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Lux P.O.V
Nach Hause.
Zwei unscheinbare Worte, und doch besitzen sie eine dermaßen bedeutsame Aussagkraft, dass mir die Gänsehaut rinnt.
Nach Hause.
Lange war ich schon nicht mehr zu Hause. Also dort, wo es einmal gewesen ist. Nun steht an jenem Platz, an dem ich aufgewachsen war, das Lachen gelernt und wieder verlernt hatte, vermutlich nur mehr leere Mauern; wenn sie noch nicht abgerissen worden waren. Erinnerungen blitzen in meinen Gedanken auf, eine helle Fassade im grellen Sonnenlicht. Vogelgezwitscher. Kinderlachen, so glockenklar wie... wie die Stimme eines Kindes eben. Eine wunderbar friedliche Aura, ausgelassen und entspannt, wie in einem Bilderbuch.
Ja, das war einmal mein zu Hause. Bis ANGST kam...
Es herrscht angespanntes Schweigen zwischen uns, als wir zusammen den sanften Abhang hinunterstolpern, umgeben von hohen Nadelbäumen, die beinahe jegliches Licht verschlucken. Die heruntergefallenen Nadeln dämpfen unsere Schritte, nur die lauten, ungleichmäßigen Atemzüge sind zu hören ich schiele immer wieder zu Newt hinüber, doch jedes Mal, wenn er den Kopf hebt, senke ich schnell den Blick und tue so, als würde ich Ellie besorgt mustern. Natürlich mache ich mir auch Gedanken über das Wohlbefinden des kleinen Mädchens, das bisher ziemlich still geblieben ist und einen alles andere als gesunden Eindruck mach. Ihre Wangen sind nicht mehr rot, sondern blass und fleckig. Ihre bergblauen Augen sehen stumpf und traurig aus und treibt mir einen Keil in die Brust, als ich an Roberta denken muss. An meine kleine Schwester, die weiß Gott wo sein könnte, alleine, verängstigt, oder doch als menschenfleischfressender Crank. Denn sie ist nicht immun; ich könnte sie heilen, aber dazu muss ich ihr mein Blut spritzen. Nur wie soll ich das, wenn ich keinen blassen Schimmer habe, wo sie steckt?
Vorsichtig sehe ich zu Newt hinüber. Sein blondes Haar klebt ihm verdreckt am Kopf, das schmutzige Wasser hat Schlieren an seiner Haut hinterlassen. Auch sein Blick ist deprimiert und niedergeschlagen, er lässt die Schultern hängen und hebt die Füße nur minimal an, schlurft kraftlos neben mir her. Trotz all diesen Makeln wirkt er auf mich immer noch wunderschön, anziehend, faszinierend. Unbewusst greife ich mir an die Unterlippe.
War es eine Kurzschlussreaktion von ihm gewesen, mich zu küssen? Oder pure Absicht? Fühlt er etwas für mich?
Ich kann nicht leugnen, dass mir der Kuss gefallen hat, obwohl er kurz und unerwidert war. Ich war viel zu überrascht gewesen, um mich zu rühren, danach waren mir tausend Gedanken im Kopf herungeschwirrt und ich konnte mich kaum konzentrieren. Nachdenklich kaue ich auf meiner Wange herum. Was ist das? Ist das dieses Verliebtsein, von dem meine Mutter mir immer wieder erzählte? Meine Eltern hatten sich sehr geliebt, das weiß ich. Sie haben sich immer angelächelt, Händchen gehalten, sich geküsst, auch wenn meine Schwester und ich das immer ekelig fanden. Aber jetzt... finde ich es nichtmehr ekelig. Im Gegenteil...
"Lux?"
Ich zucke zusammen, als ich Newts Stimme höre. Wies aussieht habe ich ihn die ganze Zeit über angestarrt, weshalb ich schnell das Gesicht abwende und mit leicht glühenden Wangen zu Boden blicke.
Eine Hand legt sich unter mein Kinn und drückt es wieder hoch.
