》22《

Lux P.O.V.

Die meiste Zeit liege ich im Bett und starre an die Decke, zähle die Schimmelflecken an der Mauer oder kaue für Stunden an dem trockenen Stück Brot herum, was man mir täglich bringt. Nichts anderes. Nur Brot und Wasser. Gelegentlich einen Apfel.

Ich bin keine Gefangene. Mehr so eine Patientin, die sie behandeln müssen. Ich bin geistig instabil, sagen die Ärzte zumindest. Bestimmt haben sie nicht mal ein Studium hinter sich und haben sich nur aus Lust und Laue einen weißen Kittel umgehängt, damit wir ihnen mehr vertrauen. Aber ich falle auf diesen billigen Trick nicht herein, ich rede nicht mit den Psychologen. Ich rede mit gar niemanden; nur manchmal, wenn keiner hinsieht, stelle ich mich spät abends ans geöffnete Fenster und murmel Sätze vor mich hin, die keinen Zusammenhang haben. Worte, die Newt einmal zu mir gesagt hat, die Ellie zu mir gesagt hat. Der Psychologe meint, ich solle die zwei loslassen, doch ich werde dies nicht tun. Niemals. Bis zu meinem Tod werde ich an sie denken, selbst wenn ich 80 Jahre oder mehr werde. Niemals würde ich es wagen, sie einfach aus meinem Gedächtnis zu löschen, als hätten sie nie existiert. Denn ich weiß: Sie würden es an meiner Stelle genauso tun.

Mein Zeitgefühl ist komplett im Eimer. Wie lange ist die Explosion her? Tage? Wochen? Monate? Ich frage meinen Psychologen.
"Zwei Wochen",
sagt er. Zwei Wochen schon? Mir kommt es vor wie gestern. Der Schmerz fühlt sich an wie gestern. Genauso nagend, genauso zerfressend, genauso erdrückend. Er zerquetscht mich, ganz langsam, sodass ich Zeit habe auszubluten, bis auf den letzten Tropfen.

Meine Stirn fühlt sich taub an, wo die Haut die kalte Fensterscheibe berührt, doch ich mache mir nicht die Mühe, den Kopf zu heben. Mein Blick ist starr in den dunklen Nachthimmel gerichtet, und insgeheim frage ich mich, ob Newt und Ellie vielleicht einer der Sterne da oben sind und die Dunkelheit erleuchten. Meine Familie war nie sehr religiös, weshalb ich absolut keine Vorstellung von dem Tod habe. Für mich war er immer etwas Endgültiges, das Ende, der Schlussstrich. Man kann ihm nicht entfliehen, er holt einem früher oder später so und so ein, so schnell man auch rennen mag.

Die Tür zu meinem Krankenzimmer knarrt leise, und ich schließe reflexartig die Augen. Vielleicht lassen sie mich in Ruhe, wenn sie denken, ich schlafe.
Doch dem scheint nicht der Fall zu sein. Eine zarte Hand legt sich auf meine Schulter und rüttelt mich, zuerst sanft, dann immer energischer. Murrend öffne ich die Augen und will schon eine böse Beleidigung zischen, da fällt mein Blick auf das Gesicht der Person und promt verschlucke ich mich an meinen Worten.

