03
Ganz gemütlich zog ich mich an und achtete wie üblich nicht auf die Zeit. Aber nicht, weil es meine Lehrer nicht überraschte, wenn ich zu spät zum Unterricht erschien, sondern weil ich wusste, dass ich nun nie wieder zu spät kommen würde. Ich würde mich einfach auf den Schulhof teleportieren. Und keiner würde es merken. Diesen Entschluss hatte ich nach dem Besuch bei Mama gefasst.
Nachdem sie mir alles anvertraut hatte und nur noch wenige Tage im Krankenhaus zur Nachuntersuchung bleiben musste, hatte ich mich – nach vielen ihrer Beschwichtigungen – auf den Weg nach Hause gemacht. Tausend Fragen waren mir durch den Kopf gegangen. Aber vor allem:
Wie um alles in der Welt hatten sie es geschafft?
Wie hatten sie es geschafft, diese Substanz herzustellen?
Es war cool und aufregend. Fast wie eine Superkraft. Ich liebte es, zu Reisen und alles zu sehen, was es auf der Welt gab, aber genau das war ja das Problem.
Mein Vater war auf eine seiner Reisen durch den Amazonas spurlos verschwunden. Ein Flugzeugabsturz, passiert vor drei Jahren. Damals war Mama schwerer Trauer verfallen und ich hatte Angst, sie würde sich etwas antun. Angst, sie würde mich alleine lassen und einfach abhauen. Wochenlang bin ich ihr nicht von der Seite gewichen. Bis sie schließlich den Job im Labor angeboten bekommen hatte. Ab da war sie so beschäftigt, dass sie wieder lernte, sich allein um alles zu kümmern, und nach einiger Zeit verschwand ihre Trauer komplett.
Es war surreal gewesen, nachdem ich ihr immer wieder gesagt hatte, sie solle zu einem Therapeuten gehen oder wenigstens mit mir über ihre Gefühle reden. Über das, was passiert war. Ich atmete tief ein, als ich daran zurückdachte.
Lange Zeit hatte ich auf meine Hände gestarrt und konnte immer noch nicht glauben, dass das alles echt war. Aber so war es. Da ich nicht wusste, wie lange ich das Teleportieren beherrschte, musste ich es ausnutzen. So gut ich konnte und so lange ich es konnte. Das Leben war kostbar und wertvoll, und alles was im Labor passiert war hatte mich wieder daran zurückerinnert.
Zufrieden ging ich hinunter, schnappte mir meinen Rucksack mit dem Essen, genügend Geld und nahm meinen Haustürschlüssel. Noch zehn Minuten bis zum ersten Läuten. Hoffentlich landete ich nicht wieder in irgendeiner Abstellkammer.
Tief durchatmend schloss ich die Augen und stellte mir den grauen Asphalt und die Bäume auf unserem großen Schulhof vor. Und mit einem Kribbeln im Körper war ich im Nu weg.
Ich fand mich tatsächlich nahe der Fahrradständer vor dem Schulhof wieder. Vorsichtig schaute ich hinter dem Baum hervor, ob mich jemand beobachtet hatte – meine Mutter hatte mich hundertmal darauf hingewiesen, niemanden wissen zu lassen, was ich konnte – aber als dem nicht so war, wollte ich schnellen Schrittes zum Eingang, damit jeder sehen konnte wie früh ich war, als der Anblick einer bestimmten Person mich wieder hinter den Baum flüchten ließ. Mike.
Was ich über ihn wusste? Er hatte das fluffigste, schwärzeste Haar, was man sich vorstellen konnte, war Einzelkind und raubte mir mit seinem Blick seit der 6. Klasse den Verstand. Zumindest stellte ich es mir so vor, denn angesehen hatte er mich noch nie – nur in meinen Träumen. Im echten Leben war ich viel zu schusselig und auf keinen Fall sein Typ.
Aber war das nicht immer so?
Verliebte man sich nicht immer in genau die Person, die man nicht haben konnte?
Doch trotzdem hielt ich an dem Gedanken fest, dass er mich irgendwann genauso sah, wie ich ihn.
Um zum Eingang zu kommen, musste ich an ihm und seinen Freuden vorbei, die mich allesamt nicht sonderlich leiden konnten. Das konnte ja heiter werden.
Mit einem möglichst natürlichen Gang – der wahrscheinlich wie bei einem Modelcasting aussah – und geraden Blick ging ich also los. Nur nichts Dummes tun, Kaya! Einfach nur laufen. Immer weiterlaufen!
Nur noch wenige Meter bis zur Treppe, ab da war es dann nur noch ein Katzensprung ins Gebäude. Plötzlich, als ich die Tür schon greifen konnte, stolpere ich über etwas, genau auf der Hälfte der Treppe. Mist!
