V. i. s. i. o. n. VII.

Ihre Hände waren bereits klatschnass, als sie die Klinke zum Büro ihres Vaters öffnete. Es wäre wahrscheinlich auch das letzte Mal, dass sie ihn sah. Er saß mit dem Kopf auf die Hände gestützt an seinem Schreibtisch und jegliche Hoffnung war aus seinem Gesicht gewichen. „Sie kommen in drei Stunden hier an.", sagte er verbittert. Marissa erstarrte und zwang sich ruhig ein und aus zu atmen. „Aber..." „Sie haben die Frist verkürzt!", schrie sie ihr Vater frustriert an. Marissa zuckte, erschrocken über den Wutanfall ihres Vaters, zusammen. „Und was kann ich jetzt dafür?", fragte Marissa nun, eher missmutig als alles andere. „Nichts. Aber ich habe eine Entscheidung getroffen." Marissa sah ihren Vater fragend an. „Du wirst den König heiraten." Diese Worte lösten in Marissa zwei Sachen aus: Entsetzen und fast unbändige Wut. Die Angst, welche sie früher bei diesen Worten erfasst hätte war fast gänzlich ausgelöscht. „Du hast was getan?!" „Ich habe dich dem König von Amistra versprochen.", sagte ihr Vater nun mit einer unglaublichen Kälte in der Stimme. Ohne sich bewusst zu sein, was sie tat, sprang Marissa auf und fegte dabei den Stiftehalter vom Tisch. Alle Farben des Regenbogens kullerten auf dem Boden. „Ich dachte du bist anders. Anders als die. Aber ich werde ja in letzter Zeit gerne verraten.", zischte Marissa wütend. Dann drehte sie sich um und rauschte wütend aus ihrem Zimmer. Dort angekommen, gerissen sie den Abschiedsbrief und schmiss ihn achtlos in den Mülleimer. Ihr Vater war es nicht mehr wert eine Entschuldigung für ihr Fliehen zu bekommen. Sie schrie einmal wütend auf und vergrub ihre Hände hilflos in den braunen Haaren. Marissa fischte ihren Rucksack unter dem Bett hervor und umgriff die Riemen fest.

Große Uhren machen Tick Tack, Tick Tack.
Neues Leben wird entdeckt Tick Tack Tick.
Friede sei Willkommen Tick Tack, Tick Tack.
Willkommen Amistra Tick Tack Tick.
Zeit vergeht, Modernes hier Tick Tack Tick Tack.

Das Lied der Freude, welches man damals beim Ankommen der Amistraner gesungen hatte. Die Melodie war simpel und einem uralten Kinderlied fast identisch. Marissa gruselte es vor diesem Lied. Früher war es ein Lied des Friedens gewesen, eine Hymne an das ewige Leben. Doch das war schon vor Jahren vergessen worden. Mittlerweile war es sogar strafbar diese Zeilen zu singen. Sie nahm sich ein neues Blatt zur Hand und schrieb nur einen Satz darauf:
Tick Tack, die Zeit läuft...

