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Alles wichtige war erledigt, als ich das Plakat im Schaufenster eines Friseurs sah und kurzerhand hineinlief.

„Hallo, was kann ich für dich tun?", fragte eine junge Frau mit pinken Haaren.

„Hallo, ich habe gerade das Plakat gesehen-" Ich zeigte an das Schaufenster. „Ihr habt nicht gerade Zeit?"

„Was? Du willst deine Haare abschneiden lassen?", fragte sie und fuhr mit ihrer Hand durch meine Haare. „Die sind aber so schön!"

Ich schloss die Augen für einen Atemzug an. „Ich war seit Jahren nicht mehr beim Friseur, aber ich will sie abschneiden, ja."

„Wieso denn?", fragte sie, führte mich aber zu einem Stuhl. „Wie kurz? Wenn du sie spenden möchtest, dann müssen mindestens 27cm ab..."

„Aber besser sind 40cm, richtig?" Ich nahm eine Strähne zwischen zwei Fingern. „Schätzen ist nicht so meins, aber ich denk mal, dass das passt. Bis zu den Schultern würde ich sagen."

Ihre Augen weiteten sich. „Bist du dir ganz sicher? Sorry, ich sollte dich nicht überreden, es nicht zu machen. Das ist eine großartige Sache! Es ist nur so, dass ich dich um solche Haare wirklich beneide! So lang und dick und trotzdem sehe ich kein bisschen Spliss!"

„Ja, ich weiß. Die wachsen einfach so... Aber wie dem auch sei, sie sollen ab." Ich seufzte. „Ich hatte die langen Haare jetzt wirklich lang genug..."

„Es klingt als würde eine Geschichte dahinterstecken. Willst du darüber reden?"

„Was? Wie kommst du denn darauf?"

„Friseure sind die neuen Barkeeper!", antwortete sie grinsend und inspizierte weiter meine Haare. „Unser Job geht weit übers Haare schneiden hinaus. Außerdem weiß ich, wie gut es tun kann mit einem Fremden zu sprechen. Ich bin gerne deine fremde Person, der du dein Herz ausschütten kannst."

Sie hatte recht. Das hatte ich selbst schon erlebt. Adrian war das beste Beispiel. Ich hatte ihm zwar nicht alles erzählt, aber trotzdem hatte ich mich ihm mehr geöffnet, als irgendjemanden sonst. Zumindest bis ich Robin die ganze Geschichte erzählt hatte. Es war einfacher gewesen, weil ich Adrian nicht gekannt hatte. „Mein Bruder hat meine Haare geliebt. Ich bin früher geschwommen und die ganzen Haare waren schon nervig. Wie du selbst gesagt hast, sind sie ziemlich dick und ich hab auch echt viele. Es war nie einfach sie in einer Schwimmhaube unterzukriegen, weswegen ich öfters darüber nachgedacht hatte sie abzuschneiden. Ich selbst fand lange Haare zwar immer schön, aber auch wirklich, wirklich nervig. Mein Bruder aber war es, der mich dazu gebracht hat, sie lang zu lassen."

„Aber jetzt machst du doch was du selbst willst und nicht das, was er will?", fragte sie und zeigte nach hinten in den Raum. „Komm, dann kann ich dir währenddessen die Haare waschen."

„Ist es möglich sie trocken zu schneiden?"

„Was, wieso? Ist es wegen des Preises? Waschen berechnen wir hier nicht extra."

„Nein, ich hab nur..." Ich seufzte. „ein Problem mit Wasser..."

„Oh." Ich sah im Spiegel wie sie die Stirn runzelte. „Na gut. Nass ist zwar immer besser, aber trocken kriegen wir das auch hin."

„Danke." Ich seufzte, während sie anfing meine Haare zu kämmen. „Mein Bruder... Er ist nicht mehr... Meine Familie... Ich..."

„Kein Kontakt mehr zu ihnen?", versuchte sie mir zu helfen.

„Ja, so kann man es sagen..."

„Das tut mir leid. Wirklich sehr leid. Es ist furchtbar seine Familie zu verlieren." Sie blinzelte mehrmals. „Auf welche Art auch immer."

„Alles in Ordnung?"

Sie strich am unteren Rand ihrer Augen entlang. „Ich habe meine Familie auch verloren. An meinem 18. Geburtstag bin ich von zuhause weg und habe nie wieder mit ihnen gesprochen..."

„Oh... Also war es deine Entscheidung?"

„In gewisser Weise ja, aber eigentlich hatte ich sie schon vorher verloren..." Sie band meine Haare zu einem Zopf. „Sie konnten nicht akzeptieren, wer ich bin. Sie wollten, dass ich mich verändere. Sie dachten mein Lebensstil sein eine Sünde. Damit hatte ich sie quasi schon verloren, auch wenn ich bei ihnen war. Um meiner selbst willen musste ich da aber raus. Es tat mir nicht gut in einem Haus zu leben, in dem man mich für falsch hielt, nur weil ich Frauen liebe."

„Das ist ja furchtbar. Es tut mir so leid, dass du das durchmachen musstest!"

„Ich hatte Pech mit meiner Familie, aber mittlerweile habe ich viele Leuten kennengelernt, die mich akzeptieren und lieben, wie ich bin. Klar vermisse ich meine Familie manchmal, aber wenn sie mich nicht akzeptieren können, dann brauch ich sie nicht. Ganz einfach..."

„Das ist nicht einfach. Es klingt einfach, aber das ist es nicht. Etwas zu wissen und daran zu glauben sind zwei verschiedene Dinge."

„Da magst du recht haben..."

„Ich habe drei Jahre gebraucht, um den Gedanken zuzulassen, dass meine Familie nicht gewollt hätte, dass ich vergesse zu leben, nur weil sie es nicht tun..."

„Deine Familie ist-"

„Tot... Ja."

„Oh verdammt! Es tut mir so leid! Und ich tue so als würde ich das Gleiche durchgemacht haben. Es tut mir so leid!"

„Das muss es nicht.", versicherte ich ihr. „Eigentlich hast du es schlimmer als ich... Ich habe wenigstens schöne Erinnerungen und kann mich daran festhalten... Der Grund, dass sie nicht bei mir sind ist nicht, weil sie-"

„Queerfeindliche Arschlöcher sind?" Sie grinste mich über den Spiegel hinweg an.

„Ich hätte mich wahrscheinlich vorsichtiger ausgedrückt, aber ja."

„Wenn ich das nicht mit etwas Humor nehmen würde, würde ich weinen. Lachen ist gesünder." Sie schnappte sich die Schere. „Du bist dir sicher?"

„Schneid ab."

Ein eiskalter, wenn auch seltsam angenehmer Schauer lief mir über den Rücken als das Geräusch der Schere an meine Ohren drang. 

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