"Doktor Bam",
flüstere ich heiser, der Name klingt unheilvoll und gefährlich um diese späte Stunde. Die Asiatin nickt, ihre schwarzen, glatten Haare sehen ungepflegt auf und glänzen stumpf und glanzlos im Schein des Vollmondes. Durch das silberne Licht wirkt ihre Haut bleich wie die einer Leiche, ihre Augen sind dunkler, fast schwarz. Mit einem leisen Zischen legt sie einen Finger an die Lippen um mir zu deuten, leise zu sein, doch ich denke nicht daran.
Dies ist die Frau, welche mich verraten hat, welche für all das Leid verantwortlich ist. Sie verkörpert für diesen Moment mein Unglück, dementsprechend schießt mir sofort das Adrenalin in die Blutbahn und meine Hände ballen sich zu Fäusten.
"Lass mich erklären, bevor du fragst",
beginnt sie, ihre Stimme klingt ruhig und gefasst.
"Ich kannte deine Mutter, Cora, ich..."
Bei meinem alten Spitznamen, den Roberta zu Lebzeiten mir gegeben hat, durchzuckt mich ein schmerzhaftes Stechen und mein Herz zieht sich zusammen, dass mir schwindlig wird.
Niemand darf mich so nennen außer meine Schwester, fauche ich in Gedanken und ein Schalter legt sich in meinem Kopf um, wie ein Startknopf, sodass meine Muskeln zu arbeiten beginnen.
Ehe sie einen weiteren Ton von sich geben kann, landet meine Faust in ihrem schmalen Gesicht und ihr entfährt ein leiser Aufschrei. Leicht benommen taumelt sie zurück und hält sich die Nase, da setze ich ihr auch schon hinterher und schlage abermals zu, diesmal in ihren Bauch. Doktor Bam schnappt erstickt nach Luft und krümmt sich zusammen, dabei gleitet ihr ein kleiner Gegenstand aus der Hand und fällt klappernd zu Boden. Hastig bückt sie mich danach, zeitgleich reisse ich mein Knie hoch und treffe sie genau an der Stirn. Dies bringt sie ins wanken, sie fällt, dabei krallt sie sich jedoch an meinem Hosenbein fest und zieht mich ebenfalls zu Boden. Wütend trete ich nach ihr, jedoch strampel ich ins Nichts, als hätte sich die Ärztin in Luft aufgelöst. Ich will mich schon aufrappeln und nachsehen, wo meine Erzfeindin geblieben war, da drückt mich eine Last plötzlich nieder, sodass meine Hände unter meinen Körper eingeklemmt sind. Ein fiebrig heißer Atem streicht mir über den Hals und lässt meine Nackenhaare zu Berge stehen, ich kann Doktor Bams stockenden Atem an meinem Ohr vorbeirauschen hören, wie sie krampfhaft ein und ausatmet, um die Fassung zu bewahren und sich nicht dem Schmerz, den ich ihr zugefügt habe, zu erliegen. Ein seltsam befriedigendes Gefühl durchfährt mich bei dem Gedanken, dass ich verantwortlich für ihre Leiden bin, und prompt zucken meine Mundwinkel nach oben. Da packt eine Hand plötzlich meinen Haarschopf und zerrt ihn grobe zur Seite, sodass meine rechte Wange nun flach am Fliesenboden klebt. Das Gewicht verlagert sich auf meinen Rücken; die Frau scheint sich als Ganzes auf mich gesetzt zu haben.
"Halt still, dann tut es nicht so weh",
faucht die Ärztin mich an und kurz darauf spüre ich einen Stich im Nacken. Eine Nadel.
Panik steigt in mir hoch und ich bäume mich unter ihr auf, versuche sie abzuwerfen wie ein Stier beim Rodeo. Doch leider stellt sich Doktor Bam als begnadete Reiterin heraus, sie hält das Gleichgewicht und schafft es sogar, meine Arme weiterhin unter mir einzuklemmen, indem sie meine Ellbögen mit ihren Knien fixiert. Die kalte Flüssigkeit der Spritze dringt in meine Blutbahn, ich kann genau fühlen wie sie durch meine Adern gluckert und langsam ihre Wirkung entfacht. Ein rasender Schmerz jagt durch meinen Körper, ausgehend von meinem Brustkorb, als würde man ein glühendes Eisen wie bei einer Brandmarkung gegen meine Rippen drücken. Luftschnappend werfe ich den Kopf in den Nacken, ich will um Hilfe schreien; aber ich bringe keinen Ton heraus. Es ist, als hätte man mir die Stimmbänder durchtrennt, mein Hals brennt bei dem Versuch zu sprechen genauso wie mein Torso.
"Du musst mir zuhören Cora, bitte, es ist wichtig!",
meldet sich mein Todesengel wieder zu Wort, sie klammert sich weiterhin an meine Schultern und drückt mich zu Boden.
"Ich habe es Edward versprochen. Er war gut mit deiner Mutter befreundet; schon vor dem Projekt, dieses gottverdammte Projekt! Es hat alles zerstört!"
Kurz droht die Asiatin, sich in Rage zu retten, dann schüttelt sie sich jedoch - was ich durch die Vibration ihres Körpers auf mir mitbekomme - und fährt mit beherrschtem Ton fort.

"Er hat ihr geschworen, dich zu beschützen, wenn sie es nicht mehr tun kann. Plan C, hieß es, wenn A und B nicht funktionierten. Wenn alles schiefging, wollten sie ihre Vorräte aussaugen! Sie wollten dich aussaugen, Cora. Und Edward sollte es verhindern."
Bams Stimme zittert leicht, als sie die nächsten Worte ansetzt.
"Doch dann... haben sie ihn gefunden. Ihn mitgenommen. Er wollte dich aber in Sicherheit wissen, wegen deiner Mutter. Also fragte er mich, seine feste Freundin, danach. Ich musste versprechen, Plan C zu verhindern."

