085

Ob es nun aus Angst vor dem kommenden Tag war oder ob mir Robins Zuspruch geholfen hatte, ich versuchte es noch einmal. Nur war es nicht wirklich von Erfolg gekrönt. Ich kam zwar ein paar Häuser weiter, aber unser Haus war noch sehr weit entfernt.

Ein Teil von mir dachte sogar, dass es mir noch schlimmer ging als vor einer Stunde. Ich war zwar weitergelaufen, aber mein Körper hasste mich dafür. Alles an mir hasste mich dafür. Ich hatte einen Fuß vor den anderen gesetzt, aber es kam mir vor als wäre ich in einer Art Trance gewesen. Ich hatte den Schmerz zwar gespürt, aber trotzdem fühlte sich mein Körper taub an. Als würde ich mich selbst vor dem Schmerz retten wollen, aber das half nicht. Ich wusste, dass das nichts brachte. Ich konnte den Schmerz nicht überwinden, wenn ich ihn nicht spürte. Ich war zwar weiter gekommen, geographisch gesehen, aber mental war ich eher zurückgeworfen worden. Das hier war kein Fortschritt. Es war ein Rückschlag. Ein herber Rückschlag und ich zweifelte stark daran, dass ich das auch nur ansatzweise schaffen könnte. Wie könnte ich? Jedes Mal wenn ich mir etwas Hoffnung erlaubte. Hoffnung, dass es möglich war, wurde ich zurück auf den Boden der Tatsachen geschleudert. Ich war nicht stark genug. Robin hatte unrecht. Ich war nicht stark. Ich hatte keinen Mut. Ich besaß nicht die Willenskraft, die ich benötigte, um das alles durchzuziehen.

Ich war am Ende. Ich sollte zur Pension fahren, meine Sachen einpacken und so schnell wie möglich von hier verschwinden. Keine Sekunde länger sollte ich hier bleiben. Es hatte keinen Zweck. Es würde nichts bringen. Ich konnte das nicht, also hatte es keinerlei Grund hier zu bleiben.

Und doch, konnte ich mich auch nicht dazu bringen zu gehen. Ich blieb einfach stehen. Mitten auf dem Weg. Ich konnte mich nicht bewegen. Mein Körper war erstarrt.

Aber selbst wenn ich bereit war in Hofond zu bleiben und es weiter zu versuchen... Wie sollte ich Achims Einladung annehmen können? Wie sollte ich dahin gehen. Wie sollte ich zu ihm nachhause gehen, wenn ich nicht mal in der Lage war ihn anzusehen.

Das war unmöglich.

Welche Möglichkeiten blieben mir dann also? Hofond verlassen. Das konnte ich nicht. Aus irgendeinem, mir unerfindlichen Grund, weigerte sich ein Teil von mir. Teilweise ergab es durchaus Sinn. Wenn ich Hofond verließ, ohne es zu schaffen, dann hatte meine Reise bisher den einzigen Zweck gehabt, dass ich mich selbst quälte. Außerdem musste ich es doch irgendwann schaffen darüber hinwegzukommen. Bald waren es vier Jahre. Vier ganze Jahre, in denen ich die Zeit gehabt hatte mit ihrem Tod zurechtzukommen, ihn zu akzeptieren und doch hatte ich das nicht mal ansatzweise geschafft. Ich konnte nicht mein ganzes Leben lang so weitermachen. Es wurde Zeit weiterzumachen.

Diese Möglichkeit schied also aus.

Zweitens: Ich könnte Achims Einladung ignorieren und einfach weitermachen, wie bisher. Nicht, dass es sehr erfolgreich gewesen war, aber immerhin konnte ich kleine Fortschritte verzeichnen. Das Problem war nur, dass ich Achim eigentlich nicht verletzen wollte. Nicht so wie sie mich verletzt hatten. Es hatte Zeiten gegeben, da waren sie meine zweite Familie gewesen. Ich hatte sie geliebt und ich hatte immer geglaubt, dass sie auch mich geliebt hatten. Mich und Manu. Abgesehen davon würde mich Achim wiederfinden. Zumindest, wenn ich weiterhin versuchen würde mich meinen Ängsten zu stellen.

Ich konnte die Einladung also nicht einfach ignorieren.

Naheliegend wäre auch die Möglichkeit einfach hinzugehen. Nur, dass es nicht einfach war. Ganz und gar nicht einfach. Wäre es einfach, dann hätte ich kein Problem. Genau darum ging es ja.

Ich seufzte und lehnte mich gegen Robins Brust, der sofort seine Arme hob und mich mit einer Umarmung umschloss.

Als ich mich wieder löste, sah ich seinen sorgenvollen Blick, aber konzentrierte mich schnell wieder auf die Straße. Ich konnte mir diesen Blick gerade nicht antun.

„Okay, komm."

„Wohin gehen wir?"

„Wir gehen dorthin, wo ich schon den ganzen Tag hinwollte.", antwortete ich. „Ich werde mich meinem alten Zuhause stellen."

