügungsobjekt abgegeben hatte, konnte er erstmal entspannen. Ian hingegen legte sich mächtig ins Zeug und machte seiner Spielpartnerin alle Ehre. Es war ein unermüdliches hin und her, aber sowohl Ian als auch Sachmet fanden großen Gefallen daran. Dave war sich nicht sicher, wer von den beiden mehr Spaß hatte.
Der Stock flog und flog, bis Ian das Gefühl hatte, dass sein Arm abfallen würde. Langsam schien auch die Hündin genug von ihrem Spiel zu haben, als sie sich neben Dave zu Boden sinken ließ.
"Wow, ich glaube, das war ein neuer Rekord. So einen aktiven Tag wie heute, könntest du öfter vertragen, was?", sprach Dave und kraulte die Hundedame am Hals.
Ian setzte sich dazu und schickte einen fragenden Blick.
"Naja, weißt du - gerade haben weder ich noch mein Vater besonders viel Zeit. Für ein paar Stunden kann ich sie alleine zu Hause haben, aber einen ganzen Tag ist unverantwortlich. Oft werden wir gezwungenermaßen gleichzeitig in Schichten eingeteilt und dann ist es schwierig, Sachmet irgendwo unterzukriegen. Wir versuchen das zu vermeiden, aber manchmal geht es nicht anders."
Der Argentinier schrieb seine Antwort auf den hervorgeholten Block.
Gibt keinen, der auf sie aufpassen kann?
"Ich habe schon ein paar Mal versucht, sie in eine Tierhaltung zu geben, aber da hat es ihr gar nicht gefallen. Es gab ein paar Verletzte, als ich versucht habe, sie überhaupt hineinzubringen. Vermutlich lassen die mich auch gar nicht mehr hinein...", überlegte Dave mit einem wehmütigen Blick in die Vergangenheit. "Ansonsten kenne ich leider keine andere Person."
Hat sie eine Befugnis, hier im Hauptquartier zu sein?
"Ja, die haben wir beantragt, nachdem ich oder mein Vater sie öfter mit hierher nehmen müssen. Sie ist also offiziell eingetragen."
Er machte eine Pause, bevor er fragend zu Ian sah. "Warum willst du das wissen? Moment mal - worüber denkst du nach?"
Ich überlege.
Was wenn du Sachmet bei mir im lässt, wenn es nicht anders geht?
Der Braunhaarige war ein wenig überrascht über das Angebot. "Du willst auf Sachmet aufpassen?"
Sein Gegenüber schien die Worte zu bedenken, bevor er mit dem den Schultern zuckte und mit einem Nicken antwortete.
Warum nicht?
Sprachlos saß ihm der Brite gegenüber und es dauerte ein wenig, bis er seine Worte wiederfand.
"Das ist...", stockte er ein wenig unsicher, doch je länger das Angebot in seinem Kopf wiederholte, konnte er eigentlich nichts Negatives dabei sehen. "...eigentlich eine ganz gute Idee. Meinst du das wirklich ernst?"
Ian bestätigte seine Worte mit einer zustimmenden Geste und irgendwie fiel dem Braunhaarigen damit ein Stein vom Herzen. Er hatte ein gutes Gefühl dabei, dass er Ian vertrauen konnte und er sich gut um Sachmet kümmern würde.
"Das ist wirklich nett von dir und ich glaube Sachmet hat auch nichts dagegen. Sie scheint dich sehr zu mögen. Ich werde mich informieren und abklären, ob es eine dauerhafte Möglichkeit ist. Wenn ich etwas weiß, dann gebe ich dir Bescheid."
Sachmet beschloss, dass sie genug von ihrer Schönheitsruhe hatte und startete eine erneute Attacke auf ihren Besitzer. Erst als die Wolken sich verdichten und der Wind auffrischte, brach die kleine Truppe wieder zurück in das Hauptgebäude auf. Dave zeigte dem Argentinier den Aufenthaltsraum und die Krankenstation. Im Aufzug bemerkte Ian das erste Mal, dass Mortimer ihnen noch immer die ganze Zeit über hinter ihm oder in seiner Nähe war. Für wenige Stunden hatte er fast vollkommen vergessen, dass er überhaupt da war.
Sie waren auf dem Weg zurück zu Ians Zimmer, hatten gerade den Lift betreten und ihre Endstation eingegeben, da fiel Dave noch ein Platz ein, den er noch nicht auf seiner mentalen Liste abgehakt hatte.