"Tut mir leid wegen... vorher."
nuschelt Newt undeutlich und lässt mich wieder los. Mein Mund klappt auf, doch es kommt kein Ton heraus. Wie, es tut ihm leid? Was meint er? Den Kuss? Aber das ist doch garnicht schlimm...!
Wortlos setzt der Blonde sich wieder in Bewegung und läuft weiter den Hang hinunter. Verdutzt sehe ich ihm hinterher, erst als Ellie an meinem Ärmel zerrt, schrecke ich aus meinem Gestarre auf. Stumm greife ich nach ihrer kleinen Hand und ziehe sie hinter mich her, sie macht meinen Mucks, keine dumme Bemerkung. Trotzdem kann ich ihren bohrenden Blick im Rücken spühre, versuche dies aber so gut es geht zu verbergen.
Der Wald endet ganz attrupt und macht einem weiten Tal Platz, dass beinahe nur aus karger Wiese und wenigen üppigen Gesträuch besteht. Eine Stadt befindet sich in der Mitte der Senke, selbst von dieser Distanz aus kann man die Verlassenheit des Ortes erahnen. Ein Klos bildet sich in meinem Hals und verzweifelt versuche ich, ihn herunterzuschlucken, scheitere jedoxh kläglich. Zu viele Erinnerungen verbinde ich mit diesem kleinen Dorf. Zu viele gute, und viel zu viel schlechte.
"Dein zu Hause?"
fragt Ellie leise und ich nicke, wie in Trance. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, wie Newt der Kleinen einen warnenden Blick zuwirft, doch das Mädchen lässt sich davon nicht irritieren.
"Warum hast du so nahe an dem Hauptdingsda von ANGST gelebt?"
Mit all meiner Kraft ziehe ich meine Mundwinkel nach oben und lächle Ellie schwach an.
"Mein Dad hat für sie gearbeitet, eine Zeit lang."
presse ich mühsam hervor. Ich erinnere mich noch genau an jenen Tag, an dem er heimkam und verkündete, dass er endlich bei ANGST einen Job hätte. Damals war ich knapp 4 Jahre gewesen, schätze ich. Jener Abend war auch der erste, an dem ich meine Eltern streiten hörte. Meine Mutter verabscheute die Organisation, wollte nicht, dass wir Kontakt dazu hätten. Mein Vater dagegen war entschlossen, ein Heilmittel zu finden; hätte er gewusst, dass sein eigenes Fleisch und Blut es in sich trägt, hätte er mich geopfert? Oder hätte er es verschwiegen? Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass mein lieber Papa seiner Tochter etwas anhaben könnte.
Als Roberta und ich später auf Immunität getestet wurden, so wie jedes Kind im Land, fälschte Mum meine Ergebnisse und rettete somit meinen kleinen Kinderhintern. Sonst wäre ich vermutlich bis zum heutigen Tag dort und hätte als Zapfstelle für das Heilmittel gedient, denn früher oder später wäre ANGST hinter dem Geheimnis meines Blutes gekommen.
Vorsichtig machen wir uns an den Abstieg, das Gelände ist karg und der Untergrund lose. Mehrere Male drohe ich auszurutschen und den Hügel hinabzurollen, doch jedes Mal hält mich eine starke Hand umklammern, zieht mich wieder hoch. Wir reden kein einziges Wort dabei; keinen einzigen Ton geben wir von uns. Die Stille ist bedrückend, fast noch mehr als die Tatsache, dass ANGST hinter uns her ist und mich aussaugen will wie ein Vampir sein Opfer.
Die Stadt liegt gespenstisch still und verlassen da, ab und zu fliegt eine Krähe über die Dächer der Häuser oder landet krähend auf einem alten Müllsack, stochert in den längst vergammelten Resten herum. Hier gibt es keine Cranks, alle wurden aus der Siedlung evakuiert oder exekutiert, somit gilt dies hier als Geisterstadt, in der niemand Gesundes aufgrund der hohen Virusinfektionsrate leben möchte. Warum gerade in diesem Gebiet ANGST ihre Hauptzentrale errichtet hat, ist mir bis heute ein Rätsel.
