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Google Maps bestätigte mir, dass das Gebäude am Ende der Straße wirklich das Schwimmbad war. Es war noch etwa 100 Meter entfernt und ich stand einfach nur da, neben meinem Fahrrad und versuchte meinen Körper zu zwingen sich zu bewegen, aber meine Muskeln gehorchten mir nicht. Meine Füße weigerten sich weiter zu laufen. Schon seit etlichen Minuten.

So schwer war das doch nicht. Ein Fuß vor dem anderen setzen. Ganz einfach. Die Information steckte doch in meinem Hirn. Die Bewegungsabläufe waren darin gespeichert. Ich wusste, wie man lief, musste normalerweise nicht mal bewusst darüber nachdenken. Es gehörte zu den Abläufen, die das Unterbewusstsein immer und überall abrufen konnte. Doch warum konnte ich das dann nicht?

In der Hoffnung meinen Kopf austricksen zu können, stieg ich zurück auf das Rad, gab einen Tritt und ließ mich rollen. Mit jedem Meter, den ich mich näherte, beschleunigte sich mein Herzschlag.

Es war ein Glücksfall gewesen, dass die Straße sich nach unten neigte. Vielleicht hätte ich andernfalls nie geschafft. Nun stand ich aber da. Zwei Meter vor dem Eingang am Fuße der Treppe.

Drei Stufen und dann noch zwei Schritte, dann wäre ich bei der Tür.

Meine Hand umgriff das Geländer und ich stieg die erste Stufe nach oben. Gut, weiter geht's. Die zweite Stufe erklomm ich mit geschlossenen Augen. Dort atmete ich zwei Mal tief durch, bevor ich auch die letzte Stufe betrat.

Oben angekommen, ließ ich das Gelände nicht los. Ich hatte das Gefühl als wäre das das Einzige, was mich am Fallen hinderte. Dort blieb ich stehen. Mehrere Minuten lang und versuchte mich zu beruhigen.

Was tat ich hier eigentlich? Ich konnte das nicht. Wie hatte ich nur denken können, dass ich das schaffen würde? Was eine idiotische Idee! Ich musste hier weg. Einfach wieder weg.

Das Problem war nur, dass ich nicht konnte. Das lag nicht einmal an dem Gefühl, dass ich es Kim schuldete. Auch nicht daran, dass ich glaubte, dass Manu sich freuen würde, wenn ich meine Angst überwand. Nein, das Problem war, dass ich mich nicht bewegen konnte. Ich war wie erstarrt. Ich konnte weder vor noch zurück.

So stand ich da, meine Hände fest um das Geländer geklammert, als die Tür geöffnet wurde.

Sofort wurde mir schummrig. Meine Beine schienen mich nicht mehr tragen zu können. Die Luft blieb mir im Hals stecken. Ich wollte sowieso nicht noch einmal einatmen. Der Geruch nach Chlor hatte sich bereits jetzt in meine Nase gebrannt.

Die Frau, die nach draußen kam musterte mich verwirrt, aber lief, ohne ein Wort, an mir vorbei.

Zum Glück, denn ich wäre wohl kaum in der Lage gewesen ihr zu antworten.

Meine Knie gaben nach und ich sank auf den Boden. Ich zitterte, wobei ich nicht wusste, ob es eine Reaktion auf den Geruch, den Ort oder doch einfach nur an der Kälte lag.

Dort blieb ich sitzen. Den ganzen Tag lang. Einerseits weil ich es vorher nicht schaffte aufzustehen und andererseits, weil ein Teil von mir mich zwang es zu versuchen.

Tatsächlich schien sich mein Körper langsam daran zu gewöhnen. Mein Herz schlug immer noch schneller, als es sollte, aber langsamer als am Anfang.

Auch meine Atmung hatte sich etwas beruhigt. Der Knoten in meinem Bauch war allerdings geblieben, doch zumindest war das Gefühl mich übergeben zu müssen gewichen.

Das war doch schonmal was. Es gelang mir so auch endlich aufzustehen und nach Hause zu fahren, wo ich direkt ins Bett fiel, einschlief und erst am nächsten Morgen aufwachte, nachdem ich zwölf Stunden geschlafen hatte. Der Tag hatte mir unfassbar viel Energie gestohlen, obwohl nichts getan hatte. Ich hatte einfach dagesessen und Löcher in die Luft gestarrt.

