》10《

Ich will antworten, ihr sagen, dass wir entkommen werden.
Ich will ihr versichern, dass ihr nichts passieren wird, will sie zu mir ziehen, in den Arm nehmen, vielleicht sogar wieder küssen; auch wenn sie mich wahrscheinlich gar nicht so weit an sich heranlassen würde.

Doch zeitgleich wie ich den Mund öffne, verstummt der Alarm attrupt und somit auch ich. Verwirrt sehen wir uns beide um, meine Hand klammert sich an die von Ellie wie ein Ertrinkender an einen Rettungsring. Die Kleine schnieft leise und vergräbt ihr Gesicht in meinem weißen Hemd, ihre kleinen Finger krallen sich in meine Seite. Nervös lässt Lux die Waffe hin und herpendeln, späht um jede Ecke, kann jedoch scheinbar keine Gefahr ausmachen.

"Was..."

...ist hier los?, will ich sagen, doch abermals komme ich nicht zu Wort. Ein Kugelhagel bricht plötzlich nicht weit von uns entfernt los, gedämpft kann ich die vielen Schüsse einige Gänge weiter hören. Scheiben splittern, Fliesen zerspringen, schmerzvolle Schreie ertönen. Grob fasst mich Lux an der Schulter und stößt mich den Flur entlang.

"Verdammt!",
flucht sie leise, dann läuft sie vorraus, den Werfer ständig in schussbereitschaft. Mein Herz schlägt mir bis zum Hals, als ich Ellie hinter mir herzerre, trotzdem komme ich nicht darum herum, Lux fasziniert zu mustern. Ihre Bewegungen ziehen mich in ihren Bann, ziehen all meine Aufmerksamkeit auf sich, ohne dass ich es hätte verhindern können. Die Art, wie sie ihre Schultern strafft, bevor sie losrennt; wie sie die Hüfte beim Laufen eindreht; wie ihr Haar hinter ihr herweht; wie sie sich immer wieder wachsam umsieht, wie eine Raubkatze, wie ein Luchs...

"Newt, jetzt mach schon!"

Überrascht zucke ich zusammen und blinzle perplex das offene Fenster an, wovor ich gerade stehe. In meinen Träumereien habe ich gar nicht auf den Weg geachtet.

"Da unten ist ein Teich. Wir springen!"

Ein Moment vergeht, in dem ich nur die Schüsse der Unbekannten und Stimmengewirr vernehme, dass jedoch rasch näher kommt. Dann sickert der Sinn ihrer Worte zu mir durch und ich reiße entsetzt die Augen auf.

"Was?!",
rufen Ellie und ich gleichzeitig und misstrauisch beäuge ich den kleinen Wasserfleck, der einige Meter unter uns schwappt. Das Wasser ist bräunlich und trübe und sieht nicht gerade sehr tief aus. Außerdem, warum sollte ANGST direkt vor seiner Hauptzentrale ein Biotop errichten? Welchen Grund hätten sie dazu?
Mir blüht ein scheußlichener Gedanke...

"Lux. Das ist eine Dunggrube."

Aus meiner Stimme kann man deutlich den Ekel heraushören und beinahe schon schäme ich mich für meine Zimperlichkeit.
Das braunhaarige Mädchen dreht sich langsam zu mir um und sieht mich ausdruckslos an, doch dann ziehen sich ihre Mundwinkel plötzlich nach oben und sie grinst mich verschmitzt an.

"Das ist mir scheiß- egal!",
feixt sie, und ich kann nicht anders als ebenfalls zu lächeln.
Dann dreht sie sich ruckartig um und ehe ich sie aufhalten kann, klettert sie auf das Fensterbrett und stößt sich ab. Geschockt schnappe ich nach Luft und stürme auf das Fenster zu. Das Wasser schwappt noch wild hin und her von ihrem Fall, schlägt schmutzige Wellen, es blubbert ein wenig. Dann, nach einer gefühlten Ewigkeit - wobei es sich jedoch nur um Sekunden handeln kann - durchbricht sie keuchend die Wasseroberfläche und schnappt hektisch nach Luft. Der Granatwerfer ist verschwunden, vermutlich ist er in der Brühe untergeganden. Einen Moment lang treibt sie wie erstarrt in der braunen Suppe und versucht scheinbar ihren Atem unter Kontrolle zu bringen, doch dann legt sie den Kopf in den Nacken und blickt zu mir hoch.