Ich kann die Rauchschwaden der Sprengungen bis hierher sehen, das Gebäude selbst liegt zwischen den hohen Nadelbäumen versteckt. Denver befindet sich meines Wissens auf der anderen Seite des Berges, es war immer ein beliebtes Ausflugsziel gewesen von meiner Familie. Bevor es zum Quarantäneort ernannt wurde, logischer Weise.
Kieselsteine knirschen unter meinen dicken Schuhsohlen, als ich das Gatter zu einer kleinen Auffahrt aufschiebe. Staunend legen Newt und Ellie den Kopf in den Nacken und blicken zu dem Stockhaus empor, die einst grellen Fassaden sind abgestumpft und teilweise abgebröckelt.
"
Hier hast du gewohnt?"
quickt Ellie leise und sieht fast ein wenig ehrfürchtig zu mir hoch. Ich lächle leicht, auch wenn mein Herz gerade dabei ist, zu zerreissen wie ein dünnes Herbstblatt.
"Ja, früher. Ganz früher."
Ich kann nicht verhindern, dass eine bittere Note in meiner Stimme mitschwingt. Es sind einfach zu viele Erinnerungen an mein altes Leben, auch wenn die liebevoll angepflanzten Blumen im Vorgarten längst verwelkt, die Pracht des Hauses längst vergilbt ist. Ich atme tief ein und aus, dann stoße ich die Eingangstür mit einem Ruck auf. Knarrend öffnet sie sich und das Tageslicht fällt in ein kleines Zimmer, der Vorraum. Ein paar Schuhe stehen noch da, Jacken hängen am Kleiderständer. Als würde hier noch jemand wohnen, als wäre das ein ganz normales Haus von etwas reicheren Leuten. Doch die dicke Staubschicht, die den gesamten Raum einhüllt, spricht da eine andere Sprache.
Langsam trete ich ein, dabei fliegen unzählige Staubpartikelchen auf und lassen mich rau aufhusten. Mein Herz schlägt heftig gegen meine Rippen, als ich die nächste Tür öffne und im Wohnzimmer lande, das Esszimmer grenz gleich darauf. Ein Stuhl war umgefallen, ansonsten steht alle ordentlich und unangetastet in seiner Position. Mit schnellen Schritten eile ich zum erstbesten Fenster und reisse es auf, um etwas frische Luft in die jahrelang verschlossene Bude zu bringen. Um mich etwas abzulenken, wiederhole ich diesen Vorgang bei allen Fenstern der Etage, bis ich mich gezwungener Maßen wieder zu meinen Begleitern unwenden muss. Ellie steht verloren mitten im Raum und dreht sich im Kreis, als suche sie nach etwas. Zögernd gehe ich auf sie zu und lege ihr eine Hand auf die Schulter. Sie blickt zu mir hoch, ihre hellblauen Augen bohren sich in meine.
"Wo ist dein Zimmer?"
fragt sie völlig ansatzlos und ich blinzel sie einen Moment lang perplex an, ehe ich mit dem Kinn zur Treppe deute.
"Oben. Aber dann müssen wir unbedingt lüften, dort ist es bestimmt genauso stickig wie hier."
Die Kleine nickt eifrig, und erinnert mich schmerzhaft stark an Roberta. Sie war auch immer bestrebt, etwas nützliches zu tun, auch wenn dabei manchmal ziemlich viel Blödsinn herauskam.
"Darf ich mich umsehen?"
kommt es auf einmal aus der anderen Ecke des Raumes und ich drehe mich um. Newt steht vor dem Kühlschrank und mustert die aufgeklebten Notizen und Fotos, doch als ich keine Antwort gebe, hebt er den Blick. Bei seinen dunkelbraunen Augen wird mir leicht schwummrig und schnell wende ich mich ab, nicke dabei knapp.
"Meinetwegen."