Es war noch Dunkel als ich die Treppen runterlief, um mir in der Küche einen Kaffee zu machen, aber dazu kam ich nicht, denn zu meiner Überraschung war Christoph noch da.

Normalerweise war er schon auf der Arbeit, wenn ich aufwachte, aber heute nicht. Kein Wunder, denn es war halb sechs am Morgen.

„Schon wach?", fragte er, als wäre es nicht offensichtlich und reichte mir die Tasse Kaffee, die er eigentlich für sich gemacht hatte und holte noch eine Tasse aus dem Schrank.

„Danke." Der Duft, der mir in die Nase stieg, weckte mich nun endgültig. „Ja, ich bin super früh ins Bett gegangen. Ich hoffe du hast was zu Essen gefunden, ich wollte eigentlich gar nicht schlafen. Mich nur kurz hinlegen, aber dann war ich weg und hab nicht mehr gekocht..."

„Dafür musst du dich nicht entschuldigen. Du musst nicht für mich kochen, das weißt du, oder?"

„Ja, schon klar, aber..." Ich zuckte mit den Schultern. „Ich habe es die letzten Tage immer gemacht, also bist du wahrscheinlich davon ausgegangen, dass es Essen geben wird, wenn du kommst..."

„Nein, bin ich nicht." Er lächelte mich an und drehte mir dann den Rücken zu, um seine Tasse zu nehmen. „Dass du für mich kochst, werde ich nie als Selbstverständlichkeit ansehen. Jeden Tag, an dem du das gemacht hast, war ich überrascht und dir dankbar. Du musst das nicht tun und ganz sicher will ich nicht, dass du das als Pflicht ansiehst. Du kochst wirklich gut und ich freue mich darüber, aber in keinem Moment will ich, dass du das machst, weil du dich dazu verpflichtet fühlst."

Ich nickte. Es war ja nicht os, als wäre er darauf angewiesen. Er kochte zwar so gut wie nie, aber er überlebte es auch, wenn ich im Internat war. Und die ganzen Restaurants in der Umgebung verdienten dabei reichlich Geld.

Nach einigen Sekunden des Schweigens, die wir beide überdauerten, indem wir von unserem Kaffee tranken, erzählte er: „Jannes- Jannes Baier, mein Kollege?"

Ich nickte, um zu zeigen, dass ich wusste, wen er meinte.

„Er hat mich zu einem Silvesterfest eingeladen. Dich auch."

„Oh. Ähm..."

„Du kannst sehr gerne mitkommen, aber musst natürlich nicht." Er zuckte mit den Schultern. „Ich glaube es kommen vielleicht noch zwei oder drei andere in deinem Alter, aber viele bestimmt nicht. Die meisten haben, wenn überhaupt, jüngere Kinder und die kommen nicht mit..."

„Ja... Ich... Sag ihm danke für die Einladung, aber ich bleibe doch hier."

„Bist du dir sicher? Willst du, ... dass ich bei dir bleibe?"

„Nein, nein!" Ich schüttelte schnell den Kopf. „Wirklich, lass dich von mir nicht aufhalten!"

„Ganz sicher?"

„Absolut!" Um ihm auch die letzte Unsicherheit zu nehmen, log ich: „Meine Freunde und ich wollten eine virtuelle Silvesterparty veranstalten."

„Oh, schön." Er lächelte mich an. „Dann wünsche ich euch da viel Spaß. Brauchst du noch etwas?"

Mit gerunzelter Stirn sah ich ihn an.

Als würde er wissen, dass ich nicht wusste, was er meinte, fügte er erklärend hinzu: „Soll ich dir was zum... Trinken kaufen? Ich schätze dich so ein, dass du verantwortungsbewusst mit Alkohol umgehen wirst. Aber mir wäre es lieber, wenn wir offen damit umgehen, als wenn du es hinter meinem Rücken machst."

„Oh." Ich riss die Augen auf. „Ähm, nein! Ich... brauch nichts. Ich trinke nicht."

Er verschränkte die Arme vor der Brust und sah mich missbilligend an. „Bitte, lüg mich da nicht an. Ich war auch mal jung und das ist gar nicht so lange her. Es ist okay, du bist 17. Da ist es ganz normal und wie gesagt, ich bin auch bereit dir etwas Stärkeres zu kaufen, aber ich erwarte Ehrlichkeit."

„Ich bin ehrlich. Ich trinke nichts."

Als ich sah wie enttäuscht er mich ansah, fügte ich eine Erklärung hinzu und er glaubte mir nun doch. 

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