"Kommt! Das Wasser ist herrlich!",
schreit sie nach oben, der Sarkasmus in ihrer Stimme ist unüberhorbar. Ich gebe ihr ein Handzeichen, dass ich sie verstanden habe, und sie wendet sich von mir ab. Langsam schwimmt sie auf das Ufer zu, währenddessen hieve ich Ellie hinauf auf die Fensterkante.

"Nicht nachdenken. Einfach springen. Aber Luft anhalten nicht vergessen!",
flüstere ich ihr zu und sie nickt nach kurzem Zögern. Für ein Kind ihres Alters ist sie einfach unglaublich mutig, kommt mir in den Sinn, doch bevor ich ihr das sagen kann ist sie auch schon weg. Ich höre ihren kindlichen Schrei, dann das Platschen des Wassers, als sie auf die braune Brühe trifft. Abwartend sehe ich nach unten, und nach wenigen Sekunden taucht tatsächlich wieder ein blonder Schopf auf, ganz verklebt und verdreckt. Mithilfe eines langen Astes zieht Lux das kleine Mädchen ans Ufer, damit ich ebenfalls nachkomme kann. Seufzend klettere ich auf das Festerbrett und sehe nach unten.

Die ekelige Suppe scheint mich schon beinahe anzugrinsen und spöttisch aufzulachen, als ich mir grummelnd über die Lippen wische, den widerlichen Geschmack bereits auf der Zunge spürend. Ich schließe die Augen einen Moment lang und atme tief durch, dann lehne ich mich nach vor, bereit zu springen.

"Newt!"

Ruckartig reiße ich den Kopf herum. Am Ende des Ganges steht ein Mann. Nicht irgendein Mann; Janson, der Rattenmann höchstpersönlich. Aber Lux sagte doch er sei tot...?

Sie haben ihn wiederbelebt,
schießt es mir durch den Kopf und ich muss schlucken.
Sie haben ihn mit Lux' Blut wiederbelebt.

Wie viel haben sie ihr abgenommen? Wie oft muss man Janson umbringen, um ihn endlich los zu sein?

"Newt, ANGST ist...!",
setzt der Vizedirektor an, doch ehe er aussprechen kann, ehe er mir die selbe widerwärtige Lüge wie schon Monaten davor auftischen kann, dass mir die Galle hochkommt, lass ich mich nach hinten fallen.

Einen Herzschlag lang scheine ich zu schweben, die Luft zieht an mir vorbei und nimmt mir jegliches Schwerkraftgefühl. Dann pralle ich mit dem Rücken voran gegen die zähe Flüssigkeiten, ein brennender Schmerz schießt durch meinen Körper und lässt ihn krümmen vor Schmerz. Das Wasser schlägt über meinen Kopf zusammen und scheint mich wie ein riesiges Monster zu verschlucken. Ich schwebe im dunklen Nichts, kein Licht dringt durch den trüben Tümpel. Meine Gedanken wirbeln hin und her wie ein Tornado und einen Moment lang denke ich daran, einfach hier unten zu bleiben.
Nicht mehr aufzutauchen.
Wie würden die ANGST-Leute schauen, wenn ihr Proband in ihrem eigenen Dreck ertrinkt? Zu gerne würde ich diesen Gesichtsausdruck sehen; doch dazu müsste ich ja sterben. So gesehen bringt mir ein spontaner Selbstmord also recht wenig, außer dass ich von all dem Stress und der ständigen Angst erlöst wäre. Meine Seele wäre endlich frei, wie sie es schon längst hätte sein sollen, nachdem Tommy mich erschossen hat. Aber Lux hat mich zurückgeholt.

Lux.