„Wirklich?"

„Das werden wir gleich sehen." Ich ignorierte den Schmerz, der mit jedem Schritt schlimmer wurde und ich ignorierte auch, dass sich mein Geist von meinem Körper zu lösen schien. Ich lief einfach weiter. Immer weiter. Und dann war ich da. Ich stand vor unserem Haus.

Sofort flossen die Tränen aus meinen Augen. Es sah noch genauso aus wie vorher.

Ich war kurz stehen geblieben, aber nach nur wenigen Augenblicken lief ich weiter, sodass sich das Haus wieder entfernte. Ich spürte Robins Blick auf mir, aber er sagte nichts. Das war auch nicht nötig. Ich wusste, dass er wusste, dass ich am Haus vorbeigelaufen war und ich könnte wetten, dass es ihm unter den Fingernägel kribbelte zu erfahren, was gerade mein Ziel war, doch er fragte nicht und ich antwortete nicht.

Bald aber erkannte er den Weg. Wir liefen zurück in die Pension. Man bot uns an etwas zu essen zubereitet zu bekommen, aber wir hatten noch Brot im Zimmer, also lehnten wir ab. Wir wollten ihnen ohnehin keine Unannehmlichkeiten machen, denn so wie wir das Paar wahrgenommen hatten, würden sie dafür kein Geld annehmen wollen.

„Darf ich fragen, wer das war?", wollte Robin später wissen, als ich in seinen Armen im Bett lag.

„Wir hatten doch eine Abmachung. Fragen ist immer erlaubt."

„Stimmt, aber du musst nicht antworten."

Ich atmete tief durch, bevor ich nickte. „Das stimmt, aber ist schon okay. Ich komm damit klar. Achim ist, also er und Katharina, waren sehr gute Freunde. Witzigerweise waren mein Vater und Katharina sowie meine Mutter uns Achim jeweils auf derselben Schule. Die haben sich auch nur deswegen kennengelernt. Naja, wie dem auch sei. Sie waren wirklich gute, wenn nicht sogar die besten Freunde meiner Eltern und wir haben uns regelmäßig mit ihnen getroffen. Der Mittwochabend war Pflicht und dann noch meistens am Wochenende. Sie waren ein wichtiger Teil meiner Kindheit. Doch eines Tages sind sie nach... äh, ich glaub es war China, gefahren, weil Achim dort eine unglaubliche Stelle gefunden hat. Seitdem war es nicht mehr dasselbe gewesen. Sie waren noch Freunde und wahrscheinlich wären sie wieder, wie früher gewesen, sobald sie zurückgekehrt waren, doch als Fernfreundschaft funktionierte es nicht so gut."

„Das ist schade."

„Ja, ist es wirklich... Aber es ist nun mal nicht einfach..."

„Oh nein, alles andere als das."

„Hätte ich nein sagen sollen?"

Ich dachte über die Frage nach, bevor ich antwortete: „In dieser Situation hast du das richtige getan. Er hätte nicht lockergelassen. Achim war schon immer besonders stur gewesen. Im Vergleich dazu ist meine Sturheit quasi lachhaft."

„Ja dann hätte er wohl niemals aufgegeben."

„Eher nicht.", stimmte ich ihm zu. „Ich weiß nur nicht, wie ich das schaffen soll."

„So wie du bisher alles andere geschafft hast. Ich weiß, dass du daran zweifelst, aber ich sehe, wie stark du bist, auch wenn es dir schwerfällt das selbst zu erkennen. Du bist ein fantastischer Mensch. Lass dir niemals von jemanden etwas anderes weiß machen. Du bekommst das hin und denk immer daran: du bist nicht allein. Ich bin bei dir. Bei jedem Schritt den du gehen möchtest, steh ich direkt hinter dir. Du musst da nicht allein durch. Ich bin hier und ich werde nirgendwo hingehen."

„Das ist lieb, aber..."

„Okay, Elle, hör mir mal zu."

„Das klingt ernst."

„Ist es auch.", stimmte er zu. „Mit welcher Absicht bist du nach Hofond gefahren? Mit welcher Erwartung? Welches Ziel? Welche Hoffnung? Welchen Glauben hattest du?"

Ich dachte eine Weile über seine Frage nach. Ich wusste nicht, wie ich antworten sollte. Ich seufzte und versuchte die passenden Worte zu finden: „Ich wollte... Nein, falsch. Ich hatte das Gefühl ich solle mich meinen Ängsten stellen. Es hat schon vor Monaten begonnen. In den Weihnachtsferien habe ich begonnen das umzusetzen. Es war schwer für mich das Schwimmbad zu betreten, aber ich habe es getan. Der Unterschied war aber, dass ich das für Kim schaffen musste. Ich hatte es nicht mit der Absicht getan mir etwas Gutes zu tun. Ich wollte es für sie. Das hier ist allein für mich, was es noch viel schwerer macht."

Robin nickte, sagte aber nichts.

