01

Innerlich einen Fluch ausstoßend beschleunigte ich meine Schritte, als die ersten Tropfen auf mir landeten. Nicht nur, dass ich schon viel zu spät war – nein, jetzt fing es auch noch an zu regnen, und ich hatte natürlich meine Jacke vergessen. Außerdem wehte dazu noch leichter Wind, und nun war mein Frösteln vermutlich nicht mehr zu übersehen. Seufzend und erschöpft kam ich schließlich an einem großen Lager außerhalb der Stadt an.

Mamas Labor. Ich hatte es geschafft!

Als Wissenschaftlerin war meine Mutter sehr angesehen und wichtig, weshalb sie oft nicht zu Hause war und ich sie nur selten zu Gesicht bekam. Und wenn, dann nur sehr flüchtig.

Woran sie momentan arbeitete, wusste ich ebenso wenig wie, warum sie immer bis spät in der Nacht im Labor war, aber laut ihren Telefonaten, denen ich schon so oft gelauscht hatte, war es ein sehr geheimes und durchaus gefährliches Projekt. Und genau das schien sie so zu fesseln. Denn meine Mutter war eine sehr disziplinierte Frau, die alles schaffte, was sie sich vornahm. Das hatte sie mir schon oft gezeigt, und ich hoffte, später auch genauso zielstrebig wie sie zu werden.

Ich betrat den vermeintlich endlosen Gang des Labors, an dessen Ende mein zweites Zuhause lag, da ich dort gefühlt die Hälfte meiner Freizeit verbrachte. Meine Hände waren gerade dabei sich um den Griff zu legen, als die Tür plötzlich aufflog und meine Mutter mit zwei anderen in Kittel gekleideten Menschen hinausstürmte.

Sie bemerkten mich anscheinend überhaupt nicht, denn sonst hätte meine Mutter etwas gesagt, also musste gerade etwas tatsächlich wichtiger sein als meine Verspätung. Ich hatte schon gedacht, ich würde Ärger bekommen, obwohl sich jeder, der mich kannte, schon daran gewöhnt haben müsste. Alle bis auf meine Mutter, die immer noch daran glaubte, dass diese Verspätung irgendwann aus meinem Zeitrhythmus verschwinden würde.

Da ich mich gut hier auskannte, fiel es mir nicht schwer zu erraten, wohin sie unterwegs waren. Sie wollten zum Versuchsraum - dem Ort, zu dem nur wenige Personen Zutritt hatten. Schon immer wollte ich wissen, was in diesem Raum gemacht wurde. Man brauchte eine Schlüsselkarte um hineinzukommen, und die besaßen nur meine Mutter und ihr Chef.

Nachdem sie und ihre Kollegen hindurch gegangen waren, und bevor sich die Türen mit einem Zischen schließen konnten, schlüpfte ich noch schnell hindurch und versteckte mich hinter einer großen Metalltonne mit der Aufschrift »Achtung«.

Zum Glück hatte mich keiner der Anwesenden bemerkt, und so konnte ich in aller Ruhe dem zusehen was nur wenigen Menschen vergönnt war. Mehrere Wissenschaftler, darunter auch meine Mutter, standen verteilt im Raum hinter einer Glasscheibe und schauten in die Mitte auf eine kleine Fläche, auf der jemand stand. Was? Ein Mensch? Mama hatte mir nie erzählt, dass sie auch Experimente an Menschen durchführten. War das nicht illegal? Gespannt schaute ich, was passierte.

Der junge Mann mit dem dunkelblonden Haar wirkte ängstlich und verwirrt, als wüsste er nicht, dass er hier in einem Labor war. Aber wenn er dafür bezahlt wurde, das Experiment zu machen, dann müsste er sich darüber doch im Klaren sein?