"Es gib noch einen Ort, den ich dir noch unbedingt zeigen muss!", meinte er hastig, während er den obersten Knopf auf der Leiste betätigte. Sie erklommen Stockwerk für Stockwerk, als sich die Türen öffneten und Dave den Argentinier hinausschob. Die Anstrengung über den Tag zehrte an der Armkraft des Soldaten und er hatte sich der Tatsache hingegeben, dass es vermutlich gar nicht so schlecht wäre, sich schieben zu lassen. Sein Begleiter schien wortlos zu verstehen und übernahm die Kontrolle. Sachmet schien den Weg schon zu kennen, denn sie flitzte voraus und wartete alle paar Meter auf die Nachzügler.
Sie traten durch eine weitere Tür und befanden sich auf der kalten Dachterrasse wieder. Dave schob den Rollstuhl mitsamt Insasse zum Rand, wo das Geländer die einzige Grenze zu einem unendlich hohen Abgrund darstellte.
"Das hier ist mein Lieblingsplatz", sprach der Braunhaarige mit sanften Worten, als seine Hände die kalte Eisenstange der Brüstung umfassten. "Von hier oben hat man einen großartigen Ausblick auf die ganze Stadt."
Ian hatte sich aus seinem Rollstuhl erhoben und konnte sich dank des Geländes in einer stehenden Position halten. Die Sonne am Himmel hatte ihren Weg zum Horizont begonnen und zog quälend lange Schatten über den Boden. Unter ihnen eröffnete sich Londons Außenwelt. Der Weißhaarige war schon öfter in Großstädten wie Rio oder Buenos Aires gewesen, hatte New York und San Francisco überflogen - doch die Massen der Stadt so nah und doch so fern zu sehen, ließ ihn nach Worte ringen.
Ein breiter Fluss schlängelte sich durch die Häusertürme und spaltete sich in kleinere Kanäle und Rinnsale. Was von unten aussehen musste wie Mammutbäume, die aus dem Boden sprießten, wirkte von hier oben klein und unscheinbar. Aus den Tiefen drang der alltägliche Lärm des Abendverkehrs, der Straßenverkäufer und den Passanten. Die Eindrücke überfielen Ian wie eine Wucht. Hinzu kam der fortschreitende Untergang des gelben Feuerballs am Himmel, der sich durch die Hochhäuser senkte. Dort, wo Luft auf Land oder Wasser traf, hatte der Himmel alle Farben angenommen. Von einem hellem Blau bis zu einem tiefen Rot war alles vertreten. Einzelne Wolken, die dem Prozess in die Quere kamen, spiegelten das prächtige Farbspiel.
Er hatte bereits unzählige Sonnenauf- und untergänge gesehen. Und dennoch faszinierte ihn etwas in genau diesem Moment. Hielt ihn fest. Vermutlich weil es Ewigkeiten her war, dass er sich für solche Ereignisse Zeit genommen hatte.
Beide standen sie da, in Stille.
Keiner sagte etwas. Sie genossen den puren Augenblick des Seins - selbst als die untergehende Sonne schon längst aus ihrem Sichtfeld verschwunden war und stattdessen die Sterne und der Mond die Nacht erhellten. Wobei die Lichter der Stadt unter ihnen mit denen am Firmament um die Wette strahlten.
Es mussten Minuten vergangen sein - vielleicht sogar Stunden - da räusperte sich jemand hinter den Zweien und ließ sie erschrocken herumfahren. Mortimer stand an der Türe und starrte beide Männer an.
"Ich störe eure Zweisamkeit ja nur ungern, aber ich muss den Argentinier zur Sperrstunde wieder auf sein Zimmer gleiten", meinte er nur mit einem Nicken in Richtung der Türe. Ein Protest bahnte sich an, doch der Argentinier erstickte jedes Wort der Empörung mit einer kurzen Geste und einem vielsagenden Blick. Er nahm wieder Platz in seinem Rollstuhl, löste die Bremsen und rollte mit kräftigen Zügen zu seinem Geleitschutz. Dave folgte schweigend. Im Aufzug, auf dem Weg nach unten, holte Ian seinen Block heraus und schrieb ein paar Worte, die er dann dem jungen Arzt vor die Nase hielt.
Danke für den Tag. Das bedeutet mir sehr viel.