Damit laufe ich die Stiegen hinauf, an dem Tribbeln hinter mir kann ich erkennen, dass Ellie mir folgt. Zusammen reissen wir jegliche Fenster der zweiten Etage auf, im Badezimmer, im Büro meiner Mum, in den beiden Kinderzimmern. Jeder einzelne Raum scheint mir stärker in die Magengrube zu schlagen, und als ich auf Robertas Nachtkasten ein Foto von meinen Eltern, ihr und mir sehe, wie wir alle glücklich in die Kamera grinsen, bin ich knapp davor zu weinen. Aber nein; ich darf nicht. Ich muss Ellie und Newt retten, irgendwie, damit sie weiterleben. Damit ihre Wiederbelebung einen Sinn hatte. Die insgeheime Frage ignorierend, was mir persönlich es denn bringe, dass ich sie rette und mir damit das eigene Leben schwer mache, klopfe ich den gröbsten Staub von den Möbeln und stecke dabei fast ein wenig unbewusst bestimmte Dinge ein. Belanglose Dinge, die ich jedoch auf seltsame Art und Weise vermisste. Schmuck von meiner Mum. Fotos. Kleine Zeichnungen, die Roberta mir geschenkt hat. Alles Dinge, an denen ich hänge, ohne bewusst an sie zu denken. Ihr Ursprung, ihre Hintergrundgeschichte macht sie wertvoller als jeder Diamant, kostbar wie das Blut in meinen Adern.
Als ich in mein eigenes ehemaliges Zimmer trete, finde ich dort Ellie vor, welche sich im Raum umsieht. Die Wände sind schlicht in weiß gehalten, nur wenige aufgestellte Bilder ziehren meine Möbel. Gedankenverloren lasse ich einen Finger über die verstaubte Kommode fahren, sodass er eine saubere Spur hinterlässt und der weiße Lack zum Vorschein kommt.
"Bist du das?"
fragt Ellie auf einmal und ich folge ihrem Ausgestreckten Finger bis zu einem Bild, dass auf meinem Schreibtisch steht. Darauf ist ein kleines Mädchen mit hellbraunen Locken zu sehen, welche ihr nur knapp bis zum Kinn reichen. Ihre grünen Augen leuchten im hellen Licht wie die eines Reptils, unheimlich, aber auch faszinierend. Knapp nicke ich als Antwort auf Ellies Frage und starre gebannt mich selbst an, das, was ich einmal war. Ich lache auf diesem Foto. Ich war glücklich. Bin ich jetzt glücklich? Nein. Aber bin ich deswegen gleich unglücklich? Keine Ahnung.
Schwere Schritte ertönen und poltern die Treppe hinauf, kurz darauf streckt Newt den Kopf durch die Tür. An seinem angespannten Kiefer kann ich erkennen, dass irgendwas nicht stimmt und reflexartig straffen sich meine Schultern. Newt scheint dies zu bemerken und kommt langsam auf mich zu, dabei wankter etwas hin und her, vermutlich noch die Nachwehen der Aufenthaltszeit bei ANGST.
"Sie haben aufgehört, die Zentrale zu bombadieren."
flüstert der Blonde leise und nimmt meine Hände in seine. Ich bemerke die Geste nur am Rande, viel mehr Aufmerksamkeit schenke ich seinen Augen, die mich eindringlich mustern.
"Und?"
piepst Ellie im Hintergrund, ihre Pupillen huschen ängstlich zwischen Newt und mir hin und her.
"Ich weiß nicht..."
Der Junge presst die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, als wäre er sich nicht sicher, ob er es aussprechen sollte, was er dachte.
"Sie sind geflohen, glaube ich. Ich habe einige Berks wegfliegen sehen. Die Frage ist jetzt nur: Werden sie uns suchen? Oder sind wir hier in Sicherheit?"
Langsam beginne ich den Kopf zu schütteln, nehme meinen Blick dabei nicht von Newt.
"Wir waren nie sicher. Und wir werden es auch nie sein. Wir können nur hierbleiben und abwarten, was als nächstes passiert."
Lahmes Ende, ich weiß. Aber es kommen noch ein paar coming outs auf euch zu, keine Sorge :D
Tschuhuuusssssss
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