Zehn Minuten später klopfte es ganz leise an ihrer Tür. Marissa wusste, dass es Jason war, also holte sie ihren Rucksack und schulterte ihn. Sie öffnete die Tür und ihr blickte das Gesicht einer breit grinsenden Mirá entgegen. „Los gehts'!", flüsterte sie laut. „Wo ist Jason?", fragte Marissa. „Jason? Der wartet am Ausgang des Westflügels. Der ist am wenigsten Bewacht. Und er hat sich dort als Wache eingetragen. Da der Angriff in zwei Stunden stattfinden sollte, müssen wir uns beeilen." Mirá griff Marissas Handgelenk und zerrte sie mit sich. Durch das komplette Obergeschoss und alle unbewachten Räume. Marissa hatte einige Male schon das Gefühl gehabt, dass Mirá sich im ganzen weißen Haus besser auskannte, als sie es jemals würde. Sie huschten um Ecken und Räume, als wären sie zwei stille Mäuse. Als sie den Keller erreicht hatten, erkannte sie den langen Gang zum Pressesaal. Hier war sie etliche Male vor dem Angriff gewesen. Sie hatte oft den Pressesprecher ihres Vaters vertreten, ihr Selbstbewusstsein genutzt und unzählige Fragen zur Politik des Landes beantwortet. Hier hatte sie Hilfsorganisationen gestiftet, Reden ihres Vaters wiederholt und ihre Mutter verloren. Hier hatte sie bei einem Pressetermin einen Anfall gehabt und war gestürzt. Die Ärzte könnten nichts mehr für sie tun. Marissas Hände ballten sich zu Fäusten. Entschlossen stürmte sie Mirá hinterher. Stumme Tränen rannen ihr über die Wangen, doch sie wusste, dass sie gerade jetzt stark sein musste. Und dann hätten sie es geschafft. Der Ausgang des Westflügels. Jason wartete, wie es Mirá prophezeit hatte, an der Tür. Über stumme Gesten zeigte er ihnen, dass sie stehen bleiben sollten. Mirá und Marissa hielten den Atem an und sahen ihm dabei zu, wie er die kleine Kamera mit einem kleinen Aufkleber zuklebte. In der Überwachungszentrale würde es aber erst nach ihrer Flucht bemerkt werden, da zur Zeit alle mit der Vorbereitung des Angriffes beschäftigt waren. Marissa tat den ersten Schritt ins Freie. Die Nachtluft war angenehm kühl und ein warmer Wind trocknete den Angstschweiß auf Marissas Stirn. Die drei gingen so schnell sie konnten durch das Gestrüpp und ließen langsam den ungepflegten Garten hinter sich. Marissa sah schon Meter davor den weißen Zaun, der um das ganze Haus führte. Kaum dort angekommen lief alles ganz schnell. Jason formte mit seiner Hand eine Räuberleiter, Mirá kletterte hoch und zog Marissa mit über den Zaun. Die ganze Aktion lief ohne Worte ab und obwohl sie noch niemand gesehen haben konnte, hatte Marissa das ständige Gefühl beobachtet zu werden. Dich verfolgt schon niemand Marissa. Alles ist gut. Also gab sie sich einen Ruck, und sprang vom Zaun herunter. Jason warf einen raschen Blick auf seine Armbanduhr und erschrak. Sie hatten fast eine dreiviertel Stunde für die Flucht benötigt. „Mist...", murmelte er leise. Mirá richtete ihre Augen gegen Himmel und schenkte nur den näher kommenden grünen Punkten ihre Aufmerksamkeit. „Wohin?", fragte Marissa und folgte Mirás Blick. Die leeren Straßen von Washington DC erstreckten sich vor ihnen. Auf dem Boden lagen überall Pappschilder. Auf den Meisten stand nur ein Satz: „Tick Tack, die Zeit läuft!"
„Smithsonian National Zoological Park?", schlug Mirá vor und Marissa nickte. „Seit ihr euch sicher? Nicht dass euch die hungrigen Löwen auffressen.", sagte Jason mit einem schwachen, aber ernst gemeinten Grinsen. Mirá nickte ebenfalls halb grinsend. „Wir müssen hier weg...", wisperte Marissa, deren Gefühl verfolgt und beobachtet zu werden immer mehr anschwoll. Mirá und Jason warfen sich einen stummen Blick zu und gingen los. Marissa ballte ihre Hände zu Fäusten und konzentrierte sich auf ihren Atem. Einatmen und ausatmen... Sie bemerkte nicht, dass sie schneller wurde und sich ihre beiden Freunde anstrengen mussten, sie nicht aus den Augen zu verlieren.
Der Geruch von faulen Tierkot schlug ihnen schon zwei Querstraßen vor dem Zoo entgegen. Man hätte die Tiere nach der Evakuierung sich selbst überlassen. Mirá rümpfte die Nase. „Igitt...", sprach Jason nun die Gedanken der Mädchen aus. Marissa hob ihren Blick in Richtung Himmel. Die grünen Punkte wären nun klar als Raumschiffe zu erkennen. Und sie wusste genau welches dem ersten Kommandanten gehörte, welcher sie mitnehmen sollte. Das Größte senkte sich rasant gegen Boden zu. „Wir müssen sofort in den Zoo! Amistraner hassen doch Gestank, oder?", rief Jason und packte beide Mädchen an den Händen. Zusammen rannten sie in den Zoo, wo ein fürchterlicher Geruch drohte Marissa zum brechen zu bringen. Mirá war kreidebleich geworden und schlug sich eine Hand vor Mund und Nase. Jason war der einzige, dem der Gestank nichts auszumachen schien. „Kommt jetzt!", rief er. Sie gingen vorbei an Gehegen, in denen verwahrloste Tiere und teilweise sogar blutige Fetzen, bei denen man nur noch erahnen konnte was es einst war, vorbei. Es stank nach nach verwesenden Fleisch. Marissa war schockiert, was in zwei Wochen ohne Pflege in einem Zoo passierte. Ein einsamer Wolf jaulte in seinem Gehege, ab und zu hoppelte ein entkommer Hase über ihren Weg und Löwen bissen an den Gitterstäben, die sie von der Außenwelt abtrennten. Und in diesem Moment wurde Marissa schlagartig bewusst, was mit der Menschheit passieren würde, wenn sie nicht handelte. Die Menschheit würde verrotten. Verrotten, so wie es in diesem Zoo bereits passiert war.

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Hey, hoffe es gefällt euch
xoxo
-A

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