Auf seinem Gesicht trat ein leichtes, aber ehrliches Lächeln hervor, das Dave im ersten Moment komplett überrumpelt. Die plötzliche emotionale Offenheit des anderen war er nicht gewohnt und auch der ungewohnte Gesichtsausdruck...
Dave verfluchte seinen berechenbaren, hormongesteuerten Körper, der ihm sofort tiefrote Farbe ins Gesicht jagte. Seine Antwort kam stotternd und verlegen und der Brite konnte sein peinliches Benehmen nicht fassen. Wenn Ian irgendetwas aufgefallen war, so ließ er es sich nicht anmerken.
Angekommen vor dem kleinen Zimmer, verabschiedeten sich Sachmet und Dave von dem Argentinier, bevor sie sich auf den Weg nach Hause machten.
--.--
Die folgenden Tage verbrachte Ian viel Zeit in der Bibliothek des Hauptquartieres. Sie hatte sich zu einer Art Zufluchtsort entwickelt, an dem Ian das Gefühl hatte, für sich seien zu können - auch wenn fast immer jemand anderes noch im großen Büchersaal saß. Und wenn es nur Mortimer war. Stundenlang konnte er sich zwischen den digitalen und analogen Büchern verschanzen und nachdem er sie nicht mit auf sein Zimmer nehmen konnte, füllte sich sein Notizblock mit Wörtern, Begriffen, Sätzen und Definitionen, die er später an seiner Wand ergänzte. Er erarbeitete sich eine kleine Routine, an die er sich halten konnte. Sie hatte nicht wirklich viele Bestandteile, aber es gab ihm das Gefühl, dass er seinen Tag im Griff hatte.
Mit seinem Rollstuhl war er leider nicht wirklich unauffällig. Ganz ohne das Hilfsmittel ging es aber auch nicht. Er schaffte gerade mal einen Abstecher in die Kantine und schon auf dem Rückweg schlotterten ihm die Knie. Je länger er sich aufrecht halten musste, desto schlimmer war es. Dennoch probierte er es weiter und überwand sich dazu, jeden Tag ein bisschen länger und ein bisschen stabiler auf den Beinen zu bleiben.
Mit Mortimer wurde Ian nicht wirklich warm. Vielleicht lag das auch daran, dass er so gegensätzlich zu Daves quirligen und aufgeweckten Charakter war. Er sprach nur das Nötigste mit dem Weißhaarigen und sorgte immer dafür, dass genug Abstand zwischen ihnen war. Die Abscheu in den Augen des Schwarzhaarigen war die meiste Zeit unter einer Art Professionalität verborgen, doch in wenigen Momenten kam sie an die Oberfläche und zeigte sich in der Mimik, Körperhaltung und Stimme.
Einer dieser Momente kam sehr plötzlich und unerwartet.
Seit er seinen Geleitschutz hatte, konnte er Aufzüge nicht ausstehen. Es war der einzige Ort, an dem er mit Mortimer auf so engen Raum zusammenstand. Jedes Mal wühlte es ihn innerlich auf und versetzte ihn in eine Alarmbereitschaft, die er nur aus Militärtraining und Einsätzen kannte. Allerdings schien er da nicht der Einzige zu sein, denn auch der junge Sicherheitsmann schien die gemeinsame Zeit alles andere als genießen. Ungeduldig schielte Ian auf die Anzeige des Liftes und hoffte, dass die Fahrt einfach nur schnell vorüber gehen würde.
"Ich kann es nicht fassen, dass ich hier einen von eurer Sorte einfach so herumlaufen lasse."
Die Äußerung nahm der Argentinier erst gar nicht wahr, bevor er sich ins Gedächtnis rief, dass sie gerade die Einzigen in dieser kleinen Kabine waren. Als er die verstandenen Worte wiederholte und im Kontext ergänzte, spürte er, wie sie in seiner Brust ein Stechen hinterließen. Ihm war klar, dass Mortimer nicht viel von ihm hielt. So wie alle andern, die ihm abgeneigt entgegneten. Aber die Worte nun so klar und deutlich aus dem Mund eines Anwesenden zu hören, traf ihn. Das taten sie immer.
Der Weißhaarige beschloss zu schweigen, doch das hielt Mortimer nicht wirklich davon ab, seinen Monolog fortzuführen.
