098

Auch wenn es lange gedauert hatte die Treppen hochzusteigen, hatte ich es geschafft. Ich stand oben am Treppenabsatz. Bereit die obere Etage zu erkunden, oder vielleicht auch eben nicht. Jede Faser meines Körpers schien zu rebellieren Und doch wusste ich oder zumindest ein Teil von mir, dass es genau das war, was ich jetzt tun sollte. Es war das Richtige. Es wurde Zeit. Wenn ich es jetzt nicht tat, würde ich es nie tun. Ich muss das jetzt einfach durchziehen. So schwer es eben war. Ich war auch nicht allein. Robin war an meiner Seite. Mit ihm hatte ich all den Rest überstanden, da konnte ich jetzt auch das schaffen. Ich musste einfach. Um meiner selbst willen.

Trotzdem war ich erstarrt als ich sah, dass die Türen alle offen standen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich hatte gedacht, dass ich die Möglichkeit haben würde, mich vor jeder Tür zu sammeln und nicht bereits mit dem fertig werden musste, was ich von drüben erblicken würde.

Als würde Robin meine Gedanken lesen können, fragte er: „Soll ich die Türen schließen?"

Ich nickte und schaute erst wieder vom Boden auf, als ich die letzte Tür ins Schloss fallen hörte.

Der Ton fungierte für mich als Startschuss. Ich durfte nicht zu viel darüber nachdenken. Ich musste einfach handeln.

Ich hatte nie aktiv darüber nachgedacht, aber ich wusste ganz genau mit welcher Tür ich beginnen würde. Es war das Zimmer, mit dem ich am wenigsten verband. Das Zimmer, dass ich am seltensten betreten hatte.

Das Zimmer bestand aus vielen Schränken und Regalen, in denen sich Ordner angehäuft hatten und einem sehr langen Tisch unterhalb der Fenster. Die ganze Breite des Zimmers lief der Tisch entlang und bot so ausreichend Platz, um zwei vollständige Arbeitsplätze unterzukriegen.

„Meine Eltern haben ab und zu von zuhause gearbeitet, aber vor allem habe sie hier so Sachen gemacht, wie die Steuererklärung, Versicherungen und den ganzen Kram. Wenn sie hier drinnen waren, wusste man eigentlich immer, dass es kein guter Zeitpunkt war. Sie wollten das, woran auch immer sie in diesem Moment arbeiteten, fertig kriegen. Es war also besser zu warten, bis sie rauskamen. Ich mein, sie hätten nichts gemacht, wenn wir reingekommen wären. Sie hätten uns auch nicht angeschrien oder so, aber trotzdem haben wir sie nie gestört, außer es war wirklich etwas wichtiges. Einmal, zum Beispiel, war Manu vom Fahrrad gefallen. Ich war nachhause gerannt und musste feststellen, dass beide hier drinnen waren. Auch bevor sie wussten, dass wirklich etwas vorgefallen war, haben sie nichts darüber gesagt, dass ich störte..."

„Ging es Manu gut?", fragte Robin, als ich eine Weile nichts mehr gesagt hatte.

„Er hatte sich den Arm gebrochen."

„Oh, der Arme..."

„Ach was." Ich zuckte lachend mit den Schultern. „Der hat einen Gips bekommen und war mehr als glücklich. Er wollte zuerst, dass jeder unterschrieb, doch stattdessen hatte Lisa sich die Aufgabe gemacht ihn zu bemalen. Sie malte eine Waldlandschaft und es sah wirklich toll aus, was gar nicht so einfach ist, weil so ein Gips natürlich keine flache Unterlage bildet. Er war wohl bei der Gipsabnahme trauriger als er gewesen war, als er zum ersten Mal in Krankenhaus gewesen war.

Auch das nächste Zimmer überstand ich mit wenig mehr als einem viel zu schnellem Puls.

Ich hatte nie verstanden, warum Elternschlafzimmer immer die größten waren. Es waren doch immer die Kinder, die alles in ihrem Zimmer taten. Für sie spielte sich alles in diesen vier Wänden ab. Wenn sie Freunde zu Besuch hatten, dann waren sie im Zimmer. Wenn sie spielten, dann im Zimmer. Wenn sie Hausaufgaben machten oder lernten, dann im Zimmer. Wenn sie schliefen, dann im Zimmer. Alles geschah im Zimmer.

Eltern jedoch schliefen in ihrem Zimmer. Das wars. Gäste wurden im Wohnzimmer empfangen, Arbeit im Arbeitszimmer verrichtet.

Das Zimmer war aber ein reines Schlafzimmer. So unpersönlich sah es auch aus. Einige Bücher auf dem Nachttisch war das Einzige, was einen direkten Rückschluss auf die Person erlaubte, die dort lebte. Beziehungsweise gelebt hatte.

„Weiter geht's.", murmelte ich und trat zurück in den Flur. Abgesehen vom Badezimmer, in das ich nur kurz reinschaute, blieben nur noch zwei Türen übrig.

„Was zuerst?"

Ich zuckte mit den Schultern, doch ein Teil von mir wusste, wie ich mich entscheiden würde oder wie ich mich bereits entschieden hate, wie ich gerade feststellte.

Ich würde erst mein eigenes Zimmer aufsuchen.

Denn das schwerste, sollte ich als letztes machen und das war eindeutig Manus Zimmer.

Meine Hand zitterte ein wenig, als ich sie auf den Griff legte. „Du wirst gleich mein altes Kinderzimmer sehen können."

„Was es da wohl alles Spannendes zu entdecken gibt." Robin grinste mich verschmitzt an, doch ich würdigte diesem Kommentar keine Antwort. Eigentlich wusste ich auch gar nicht, was ich sagen sollte.