Zwei Männer kamen herein und hielten den jungen Mann ruhig, während ihm ein Dritter eine Spritze verabreichte. Eine Spritze mit einer grünen Flüssigkeit. Was war das? Automatisch trat ich etwas vor, um einen besseren Blick vom Geschehen zu bekommen, zumal man hinter dieser Tonne nicht viel sehen konnte. Ich erschrak, als der junge Mann plötzlich auf dem Boden lag – Blut tropfte ihm aus den Ohren. Oh nein!

Mein lautes Aufatmen führte dazu, dass einige der Wissenschaftler nach der Quelle des Geräusches Ausschau hielten – darunter auch meine Mutter. Entsetzt drehte ich mich um und duckte mich auf den Boden, damit sie mich nicht sehen konnten. Warum war er tot? War er es überhaupt? Schnell erhaschte ich einen zweiten Blick auf ihn.

Ja, er war definitiv tot. Ich war mir zu 99,9 % sicher.

»Patient 004: keine Ergebnisse«, hörte ich eine vertraute Stimme barsch sagen und lugte nun doch hinter der Tonne hervor. So kannte ich meine Mutter überhaupt nicht. So gefühlskalt. Sie war immer eine lebensfrohe Frau, wenn sie die wenige Zeit, die ich sie sah, bei mir war. Nun wirkte sie wie ein komplett anderer Mensch. Oder war sie etwa schon immer so kalt gewesen, und ich hatte es nur nicht gemerkt?

Ich schluckte meinen Schmerz hinunter, als die drei Männer, die sich bis jetzt im Hintergrund aufgehalten hatten, den Mann nahmen und wegtragen wollten. Aber dazu kam es nicht.

Auf einmal sprang der junge Mann wieder vom Boden auf, Blut tropfte immer noch auf den Boden neben ihn, seine Haut war blass, und unter seinen Augen lag ein schwarzer Schimmer. Aber er wirkte lebendig. Was für ein Glück! Seine Atmung war immer noch hastig und seine Augen groß wie Teller.

Dem Gesicht meiner Mutter nach zu urteilen war es jedoch nicht das, was hätte passieren sollen – sie wirkten genauso überrascht wie ich. Wenige Sekunden war alles wie erstarrt. Niemand traute sich zu bewegen oder etwas zu sagen.

Aber dann, als hätte jemand auf einen imaginären Knopf gedrückt, kehrte wieder Leben ein. Die beiden Männer wollten den jungen Mann packen, er riss sich daraufhin jedoch los und sprang zur Seite wie ein wildgewordenes Tier.

Die Männer taumelten ins Leere, und bevor sie wussten, wie ihnen geschah, sprang Patient 004 auf sie, und begann sie zu schlagen und zu treten. Unfähig, mich zu bewegen, beobachtete ich, wie die die Wissenschaftler wild umherliefen.

Meine Augen fanden schließlich die meiner Mutter, auch wenn sie mit etwas komplett anderem beschäftigt war als meinen Blick ebenfalls zu suchen. Denn einer der anderen Wissenschaftler rief nun: »Auf solch eine Situation sind wir nicht vorbereitet. Noch nie ist jemand wieder aufgestanden.« »Wir befolgen Protokoll 47A. Na los!«, antwortete meine Mutter nur und stürmte ihrem Kollegen nach.

Ich hockte zwar hinter Glas, fühlte mich aber nicht sonderlich sicher, denn der junge Mann ging auf die Leute zu, die ihn versuchten, zu überrumpeln und schlug sie wie ein Wilder zu Boden. Ich wollte mich gerade umdrehen und den Anderen nach draußen folgen, weg von diesem Mann, aber ein erschreckender Anblick hielt mich zurück. Meine Mutter war hinter einem anderen Wissenschaftler hineingegangen und versuchte, den Mann davon abzuhalten, noch weiteren Menschen wehzutun. Dabei drängte sie ihn immer weiter in die Ecke, und Angst machte sich deutlich auf seinem Gesicht breit.