Der Name - und sei es auch nur meine Eigenerfindung - explodiert in meinem Kopf wie ein Feuerwerk in dunkelster Nacht. Sofort schießt mir pure Energie in die Glieder und ich strampel mich nach oben, dem spärlichen Licht entgegen.

Licht.
Lux.

Keuchend schnappe ich nach Luft, als kalte Luft über mein Gesicht streicht und ich endlich wieder die Augen öffnen kann. Ich höre Stimmen, Schreie und Schüsse; ich höre Lux, die meinen Namen ruft. Sofort schwimme ich zum Ufer, stolpere an Land. Ich kann keinen der vielen Reize, die auf mich einströmen, richtig zuordnen, alles scheint von überall gleichzeitig zu kommen. Eine Hand packt mich am Arm, zerrt mich hoch. Ich erkenne das undefinierbare Braun von Lux' gewelltem Haar und strecke fasziniert meine Hand danach aus. Trotz dass es nass und verklumpt und voller Dreck ist, hat es doch etwas Wunderschönes an sich, dass mir grundlos ein Lächeln entlockt.
Sie dreht sich langsam zu mir um und in meinem Dusel bin ich fest davon überzeugt, gleich ihren warmen Augen mit liebevolle Ausdruck darin zu begegnen. Ich glaube fest daran, dass sie sich zu mir beugen, sich auf die Zehenspitzen stellen und mir ihre weichen Lippen aufdrücken wird.

Doch statt all dieser zärtlichen Handlungen sehe ich nur blanke Panik in den giftgrünen Augen wüten wie ein wilder Sturm.

"Konzentriere dich Newt! Die haben uns gleich wieder!",
fährt sie mich an und langsam taut die rosarote Welt um mich herum auf. Wir haben schon eine gute Strecke zurückgelegt, die Grube liegt bereits gut 200 Meter hinter uns. Bekomme ich hier gar nichts mehr mit? Befällt Der Brand mich wieder? Oder eine andere Seuche, die mir sie Verstand raubt?

Ein Schuss - nein, ein basstöniger Donner - ertönt, dann qualmt plötzlich grauer, stinkender Rauch aus der obersten Etage des hohen Gebäudes. Irritiert lege ich den Kopf in den Nacken, um mehr sehen zu können, doch Lux schupst mich bereits weiter und lässt mir keine Zeit für Fragen. Wir laufen ein Stück, über struppige, künstliche Wiesen, die sich unter meinen Schuhsolen anfühlen wie harte Stacheln. Ein weiterer Knall erklingt, diesmal ist einer der unteren Etagen betroffen. Fragend sehe ich zu Lux, die jedoch nicht darauf reagiert. Doch sie scheint meinen Blick zu spüren, denn endlich klärt sie mich über die Situation auf.

"Der Rechte Arm greift die Zentrale an. Die Idioten hätten keinen besseren Zeitpunkt wählen können."

Der Rechte Arm also, interessant. Wahrlich, das nenne ich perfektes Timing.

"Und sie sind so beschäftigt, jetzt suchen sie uns nicht mehr?",
fragt Ellie leise. Sie keucht heftig von der vielen Rennerei und ist schon schon ganz rot im Gesicht vor Anstrengung. Mit ihren kurzen Beinen muss sie ja auch viel mehr laufen als wir. Bei jedem meiner Schritt macht sie drei.

"Das würde ich nicht sagen...",
setzt Lux an, da ertönt wie aufs Stichwort eine Sirene und eine schwere Eisentür wird wenige Meter vor uns aufgestoßen. Bewaffnete Männer treten heraus, die Granatwerfer in schussbereitschaft.

"Stehen bleiben!",
brüllt der eine, und uns bleibt nichts anderes übrig als zu gehorchen. Langsam kommt der Sprecher auf uns zu, den Lauf direkt auf Lux' Kopf gerichtet.

"Mitkommen! Und zwar..."

Peng.

Ich verstehe diese Situation gerade wirklich nicht mehr. Alles geht viel zu schnell, in einem Moment scheint alles aussichtslos, dann wieder der Freiheit nahe. Der Mann sackt leblos zu meinen Füßen zusammen, es folgen weiter Schüsse, weitere Tote. Sprachlos sehe ich zu, wie einer nach dem anderen niederbricht und dann andere, schwarz gekleidete Leute aus dem Eingang treten. Einer von ihnen kommt mir sogar wage bekannt vor, bestimmt einer vom Rechten Arm.