Ich zog die Tücher weg, die auch im oberen Stockwerk über alle Möbel gelegt worden waren und drehte mich um die eigene Achse, um das gesamte Zimmer anschauen zu können.

Es war seltsam. Alles war vertraut und doch völlig fremd. Dabei hatte es vier Jahre lang niemand mehr berührt.

An den Wänden hingen Plakate und Fotos von Schwimmern. Doch nicht nur das. Es hingen ebenfalls einige Urkunden und Medaillen zwischen ihnen. Davor stand ein Regal, in denen zu allem Überfluss auch noch Pokale. Ich war so stolz gewesen. Es war nicht so als hätte ich immer und überall damit angegeben, aber trotzdem hatte mich jeder Sieg mit Stolz erfüllt und ich wusste, wie glücklich ich mich schätzen konnte, dass ich gut in etwas war, das ich so sehr liebte wie das Schwimmen. Ab und zu hatte ich mich gefragt, ob ich es nur liebte, weil ich gut darin war, aber das glaubte ich nicht. Wenn das der einzige Grund gewesen wäre, hätte ich dann jemals damit aufgehört? Nein, es war das Gefühl, dass ich dabei empfunden hatte. Im Wasser hatte ich mich frei gefühlt, friedlich. Ich hatte mich rundum wohl und glücklich gefühlt. Das Wasser hatte mir immer ein Gefühl von Heimat vermittelt. Egal wo ich mich befand. Im Wasser vergaß ich all meine Sorgen, jeder Stress fiel einfach von mir ab, als hätte es nie etwas gegeben, weswegen ich mich schlecht hätte fühlen müssen.

Ich strich mit den Fingerspitzen über die Bücher, die in meinem Regal standen. Es waren einige dabei, die ich bis heute nicht gelesen hatte, andere, die ich mir zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal gekauft hatte und andere bei denen ich mich fragte, warum ich sie nicht gleich nach dem Lesen weggegeben oder verkauft hatte. Bücher, die ich vielleicht nie hätte, zuende lesen sollen, wenn ich in der Lage gewesen wäre Bücher abzubrechen. Egal wie schlecht sie waren, ich musste sie trotzdem beenden. Wie viele Stunden ich wohl mit schlechten Büchern verschwendet hatte, obwohl ich gut hätte lesen können?

Ich drehte mich zu Robin um. Er stand reglos im Türrahmen und schaute auf den Boden. Ganz so als würde er mir zeigen wollen, dass er sich nicht umschauen würde, wenn ich das nicht wollte. „Du kannst ruhig reinkommen und dir alles anschauen, wenn du willst. Das stört mich nicht."

„Ganz sicher?" Er hob den Blick.

„Absolut sicher. Wahrscheinich fühlt sich das dann sogar weniger seltsam an, als wenn ich allein mein altes Kinderzimmer unter die Lupe nehme."

Er lächelte und trat ein Schritt hinein. „Das hier sieht mehr nach Kimmis Zimmer aus als nach deinem."

Ich lachte kurz auf. „Stimmt eigentlich. Ich war besessen vom Schwimmen. Es war mein Leben."

„Das und deine Familie.", stellte er fest als er die Fotos auf meiner Pinnwand betrachtete. Freunde und Familie. Alle Menschen, die mir zu dieser Zeit wichtig gewesen waren, waren dort vertreten. Heute hatte ich mit keinem von ihnen noch Kontakt. Naja, abgesehen von den letzten paar Tagen.

Ich lief weiter zu meinem Schreibtisch und ganz oben lag ein angefangener Text über den ersten Weltkrieg. Den hatte ich wohl nie zuende geschrieben.

„Dan Brown?", fragte Robin belustigt.

„Hast du es gelesen?", fragte ich und zuckte mit den Schultern.

„Nur den Anfang." Er schüttelte den Kopf. „Hab es vorzeitig beendet."

„Das hätte ich auch tun sollen."

„Ging es genauso weiter, wie es beginnen hat?"

„Du meinst, dass man die ganze Zeit über das Gefühl hatte für dumm verkauft zu werden, weil er immer wieder das gleiche erzählt hat und es einem an die hundert mal vorgekaut wurde?"

„Ganz genau das."

„Jap, leider schon. Ich meine, ich verstehe, warum manche es mögen.", gestand ich. „Und grundsätzlich hat er sich ja schon etwas dabei gedacht. Die Symbolik hat schon was, aber naja... es war doch etwas anstrengend."

„Es hätte größeres Potential gehabt."

„Ja, ganz genau." Ich zuckte mit den Schultern. „Ich hatte es damals gekauft, weil ich dachte es wäre ein wirklich intelligentes Buch, so wie alle davon geredet haben und da hat es mich leider wirklich enttäuscht."

Er betrachtete die nächsten Bücher und blieb bei einem stehen. „Der Schwarm? Das wollte ich auch noch lesen. Wie ist es?"

„Das ist tatsächlich ein intelligentes Buch! Mich wunderts, dass du es noch nicht gelesen hast."

„Ich hab schon so viel gutes davon gehört, dass ich mich nicht traue es anzufangen.", gestand er. „Ich befürchte enttäuscht zu werden, wenn ich mit so hohen Erwartungen ran gehe."

„Das verstehe ich nur zu gut!" Ich zuckte mit den Schultern. „Aber ich hab es im Internat, also kann ich es dir gerne ausleihen, wenn du willst." Ich runzelte die Stirn. „Oder du nimmst diese Ausgabe mit."

Er schüttelte den Kopf. „Nein... das geht doch nicht."

„Warum nicht? Es ist ja nicht so, als würde ich es vermissen. Ich hab die letzten Jahren ohne das Buch gelebt und ich habe ja noch eine Ausgabe."

„Aber-"

„Jetzt nimm es schon.", unterbrach ich ihn. 

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