Sein Körper war in Anbetracht der langen Nadel, die meine Mutter in der Hand hielt, verkrampft, und er begann zu zittern. Sein Brustkorb hob sich ungewöhnlich schnell.

Schließlich jedoch ballten sich seine Hände zu Fäusten und er schubste meine Mutter zur Seite, was sie gegen das Glas knallen ließ. Bewusstlos sackte sie zu Boden.

Hastig und ohne jegliche Überlegung rannte ich durch die offene Sicherheitstür und wollte nur noch zu ihr, aber jemand stellte sich mir in den Weg. Der junge Mann kam plötzlich auf mich zu und schrie: »Hilfe!!! Hilf mir!!!«

Seine blauen Augen voller Entsetzen. So entsetzt, dass es mir durch den ganzen Körper jagte. Ich hätte ihm so gerne helfen wollen, aber ich wusste nicht wie. Ich konnte ja schlecht die Tür mit meiner nicht vorhandenen Schlüsselkarte öffnen.

Er kam immer näher, hielt dann aber kurz inne, als würde er auf etwas warten. Was nun? Ich schaute mich fragend um, als ich begriff, warum er stehen geblieben war. Ich versperrte ihm den Weg in die Freiheit! Mein Atem setzte kurz aus. So lange, bis ich einen stechenden Schmerz in meinem Arm spürte.

Meine Augen versuchten die Stelle zu finden, wovon der Schmerz ausging, aber das sich der Raum drehte, machte es nicht gerade einfacher. Ich schloss für einige Sekunden die Augen und fasste mir an die Schläfe, während meine Beine unter meinem Gewicht zusammenzusacken

Am Boden schaute ich, benommen von den auftretenden Kopfschmerzen und dem Schwindel, hoch zu einer Gestalt, die mit einer leeren Spritze über mich hinweg trat und den Raum verließ. Vage erinnerte ich mich daran, dass diese Gestalt es war, die meine Mutter verletzt hatte. Ich musste Mama helfen.

Aber bei jedem Muskel, den ich anstrengte, bei jedem Knochen, den ich versuchte zu bewegen, fühlte es sich an, als würde er brechen. Tränen stiegen mir in die Augen, weil es so wehtat, weil ich nichts machen konnte, um meiner Mutter zu helfen.

Nach einigen endlosen Sekunden jedoch sah ich endlich wieder scharf, und auch meine Schmerzen waren weg. Vorsichtig stand ich auf und schaffte es schließlich, meinen Kopf zu heben. Aber meine Mutter war weg! Der Platz, wo sie noch vor wenigen Sekunden bewusstlos gelegen hatte war leer. Immer noch zitternd auf den Beinen befand ich mich nun auf dem Weg zu einem der Notausgänge, mir wurde jedoch erneut der Weg versperrt. Ich erschrak.

Der, der von den Wissenschaftlern nur als Patient 004 betitelt wurde, packte mich nun grob an den Schultern, und da ich viel zu schwach war, um mich zu wehren, ließ ich es über mich ergehen. Mit wutverzerrtem Gesicht brachte er mich zu den Waschräumen, die Fliesen konnte ich genau erkennen. Was hatte er vor?

Nach kurzer Zeit konnte ich es jedoch herausfinden, als er eine der Toiletten öffnete und mich sofort das dreckige Toilettenwasser begrüßte.

Mit Entsetzen spürte ich, wie ich immer wieder ins Wasser getaucht wurde. In diesem Moment wünschte ich mir nichts sehnlicher, als mich einfach in Luft aufzulösen oder die Zeit anzuhalten, aber das war unmöglich. Und da sah ich dem Tod das erste Mal in die Augen. Es würde sich nur noch um Sekunden handeln, bis meine Atmung stoppte und mein Leben vorbei war. Schnell schloss ich meine Augen und zählte das Unvermeidliche hinunter. Bis ich mich plötzlich tatsächlich in Luft auflöste!

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