"Als wäre es nicht schon schlimm genug, dass Tausende unserer Leute im Gefecht gegen euch gefallen sind - jetzt befindet sich eine Culebra mitten unter uns. Die Verstorbenen würden sich im Grab umdrehen."
Ian war nicht klar, ob die Worte bewusst so von seinem Geleitschutz gewählt worden waren. Wusste Mortimer, dass er seine Botschaft zumindest im Groben verstand?
"Wenn du glaubst, du kannst mich wie die anderen hier täuschen, dann hast du dich geschnitten. Ich weiß genau, dass du etwas im Schilde führst. Irgendwann wirst du deinen Zug machen - und dann bist du dran. Dafür werde ich sorgen. Ich werde dafür sorgen, dass du und deine Leute hier nicht noch mehr Schaden anrichten werden, für den sich deine Eltern in Grund und Boden schämen würden!"
Bisher hatte der Weißhaarige versucht, die gehässigen Worte von Mortimer auszublenden, was ihm auch mehr oder weniger gelungen war. Doch bei der Erwähnung seiner Eltern musste er zusammenzucken. Seine Eltern, die er seit Kinderjahren nicht mehr gesehen hatte - von denen er nicht mal wusste, ob sie überhaupt noch lebten. Es kostete es ihm alle Kraft, dem anderen nicht an die Kehle zu springen. Er ballte die Fäuste in der Hoffnung, seine Wut umzuleiten und auf andere Gedanken zu kommen. Gedanken, die nicht damit endeten, dass seine geschlossenen Finger im Gesicht des anderen landeten.
"Wissen sie von den Schandtaten, die du im Dienst abgezogen hast? Ich hoffe nicht, denn das würde heißen, dass sie wissen, dass ihr Sohn ein Mörder is-"
Das war der Zeitpunkt, wo bei Ian alle Stränge rissen, die ihn an zivilisiertes Verhalten gebunden hatten. Er schnellte aus dem Rollstuhl nach oben, grub seine Hände in den Uniformkragen des Größeren und befestigte ihn an der Fahrstuhlwand hinter ihm. Mit warnenden Augen funkelte der Argentinier Mortimer an. Er musste sich zurückhalten, um nicht Schlimmeres zu tun.
Die Hand des Schwarzhaarigen war augenblicklich zu einem schwarzen Gerät an seinem Schultergurt geschnellt. Mortimer realisierte in diesem Moment, wen er da provozierte. Zugegeben hatte er sich durch das Erscheinungsbild und das schon fast zurückhaltende und bescheidene Verhalten von Ian Álvarez in Sicherheit gewogen. Im Gegensatz zu anderen Elitesoldaten war dieser keiner, der seine vermutlich überdurchschnittlichen Fähigkeiten offenbarte. Die Security-Uniform befand sich in einem zerschmetternden Griff, der momentan der einzige Nachweis für die unscheinbar definierten Muskeln war, die sich unter dem weiten Hemd des Weißhaarigen verbargen. Die Kraft einer Culebra.
Mortimer hielt dem wütenden Blick stand, wie jemand, der einen Wettkampf gewinnen musste und wartete auf folgende Handgreiflichkeiten. In der angespannten Stille sah er aber auch die Wut, die Furcht und den Frust zugleich in den stahlblauen Augen seines Gegenübers.
"Du hast fünf Sekunden, bevor ich diesen Knopf hier drücke, der die Schockfunktion an deinem Bein aktiviert", sprach der Geleitschutz, während er demonstrativ seinen Finger auf dem Knopf am Schultergurt platzierte. Der Fahrstuhl war zum Stehen gekommen, die Türe öffneten sich mit einem 'Ping' und kündigten ihre Endstation an.
Mit einem ernüchternden Schnauben ließ der Argentinier los und trat schnellen Schrittes durch die Türen und hinaus auf den Gang. Er würdigte Mortimer keines Blickes mehr. An seinen Rollstuhl war im Zustand seiner Frustration kaum zu denken. Seine Eskorte folgte, nahm sein Beförderungsmittel mit, aber geleitete ihn nur bis zur Türe seines Apartments.
In der Nacht lag Ian lange wach und konnte nicht einschlafen. In seinen Gedanken versuchte er die Gesichter seiner Eltern zu rekonstruieren, um sich an sie zu erinnern. Aber die Erinnerungen waren zu alt, um ein klares Bild zusammenzufügen. Er dämmerte hinfort mit dem Griff um den Ring seiner Mutter.
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