"Schnell! Hierlang!",
ruft er und wedelt uns zu sich hinüber. Erleichterung überkommt mich und ich mache einige Schritte auf ihn zu, doch eine Hand legt sich auf meine Schulter. Verwundert sehe ich nach hinten, doch Lux sieht mich nicht an; stattdessen fixiert sie die Unbekannten mit einem misstrauischen Blick.

Nein, formt sie lautlos mit den Lippen, und ich ziehe die Stirn kraus.
Nein? Warum nicht? Die Leute wollen uns doch nur helfen!
Als hätte sie meine Gedanken gelesen, schüttelt sie den Kopf und ihre Hand rutscht von meiner Schulter. Dort, wo ihre Finger meine nackte Haut berührt hatten, pocht es leicht, aber angenehm.

"Nein",
sagt sie laut, und die Männer kommen näher.

"Ihr könnt uns vertrauen! Wir wollen euch nichts Böses..."

Bis hierher kann ich Lux' Zähne knirschen hören, als ihre Kiefer angestrengt aneinander mahlen.

"Nein ist nein. Ich gehe alleine."

Sie wirft mir einen vieldeutigen Blick zu, als wolle sie sagen: Entscheide selbst, was du tust.
Die Wahl fällt mir bedenklich leicht. Ich hole tief Luft, dann wende ich mich wieder an die Männer.

"Ich auch",
krächze ich beinahe schon etwas heiser. Warum tue ich das? Warum tue ich das Falsche, nehme den unnötig gefährlichen Weg?

Wegen Lux,
flüstert eine kleine Stimme in meinem Kopf.
Nur wegen ihr.

Die Männer zucken mit den Schultern und ziehen sich langsam zurück.

"Wie ihr wollt. Dann können wir euch aber keinen Schutz garantieren."

Ich sehe zu dem braunhaarigen Mädchen, doch es gibt keinerlei Reaktion von sich, starrt den Sprecher nur emotionslos an. Einen letzten Rundblick noch, dann drehen die Rebellen um und verschwinden wieder im Gebäude. Erst jetzt merke ich, wie sich kleine Finger in meine Handfläche bohren, und ich sehe nach hinten. Ellie hatte sich hinter mir weggeduckt und gräbt mir nun ihre Nägel erbarmungslos in die Haut. Vorsichtig löse ich ihren verspannten Griff und nehme sich locker am Handgelenk. Dann blicke ich auf und suche Lux' grüne Augen. Doch sie hält das Gesicht weiterhin stur abgewandt und sieht sich dabei übertrieben oft um. Scheinbar weicht sie mir absichtlich aus.

Ich spüre ein leises Ziehen an der Brust, als würde mir jemand ins Herz pieksen.
Ich hätte sie nicht küssen dürfen,
schwirrt es mir durch den Kopf.
Ich hätte nicht...

"Komm schon",
unterbricht Lux' scharfe Stimme mich bei meinen inneren Selbstvorwürfen.

"Wohin?",
frage ich reflexartig, doch erst im Nachhinein kommt mir, dass diese Frage eigentlich gar nicht so dumm ist. Ja, wohin denn? Wohin sollen wir gehen? Nach Denver, zu den Cranks? Oder ganz wo anders hin?

Lux dreht sich langsam zu mir um, in ihren Augen kann ich keinerlei Gefühle lesen. Oder ist da etwa Schmerz? Doch, ein klein wenig...

Lux schluckt, als würden ihr die Worte wie Galle in der Kehle brennen und einen Würgereiz auslösen.

"Nach Hause",
flüstert sie kaum hörbar, doch ich verstehe sie trotzdem.
Nach Hause.

× × ×

Nach einem halben Jahrhundert mal wieder. Extra für kaputtermensch. Lass es dir schmecken! ...oder so. Äh ja.
Tschuss.

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