Als ich mich wieder aufrappelte, tat mein ganzer Körper weh – aber nur für kurz. Jedoch reichte es, um mich an den Schmerz zu erinnern, als mir die Substanz verabreicht worden war. Ohne dass ich etwas tun konnte, schossen mir Tränen in die Augen. Ich betete innerlich, nicht gleich loszuheulen und stand auf.
Meine Hose hatte ein Loch am Knie und an meinen Ellenbogen waren mehrere Schrammen zu sehen. Leicht benommen rannte ich, ohne auf das wahrscheinlich lachende Gesicht von Mike zu achten, ins Gebäude, um mir meine Wunden zu kühlen. Meinen Rucksack hatte ich vorhin noch schnell geschnappt, da er mir bei dem Sturz von der Schulter geflogen war.
Zu meinem Glück war ich mit als einzige im Klassenzimmer. Nur das merkwürdige Mädchen mit blonden Locken und Brille saß hinten stumm in der Ecke und malte etwas auf ein Blatt. Sie war vor einigen Wochen mit ihrer Familie neu hergezogen und noch stummer als ich. Ich kannte nicht einmal ihren Namen, daher nannte ich sie nur »Brillenmädchen«.
Leise wartete ich mit ihr auf die Lehrerin, und als sie kam beachtete diese mich – zu meiner Überraschung – überhaupt nicht. Nachdem ich aber zu ihr gegangen war, war sie so verwundert, wie ich es mir vorgestellt hatte. Na ja, vielleicht etwas zu sehr. Sie fragte mich bestimmt jede fünf Sekunden, ob sie mich nicht mit irgendjemanden verwechselte oder es noch andere mit meinem Namen gab, aber als sie eingesehen hatte, dass ich es war die heut das erste Mal so früh war, sollte ich mich einfach nur stumm an meinen Platz setzen und warten, bis der Unterricht anfing.
Als der Unterricht dann endlich anfing, konnte ich mich auf nichts konzentrieren, was die Lehrkräfte vorne erzählten oder an die Tafel schrieben, da ich mit den Gedanken wie schon seit längerem bei dem Thema Teleportieren war. Worüber ich eigentlich nichts wusste. Bis auf das Verschwinden und woanders wieder auftauchen. Gab es darüber überhaupt etwas zu wissen? Ich würde heute Mittag, wenn die Schule aus war, mal in die Bibliothek gehen und mich darüber schlau machen.
»Keine Ahnung woher dieser Sinneswandel kam, früh aufzustehen, aber wenn Sie jetzt auch noch zuhören würden, könnte ich über die vielen Male, in denen Sie zu spät waren, hinwegsehen«, redete eine laute Stimme in meine Gedanken hinein.
Verwirrt schaute ich in das Gesicht von Frau Meier, unserer Deutschlehrerin, die mich grimmig ansah. Lächelnd sagte ich, dass dies nicht wieder vorkommt und drehte mich schnell, peinlich berührt, zu meinem Tisch, als diese endlich dabei war, zu gehen. Aber so sehr ich mich auch anstrengte den Tag über zuzuhören, meine Gedanken schweiften immer wieder ab zu meiner Mutter und dem Labor.
Waren früher schon solche Unfälle passiert, bei denen sich Leute verletzt hatten? Hatte sich meine Mutter schon einmal verletzt? Mein Blick verlor sich draußen in der Ferne, während ich darüber nachdachte.
Ein weiteres Läuten riss mich aus meinen Gedanken, und nachdem alle an mir vorbei nach draußen gestürmt waren, wusste ich: Die Schule war für heute beendet. Endlich!
Leise nahm ich meine Sachen und sah mich im Raum um. Genau wie am Anfang saß nur das Mädchen mit der Brille still und mit Kopf nach unten da und starrte auf ihr Blatt. Den nun stumpfen Bleistift hatte sie neben sich gelegt. Ich beobachtete sie dabei, wie sie aufstand und den Raum verließ, eh ich zu ihrem Tisch lief und das Blatt nahm.
»Hey Mädchen. Du hast dein Blatt vergessen«, rief ich ihr nach, aber sie ging weiter, ohne sich zu mir umzudrehen. Ich wollte ihr schon nachrennen, da fiel mein Blick auf das Blatt. Erschrocken ließ ich es augenblicklich zurück auf den Tisch segeln. Das konnte nicht möglich sein!
Das Bild zeigte ein Labor. Mamas Labor. Und es war alles genauso gemalt, wie ich es mit angesehen hatte. Die Wissenschaftler standen in einem Kreis und schauten auf eine Gestalt in der Mitte. Und in der Ecke, da saß ich. Zusammengekauert und die Angst ins Gesicht geschrieben. Alles war so detailtreu gezeichnet, dass man jeden Ausdruck in den Augen, jedes noch so kleine Merkmal erkennen konnte.