„Ich hatte gehofft, dass ich lernen könnte das, was geschehen ist zu..." Überstehen? Vergessen? Beides war nicht richtig. Akzeptieren? „Zu... Dass ich lernen könnte mit dem, was geschehen ist zu leben."

Wieder nickte er.

„Das war aber nur ein kleiner Teil, denn ein viel größerer Teil war sich sicher, dass ich das niemals schaffen könnte. Dass ich Hofond niemals erreichen würde. Dass ich vorher umdrehen und zurück ins Internat fahren würde. Ich hatte nicht geglaubt, dass ich auch nur einen Schritt in die Stadt setzen könnte."

„Okay. Und jetzt beantworte dieselben Fragen in Bezug aufs Grillen morgen."

Ich runzelte die Stirn. „Ich habe mich nie entschieden das zu machen. Ich hatte also kein Ziel, keine Absicht, keine Hoffnung, ..."

„Du hast dich nicht dazu entschieden, aber so wie die Situation nun ist. Versuch es einfach."

„Na gut." Ich schlucke den Kloß in meinen Hals hinunter. Trotzdem fing ich nicht direkt an zu sprechen. Wieder wusste ich nicht, was ich sagen sollte, also fing ich mit dem an, was ich wusste: „Ich weiß, dass ich es nicht schaffen werde, aber ich weiß auch, dass ich keine Wahl habe. Also ja, klar, ich kann theoretisch einfach nicht hingehen, aber praktisch kann ich es nicht. Sie waren mir so wichtig, dass ich nicht einfach nicht hingehen kann. Ich weiß zwar, dass ich es nicht schaffen werde hinzugehen, aber es besteht auch nicht die Möglichkeit für mich, dass ich nicht hingehe. Und genau dort ist das Dilemma. Denn ich kann nicht beides haben. Ich kann nicht hingehen, ohne nicht hinzugehen, verstehst du?"

„Ja." Lächelnd schaute er mich an. „Du hast in beiden Fällen gesagt, dass du es nicht kannst. Aber fällt dir etwas auf? Du bist nicht vor Hofond umgedreht. Du hast einen Fuß in die Stadt gesetzt. Du bist durch die Stadt gelaufen. Du hast Orte besucht, an denen du früher Zeit verbracht hast. Du warst in der Straße, in der du gelebt hast. Du hast das alles geschafft. In wenigen Tagen. Und das sind alles Sachen, von denen du selbst gesagt hast, dass du glaubtest es nicht zu schaffen. Jetzt denkst du auch, dass du es nicht schaffen kannst, aber genauso, wie du die anderen Sachen geschafft hast, kannst du auch das schaffen."

Seine Worte beinhalteten etwas Wahres. Ich war mir sicher gewesen es niemals soweit zu schaffen und doch hatte ich es. Es gab zwar noch viele Dinge, die ich nicht geschafft hatte, aber es gab immer Dinge, die man noch nicht geschafft hatte. Wenn man alles geschafft hätte, dann gäbe es keinen Grund weiterzuleben. Es gab immer Ziele. Immer mehr Sachen zu erreichen. Es endete niemals. Ich sollte mich also nicht auf das konzentrieren, was zu schaffen mir noch bevorstand, sondern auf das, was bereits gelungen war.

Robin strich mir eine Strähne aus dem Gesicht. „Ich mochte deine langen Haare echt gerne, weißt du? Ich war entsetzt als ich gesehen habe, dass du sie abgeschnitten hast, aber ich lag falsch. Auch die kürzeren Haare sehen fantastisch an dir aus. Es ist egal, ob sie lang oder kurz sind, du bist wunderschön."

„Danke.", murmelte ich. „Das war auch ein Schritt des Weges... Ich hab die langen Haare auch geliebt, aber es gab immer wieder Momente an denen ich mich so sehr über sie aufgeregt habe, dass ich sie einfach abschneiden wollte... Ich habe es nie getan. Ich konnte nicht. Es ist dumm und natürlich hätte er es mir niemals verboten, aber Manu... er hat meine langen Haare geliebt..."

Er strich über meine Hand.

„Der Friseurbesuch war für mich also auch eine Art... Abschluss? Oder ein Anfang, keine Ahnung. Es war der Übergang in einen neuen Abschnitt. Eingeläutet durch die EOYCSC. Ohne diesen Wettkampf wäre all das nie geschehen. Kim hätte mich nicht gebeten sie zu trainieren, ich wäre nicht in ein Schwimmbad gegangen, ich wäre ganz sicher nicht ins Wasser gesprungen. Ich wäre ganz sicher nicht hier. Mit dir."

„Ich bin froh, dass du es bist."

„Ich... Ich auch." Es war die Wahrheit. Ich war froh. Froh, dass ich es bis hierhin geschafft hatte.

„Bist du bereit?"

„Nein, aber wir ziehen das durch. Mit dir an meiner Seite kann ich es probieren und falls ich es nicht schaffe, dann gehe ich einfach."

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