Ein Kribbeln fährt durch meine Fingerspitzen, hinauf bis zu meiner Schulter, von dort breitet es sich über meinen Rücken aus. Der Griff der Ärztin lockert sich, und ich will schon hochschnellen; doch ich kann nicht. Meine Glieder sind wie gelähmt. Unbrauchtbar, völlig unbrauchbar. Bam beginnt wieder zu reden, wie in Trance, als wäre sie in Gedanken ganz wo anders.

"Ich habe dieses Versprechen eiskalt gebrochen, für die Wissenschaft. Ich habe ANGST informiert, habe dich aussaugen lassen, damit sie ein Heilmittel finden. Gott, habe ich es bereut, nachdem ich erkannt habe, dass dies zu nichts und wieder nichts führt! Ich habe meine große Liebe hintergangen!"

Die Frau steigt nun ganz von mir herunter, doch ich kann mich nicht rühren. Das seltsame Kribbeln hat sich nun bis zu meinen Zehenspitzen vorgearbeitet, es ist, als würde ich in einem riesigen Ameisenhaufen liegen. Ich will schreien, will schluchzen, will irgendwelche Emotionen zeigen, doch selbst das stellt sich als unmöglich heraus.

"Es ist so eine Schande, dass Edward starb. Er starb, obwohl er so vieles hätte erschaffen können; er wusste sogar die Formel zum Heilmittel! Doch ANGST brachte in um, so naiv wie sie waren. Nach seinem Tod habe ich mir die Akten seiner vielen Experimente durchgelesen, und bin auf Sensationen gestoßen, die jedoch noch in den Kinderschuhen stecken. Eine Entdeckung davon war der mobile Flattrans".

Nun bebt Bams Stimme so heftig, dass ich sie beinahe nicht mehr verstehe.

"Man muss nur etwas Flüssigkeit des Geräts in die Blutbahn spritzen, danach kann man sich formieren und zu dem Ort seiner Wahl beamen. Der Nachteil war nur, dass niemand bisher den Vorgang der Zersetzung und Wiedervereinigung überlebte."

Das Blut scheint mir in den Adern zu gefrieren. Und dann will diese hohle Nuss mich etwa mit der fehlgeschlageneb Erfindung ihres Geliebten hinrichten? Ist sie wahnsinnig? Verrückt? Hat Der Brand ihr bereits das Hirn zerfressen? Warum lebt sie überhaupt noch? Sollte sie nicht zusammen mit Newt unter Tonnen von Gestein begraben liegen?

"Aber du... du hast eine Chance, es zu schaffen. Du hast ein besonderes Blut, das stärker entwickelt ist als normales. Du hast eine echte Chance."

Bam dreht mich auf den Rücken, aber ich fühle ihre Berührungen nicht. Mein Körper ist gefühllos, ohne Leben, wie der einer Stoffpuppe. Trotz der Lähmung rumort es in mir, mein Bauch sticht, als würde ich mich jeden Moment übergeben müssen. Der bittere Geschmack von Magensäure prickelt mir in der Kehle und lässt mich tonlos würgen.
Die Asiatin sieht mir direkt ins Gesicht, ihre Augen sind weitaufgerissen und glasig, als würde sie mit den Tränen kämpfen.

"Das Leben ist nicht dazu da, das wir uns finden. Wir erschaffen uns, formen uns mit unseren Taten, Worten, Denken. Ich habe mich zu dem gemacht, was ich heute bin; ob dies nun gut oder schlecht ist, ist eine Frage der Perspektive. Aber genug davon. Schließ die Augen und denke an den Ort, an den du reisen möchtest, denke an das Paradies. Du hast diesen Ort verdient Cora, mehr als jeder andere."

Bam drückt mir die Lider hinunter, sodass ich keine andere Wahl habe, als sie zu schließen.
An jeden Ort den ich will?
Ich will aber an keinen Ort. Ich will zu einer Person, und diese ist nicht weit entfernt - und gleichzeitig unerreichbar.
Aber vielleicht... ist es gut so, wenn ich neben ihm liege, tot wie er. Vielleicht ist es das richtige.
Dieser Gedanken lässt meine Panik wie heißer Wasserdampf in der Luft verpuffen, ich verlangsame meinen Atem und wehre mich nicht länger gegen die sich ausbreitende Taubheit. Sie kriecht über meine Wirbelsäule hinauf bis in mein Hirn, meine Nackenmuskulatur wird lasch und mein Kopf sackt zur Seite. Mit aller Kraft rufe ich mir noch einmal Newts Bild vor Augen: Sein honigblondes, verstrubbeltes Haar, sein strahlendes Lächeln, was ich viel zu selten sah, sein muskulöser, hagerer Körper. Seine Stimme hallt durch meine Gehörgänge wie ein Echo, so weich und melodisch wie der Gesang eines Engels.

Dann wird es still um mich herum, still und düster.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top