In mir begann sich erneut alles zusammenzuziehen und meine Hände begannen zu zittern, als wäre ich gerade mittendrin. Meine Atmung wurde schneller und auch mein Puls beschleunigte sich, als ich die bekannte Frau unter den Wissenschaftlern sah. Mama.
Sie schien aufgeregt, ihre Augen leuchteten gefährlich und ihr Mund war zu einem geraden Strich zusammengepresst. Ich schluckte. Sie wirkte so finster.
Fast schon automatisch knüllte ich die Zeichnung in meine
Tasche und machte mich blitzartig auf den Weg zur Bibliothek, die nur wenige Meter von der Schule entfernt lag.
Dort angekommen betrat ich den Saal und sah mich nach einem geeigneten Platz um. Tische und Bänke standen links und boten Platz zum Lesen und Entspannen sowie mehrere Sitzkissen zwischen den Regalen.
Leicht ausatmend wollte ich gerade losgehen, da fiel mir auf, dass ich noch nicht einmal eine Ahnung hatte, wo es etwas über Teleportation zu finden gäbe, geschweige denn überhaupt etwas in diese Richtung. Das hier war eine Bibliothek, in der man für das Studium lernt oder Informationen über die Vergangenheit lesen konnte – Ereignisse, die wirklich geschehen waren.
Das Ereignis, mein Ereignis, war doch gerade erst passiert. Und noch dazu einmalig.
Frustriert über diese lächerliche Idee, etwas über meine neue Kraft zu erfahren, drehte ich mich um und ging meinen Weg zurück. Vorbei an den Tischen, vorbei an dem stillen Mädchen mit der Brille, und schließlich an der Bibliothekarin. Tatsächlich!
Das Brillenmädchen saß in ihrer gewohnten Haltung an einem eher dunklen Platz hinten in der Ecke, wie gewöhnlich, über ein Buch gebeugt – sehr konzentriert, wie es schien. Denn sie bemerkte weder mich, noch dass um sie herum. Neugierig kam ich näher.
Laborversuche & was sie bewirken.
Genau das stand in großen Buchstaben auf einem Buchcover, welches ich auf dem Tisch neben unzählig anderen liegen sah. Abrupt blieb ich stehen, da ich überhaupt nicht gemerkt hatte, dass ich ihr nun über die Schulter schaute, wie ein Psycho, der gerne Leute stalkte. Bei dem Gedanken huschte mir ein Lächeln übers Gesicht und ich schüttelte leicht den Kopf, da dieser Gedanke selbst für mich zu schwachsinnig war.
Diese Bewegung musste das Brillenmädchen wohl sehr erschreckt haben, denn sie drehte sich plötzlich um und sah mich mit aufgerissenen Augen an. Um ihre Nase schimmerten kleine Sommersprossen und ihre Brille hang ihr auf der Nase. Schnell hatte sie diese auf ihren eigentlichen Platz geschoben und erkannte mich wohl jetzt, denn ihre Augen begannen klein zu werden und sie wirkte wütend. Hatte ich ihr irgendetwas getan?
Zielstrebig und ohne lange zu reden schlug sie ihr Buch zu und verdeckte den Titel mit ihrer Hand. Dann schob sie es hinter sich und fragte zischend: »Bist du mir gefolgt?«
Stocksteif stand ich da und stammelte irgendwelche Wörter aus meinem Mund, die hoffentlich einen ganzen Satz ergaben, doch angesichts ihrer Reaktion erzielte ich damit genau das Gegenteil.
Deshalb hörte ich auf, mich wie ein Idiot zu benehmen und fragte mich, was das alles sollte.
Wollte sie mir vielleicht einen Streich spielen? Hatte sie jemand beauftragt? Aber woher konnte sie das alles gewusst haben? Sie hatte es viel zu gut gemacht, um mir nur einen Streich spielen zu wollen.
»Ich würde hier gerne in Ruhe lesen, alleine, also würdest du...«, sagte das Mädchen grimmig und zeigte mit der Hand Richtung Ausgang.
Ich stammelte ein: »Äh ja, natürlich«, und drehte mich weg. Dabei erhaschte ich noch einen letzten Blick, als sie ihre Hand wieder von dem kleinen, schwarzen Buch nahm, in das sie zuvor so vertieft war. In schwacher Schrift stand dort etwas. Ich musste die Augen zusammenkneifen, um es lesen zu können.
Meine Lippen formten langsam den Titel. Nur ein Wort.
Teleportation.
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